19.12.2024
Gukesh Dommaraju ist der jüngste Schachweltmeister der Geschichte

Statt im Tiebreak plötzlich Weltmeister

Die Schachweltmeisterschaft ist entschieden: Durch eine Unachtsamkeit verlor Ding Liren den Titel an den 18jährigen Inder Gukesh Dommaraju.

Alle rechneten bereits mit der Fortsetzung im Tiebreak, als Ding Liren am Donnerstag vergangener Woche der entscheidende Fehler unterlief. Gukesh Dommaraju nahm ihn, wie die Experten und Expertinnen, die weltweit live die Schach-WM kommentierten, fast sofort wahr, seine Körperspannung veränderte sich – er begann zu begreifen, dass der Titelverteidiger Ding Liren den entscheidenden Fehler begangen hatte.

Als »vermutlich besten Moment« seines Lebens bezeichnete der neue und bislang jüngste Schachweltmeister dies in der anschließenden Pressekonferenz. Der 18jährige Inder sprach aber auch in höchsten Tönen und voller Wertschätzung über seinen Kontrahenten. Ding Lirens Kampfgeist habe gezeigt, dass er ein wahrer Champion sei. Gukesh, der nun als 18. Weltmeister in die Schachgeschichte eingegangen ist, wirkt sympathisch und strahlt besonnene Ruhe aus.

Schach wird oft beschrieben als eine Art, Fragen an den Gegner zu stellen, die dieser nicht immer beantworten kann. In einer besonderen Match-Situation ist Gukesh genau das gelungen.

Das zehnte Spiel hatte dort angeknüpft, wo die bisherigen Spiele aufhörten: Ding Liren nutzte das nicht sonderlich ambitionierte Londoner System, es kam früh zu mehreren Abtauschen und einem einvernehmlichen Unentschieden. Spiel 11 hingegen lief völlig anders, weil Gukesh mit Weiß das umgekehrte Blumenfeld-Gambit aufbot und so die Partie in eine unausgeglichene und durchaus risikoreiche Richtung lenkte.

Tatsächlich konnte so Ding mit Schwarz recht früh einen ordentlichen Vorteil erspielen, den er aber nicht halten konnte. Gukesh gelang es, durch ein Bauernopfer sämtliche seiner Figuren auf dem Damenflügel zu koordinieren und Ding enorm unter Druck zu setzen.

Diesem Druck konnte der Titelverteidiger nicht standhalten und so verpasste er den einzigen guten Zug. Er übersah eine wirklich simple Taktik und gab folgerichtig gleich danach auf. Ein Fehler, wie er einem Großmeister normalerweise nicht passieren darf. Die Befürchtungen, Ding werde dem Druck nicht gewachsen sein und im Match zusammenbrechen, schienen sich zu bestätigen.

Mehrere merkwürdige und passive Züge von Gukesh

Dann gelang es Ding, in der zwölfte Partie direkt zurückzuschlagen. Aus der englischen Eröffnung konnte sich Ding zum ersten Mal einen Eröffnungsvorteil erspielen und diesen auch sukzessive durch geschicktes positionelles Spiel ausbauen. Großen Anteil daran hatte aber auch Gukesh, der mehrere merkwürdige und passive Züge spielte und es in keiner Situation schaffte, Ding ernsthafte Probleme zu bereiten. Zwei Spiele vor dem Turnierende stand es somit erneut Unentschieden.

Im vorletzten Spiel kam wieder eine französische Verteidigung aufs Brett, eine Eröffnung, die Ding schon einen Sieg und ein Remis im Match verschafft hatte. Diesmal sah es aber schlechter für den Weltmeister aus: Gukesh überspielte Ding in der Eröffnung und brauchte dafür auch deutlich weniger Zeit als dieser. Bei Zug 31 stand Gukesh vollkommen auf Gewinn, brachte jedoch die Zugfolge einer Kombination durcheinander, so dass Ding – der später bei der Presse­konferenz erzählte, er sei zu diesem Zeitpunkt schon kurz davor gewesen aufzugeben – unerwartet eine Ressource geschenkt bekam, die ihm das Remis rettete.

Der Schreck schien überstanden und der Tiebreak im Schnellschach in Reichweite. In der letzten klassischen Partie spielte Ding schon recht früh auf ein Remis, indem er mit Weiß wenig ambitioniert in ein Endspiel mit einem Bauern weniger abtauschte. Er schätzte das Endspiel korrekt als ein objektives Remis ein. Gukesh verfügte zwar über einen Mehrbauern auf dem Königsflügel und somit über eine drei zu zwei Bauernmajorität, allerdings hatten beide jeweils noch einen weißfeldrigen Läufer sowie einen Turm auf dem Brett.

Grober Fehler von Ding

Die einfache und beiden Spielern selbstverständlich bekannte Formel für ein Remis in dieser Stellung lautet, irgendeines der Figurenpaare abzutauschen. Eines, keinesfalls jedoch beide, denn das entstehende Bauernendspiel würde den Sieg für Schwarz bedeuten. Durch unachtsames Spiel – Ding war möglicherweise schon in Gedanken bei den Tiebreaks – platzierte er seinen Läufer in der Ecke und nahm ihm so die Möglichkeit, eine andere Diagonale zu besetzen. Doch erst der folgende Turmzug, ein Angebot des Abtauschs, offenbarte die Schwäche des vorherigen Zugs und erlaubte es Gukesh, beide Figurenpaare abzutauschen. So fand die Weltmeisterschaft 2024, wie bereits die elfte Partie, durch einen groben Fehler von Ding ihr Ende.

Der durch einen gegnerischen Fehler begünstigte Sieg Gukeshs sollte aber nicht über die enorme Leistung des neuen Weltmeisters hinwegtäuschen. Auch in der letzten Partie hatte er es immer wieder geschafft, den Druck auf seinen Gegner zu erhöhen. Dings Läufer hätte nicht so ungünstig in der Ecke gestanden, wenn Gukesh ihn vorher nicht subtil mit seinem Turm dorthin getrieben hätte. Schach wird oft beschrieben als eine Art, Fragen an den Gegner zu stellen, die dieser nicht immer beantworten kann. In dieser besonderen Match-Situation hatte Gukesh genau das geschafft, auch wenn es ihm insgesamt nicht gelang, an seine phänomenale Leistung des bisherigen Jahres anzuschließen.

Ding ist zugute zu halten, dass er bis zuletzt einen spannenden und offenen Wettkampf lieferte. Am Ende unterlag er seiner eigenen schlechten Form und konstatierte selbst, dass die Niederlage ein faires Ergebnis gewesen sei. Mut für seine Schach-Zukunft macht nicht nur seine insgesamt deutlich verbesserte Konstitution, sondern auch, dass er wieder häufiger lachte und außerdem versprach, künftig weiter Schach spielen zu wollen. Vielleicht fällt ihm das ohne das Gewicht des Weltmeister­titels sogar leichter.

Magnus Carlsen bleibt der beste Spieler

Gukesh indes blieb bescheiden: Weltmeister zu werden, bedeute nicht automatisch, der beste Spieler zu sein, denn »offenkundig ist da noch Magnus«. Magnus Carlsen, zweifellos noch der beste Spieler im klassischen Schach, kommentierte das gesamte Match im Youtube-Kanal seiner neuen App Take Take Take. Er fand dabei mehrfach harsche Worte für das Match zwischen Gukesh und Ding. »Dies sieht nicht wie ein Spiel zwischen zwei Weltmeisterschaftsanwärtern aus, sondern vielmehr eher wie die zweite oder dritte Runde eines offenen Turniers«, meinte er unter anderem. Diese beißende Kritik ist aber kein wirklicher Beleg für mangelnde Qualität der Spiele. Carlsen gilt als überaus kritisch, auch sich selbst gegenüber. Es ist kein seltener Anblick, ihn mit Siegerpokal in der Hand über seine angeblich lausige Per­formance schimpfen zu sehen.

Carlsens App verspricht, einen einfachen Weg zu bieten, Schach live über das Handy zu verfolgen. Das Besondere dabei ist, dass die Züge auch innerhalb der App mit kleinen erklärenden Kommentaren versehen werden. Allerdings kommentiert hier nicht Carlsen, sondern das Niveau zielt eher auf Anfänger und ­Anfängerinnen, denen erst einmal Grundideen nahegebracht werden müssen. Die App neigt außerdem zum Sensationalismus, kleine objektive Vorteile gelten hier schnell als spielentscheidend, und sie bietet bislang nur ein ziemlich dünnes Angebot an Übertragungen. Aufmerksamkeit bekommt sie vor allem durch Carlsens Namen sowie die Zusammenarbeit mit Levy Rozman, auch bekannt als Gotham Chess, und ­Hikaru Nakamura, also den zwei populärsten Schach-Streamern. Es bleibt abzuwarten, ob sich die App weiterentwickelt oder vielleicht, wie Carlsens frühere Firma, auch vom Riesen des Online-Schachs, Chess Dot Com, geschluckt wird.

Nach dem Match offenbarte Gukesh seine Sekundanten: Neben etablierten Großmeistern wie dem ­Inder Pentala Harikrishna und dem Polen Radosław Wojtaszek befand sich auch Vincent Keymer, der beste deutsche Spieler, im Vorbereitungs­team. Im Spiegel wird diese Zusammenarbeit mit einem potentiellen Konkurrenten als ungewöhnlich bezeichnet, das ist sie jedoch keinesfalls. Carlsen war ein Sparring-Partner Viswanathan Anands für dessen WM-Titelkampf 2010. Als Carlsen dann Anand 2013 herausforderte, trainierte er mit Jan Nepomnjasch­tschij, der wiederum 2021 zum Heraus­forderer wurde.

Wie stark wird Gukesh mit 20 sein? 

Sekundant zu sein, ist eine seltene Möglichkeit, Einblicke in die Match-Vorbereitung zu gewinnen. So schreibt Keymer: »Ich selbst habe es als Chance gesehen, Erfahrung mit der Arbeit auf dem absolut höchsten Niveau zu sammeln.« Er wolle sich fürs Kandidatenturnier 2026 qualifizieren. Dort wird der nächste Kontrahent für den Weltmeister gesucht. Keymer gehört zu den Spitzenspielern, die sich darauf Chancen ausrechnen können.

Ein paar Schritte weiter sind zum Beispiel schon Fabiano Caruana und Arjun Erigaisi. Über die Weihnachtszeit wird in New York City die Rapid- und Blitz-Weltmeisterschaft im Turnier ausgetragen. Die beiden Spieler konkurrieren direkt um einen Platz im Kandidatenturnier, über den vermutlich dort entschieden wird.

Leicht wird es der nächste Herausforderer sicher nicht haben. 2026 wird Gukesh Jahre mehr Erfahrung haben. Die Grenzen seines Talents sind wahrscheinlich noch längst nicht erreicht. Niemand kann heute sagen, wie stark Gukesh mit 20 sein wird. Man kann sich nur sicher sein: Genau wie Ding wird er den Titel nicht kampflos hergeben.