»Als unlösbar wahrgenommene Konflikte werden verdrängt«
Sie haben in Ihrer Arbeit nicht nur Pädagog:innen, sondern auch Schüler:innen interviewt. Warum?
Zwar gab es schon Studien zu ideologisierten Konflikten aus Sicht der Pädagog:innen, Schüler:innen wurden aber nicht befragt. Es hat mich sehr interessiert, wie diejenigen das eigentlich sehen, die das Thema betrifft und über die die ganze Zeit geredet wird, und ich wollte mit ihnen relativ offen und nicht anhand vorgefertigter Fragebögen sprechen. Ich wollte sowohl religiöse als auch religionsfreie Schüler:innen befragen und mir auch verschiedene Religionen anschauen.
Wie haben die Schüler:innen auf Sie reagiert?
Ich hatte damit gerechnet, dass sie eher wenig Lust haben, mit mir zu sprechen. Aber ich habe von der Schule einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen und die Schüler:innen haben da wirklich Schlange gestanden. Die Schüler:innen haben mir auch großes Vertrauen entgegengebracht und mir sehr intime Gedanken, Unsicherheiten, Meinungen und Konflikte mitgeteilt, mit denen sie zu kämpfen haben. Das fand ich sehr beeindruckend. Parallel zu den Interviews mit den Pädagog:innen habe ich dann gemerkt, dass sich die Themen überschneiden beziehungsweise dieselben Themen aufkommen, aber die Schüler:innen sie ganz anders bewerten als die Pädagog:innen.
Sie haben die wiederkehrenden Themen Geschlecht, Feiertage und religiöse Rituale, Antisemitismus, Homosexualität und terroristische Anschläge ausgemacht. Können Sie ein Beispiel für die unterschiedliche Bewertung nennen?
Enorme Unterschiede gab es zum Beispiel bei dem Thema Feiertage und religiöse Rituale: Von Pädagog:innen wurde das als ein sehr positiv konnotiertes Thema beschrieben, bei dem sich Freundschaften bilden, weil man gemeinsame Rituale vollzieht. Schüler:innen hingegen haben das eher negativ gedeutet und von einem Konformitätsdruck gesprochen. Gerade muslimische Schüler:innen haben erzählt, dass die Lehrkräfte das Fasten toll fänden, sie selbst die Fastenregeln aber eigentlich nicht mehr befolgen wollten und das Gefühl hätten, diese beachten zu müssen, weil sie ja von außen eine Rolle als Muslim:in zugeschrieben bekommen hätten.
Wenn Religion zu Streit führt: In einer qualitativen Interviewstudie hat Diana Schieck 36 Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter:innen, Schulleiter:innen und in der politischen Bildung Beschäftigte sowie 24 Schüler:innen über sogenannte religionsverbundene Konflikte befragt. Darunter fasst sie Konflikte, in denen sich die Beteiligten »auf die Religion selbst oder auf religiöse Zugehörigkeiten als Argumentationsgegenstand berufen«. Fast die Hälfte der befragten Pädagog:innen arbeitete an Schulen in den Berliner Bezirken Neukölln und Kreuzberg; neun Pädagog:innen arbeiteten an integrierten Sekundarschulen, fünf an Grundschulen und fünf an Gymnasien. Zwei Drittel von ihnen bezeichneten sich als konfessionslos, knapp ein Viertel als christlich und elf Prozent als muslimisch. Die 24 Schüler:innen besuchten Schulen in Neukölln, Charlottenburg-Wilmersdorf, Kreuzberg und Mitte, zwölf Schüler:innen bezeichneten sich als muslimisch, drei als yezidisch, drei als jüdisch, zwei als christlich und vier als religionsfrei. mb
Welche weiteren Unterschiede haben Sie herausgearbeitet?
Auch beim Thema Homosexualität beziehungsweise religiös begründete Homophobie gab es einen ganz großen Unterschied: Pädagog:innen haben hier teilweise angegeben, gar keine Erfahrungen damit gemacht zu haben, zum Beispiel weil sie ja auf einer LGBT-freundlichen Schule seien und da eher positiv konnotierte Diskussionen mit Schüler:innen über dieses Thema geführt hätten. Die Schüler:innen haben hingegen auf die Rolle der religiösen Regeln verwiesen: Einerseits, indem sie selbst gesagt haben, dass es verboten sei, schwul zu sein, wenn sie dieser oder jener Religion angehörten. Andererseits haben die Schüler:innen eine wahnsinnige Angst davor, sich zu outen, geoutet oder als homosexuell gelesen zu werden.
Wurde Ihnen von Drohungen und Gewalt berichtet?
Die Schüler:innen, die liberaler in ihrer Religion eingestellt sind oder die eher Religion und Gesellschaft trennen wollten, haben starke Sanktionen von ihren Mitschüler:innen erfahren. Diese kamen in Form von Mobbing und Gewalt. Liberale muslimische Schüler:innen haben zum Beispiel gesagt bekommen, dass sie »Möchtegern-Moslems« oder »Teilzeit-Moslems« seien, weil sie sich nicht an religiöse Regeln zum Fasten oder zur Kleidung halten wollten. Andere mussten sogar die Schule verlassen, weil sie von Mitschüler:innen als homosexuell geoutet wurden. Es kam auch vor, dass betroffene Schüler:innen mit solchen Problemen alleingelassen wurden und keine Unterstützung von Lehrkräften erhielten. Trotz solcher Vorkommnisse schilderten die Schüler:innen die Schule aber als einen wahnsinnig wichtigen Ort, wo solche Probleme immerhin sichtbar werden.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse Ihrer Studie?
Die wichtigsten Erkenntnisse sind, dass sich beim Umgang mit religionsverbundenen Konflikten zwei unterschiedliche Verhaltensmuster bei den Pädagog:innen und auch bei den Schüler:innen gezeigt haben, je nachdem, ob diese als lösbar oder als unlösbar wahrgenommen werden. Bei Konflikten, die lösbar erschienen, entstand ein Aushandlungsprozess.
»Liberale muslimische Schüler:innen haben zum Beispiel gesagt bekommen, dass sie ›Möchtegern-Moslems‹ oder ›Teilzeit-Moslems‹ seien, weil sie sich nicht an religiöse Regeln halten wollten.«
Und wie sah es bei den unlösbar scheinenden Konflikten aus?
Eine wahrgenommene Unlösbarkeit geht mit Schweigen zu Konflikten einher, sie werden tabuisiert, ignoriert, bagatellisiert oder unbewusst verdrängt. Oder Pädagog:innen sagen aus Sorge, Vorurteile gegen beispielsweise muslimische Schüler:innen zu reproduzieren, lieber gar nichts als etwas Falsches. Dadurch sind sie aber genau den Schüler:innen in den Rücken gefallen, die ohnehin schon von Diskriminierung betroffen waren. Außerdem war es sehr interessant, dass Konflikte unbesprechbar wurden, sobald Religion als alleinstehendes Argument in einer Konfliktsituation benutzt wurde. Bei dem häufig kolportierten Satz »Bei uns ist das so« haben Pädagog:innen wie auch Schüler:innen gesagt, dass das in Diskussionen eine diskursive Stoppfunktion hat: Diese religiösen Identitäten stellen nicht verhandelbare Grenzen im Diskurs dar.
Wie äußert sich das?
Denen, die sich derart auf ihre Identität berufen, geht es darum, die Werte der eigenen »Ingroup« aufrechtzuerhalten, positiv zu besetzen und vor »Aufsässigen« zu schützen. Im Falle von Muslimen richtet sich das weniger gegen anders- oder nichtreligiöse Schüler:innen als gegen muslimische Schüler:innen, die ihren Glauben säkularer oder liberaler leben. Das kann bis zur Rechtfertigung psychischer oder physischer Gewalt gegen diejenigen gehen, die sich nicht konform zu den Regeln der Gruppe verhalten. Ebenfalls davon betroffen sind allerdings auch Juden, die so dermaßen im Fokus dieser Konflikte stehen, dass die Menschen, die sie unterstützen könnten, also Pädagog:innen, aber auch Menschen in der politischen Bildungsarbeit, eher schweigen und dadurch diese Konflikte noch verschärfen. Auch der israelbezogene Antisemitismus wurde von beiden Seiten als unlösbarer Konflikt dargestellt.
Können Sie den letzten Punkt erläutern?
Bei diesem Thema haben sowohl Schüler:innen als auch Pädagog:innen von einem unglaublichen Gewaltpotential gesprochen. Pädagog:innen erzählten, dass sie, sobald sie den israelbezogenen Antisemitismus überhaupt erwähnten, zum Beispiel mit der Zerstörung von Schulmaterialien rechnen müssten. Auch Schüler:innen haben gesagt, dass, wenn sie Juden wären, sie es geheimhalten würden. Der Antisemitismus wird gerade auch vom pädagogischen Personal bagatellisiert. Entweder er wird gar nicht als solcher erkannt oder er wird als pubertäres Gehabe abgetan. Das ist bei einem gleichzeitigen Ansteigen antisemitischer Gewalt in der Bevölkerung äußerst gefährlich.
Was empfehlen Sie, um gegen den Antisemitismus an Schulen vorzugehen?
Es sollte ein Verständnis der unterschiedlichen Formen des Antisemitismus geben – und dazu auch ganz transparente Regeln, die für alle gelten, unabhängig von der ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit. Es sollte auch gelernt werden, Haltung dazu zu zeigen. Vor allen Dingen sollte man antisemitische Äußerungen nicht unkommentiert lassen. Schließlich braucht es Menschen aus der politischen Bildungsarbeit, die gezielt in die Schulen gehen und darüber sprechen. Meine Untersuchung hat gezeigt, dass Lehrkräfte bei diesem Thema überfordert sind und Antisemitismus entweder nicht erkennen oder bagatellisieren – Antisemitismus könne kein Problem sein, schließlich habe man keine jüdischen Schüler:innen, oder ähnliches –, oder meinten, an ihre persönlichen Grenzen zu stoßen, weil sie sich nicht auskennen, und deshalb passiv bleiben.
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Diana Schieck ist Bildungswissenschaftlerin und hat an der Freien Universität Berlin promoviert. Ihre kürzlich im Nomos-Verlag veröffentlichte Dissertation trägt den Titel »Religionsverbundene Konflikte im Berliner Schulalltag – Erfahrungen und Perspektiven von Pädagog:innen und Schüler:innen«. Derzeit macht sie eine Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin und arbeitet in der Akutpsychiatrie. Darüber hinaus ist sie Mitgründerin des Netzwerks »Psychotherapeut:innen gegen Antisemitismus«.