19.12.2024
Nach dem Sturz Bashar al-Assads in ­Syrien geben sich die Islamisten inklusiv und kooperativ

Islamisten mit Diversity-Schulung

Nach dem plötzlichen Sturz des Assad-Regimes zeichnet sich ab, was die Hinterlassenschaften nach 53 Jahren Diktatur in Syrien sind. Die HTS verspricht demokratischen Pluralismus, übernimmt aber die politische Führung, während die durch die Türkei unterstützte sogenannte Nationale Syrische Armee Rojava angreift.

Der Machtwechsel in Syrien erfolgte fast so, als wäre da nicht viel im Argen gewesen. Keine verbreitete Lynchjustiz, Folter oder Massenerschießungen, und das nach dem Ende eines so grausamen Regimes. Der neue starke Mann in Damaskus, Ahmed al-Sharaa (besser bekannt unter seinem Kriegsnamen Abu Mohammed al-Julani) verbot seinen Kämpfern Rache und versicherte, die Minderheiten zu schützen. Seine bärtigen Krieger sollten sich auch nicht in die Bekleidungsangelegenheiten der Frauen einmischen, hieß es.

Der von Sharaa installierte Interimsregierungschef Mohammed al-Bashir beteuert, dieses Amt nur bis März auszuüben. Dann endet die dreimonatige Frist, für die al-Sharaa die alte Verfassung aussetzen will. Von der Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera gefragt, ob die neue Verfassung islamisch sein werde, antwortete al-Bashir: »So Gott will, werden wir alle diese Details beim Abfassen der neuen Verfassung klären.« Klingt, als wäre das für die Gotteskrieger nur eine Nebensache.

Während al-Sharaa und sein islamistisches Milizenbündnis Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) Posten besetzen, Entscheidungen treffen und mit Reprä­sen­­tant:innen des Auslands sprechen, treten die Vertreter:innen anderer ethnischer, religiöser und politischer Gruppen, mit denen man eine Verfassung auf breiter Grundlage aushandeln könnte, bislang in Damaskus nicht öffentlich in Erscheinung.

Es ist zu befürchten, dass der Wettstreit zwischen den politischen Systemen Rojavas und dem der HTS mit Hilfe der Türkei mili­tä­risch gelöst wird. Dem im Wege stehen noch 900 US-Soldat:innen.

Was hingegen kurzzeitig zu sehen war, war al-Bashir neben der Flagge der syrischen Revolution und einer Fahne mit weißem Grund, auf der mit schwarzer Schrift das Glaubensbekenntnis des Islam (Shahada) steht: »Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist der Gesandte Gottes« – eine Erinnerung an die Herkunft der HTS. Einen Tag später war die Fahne wieder weg und die HTS ließ verlautbaren: »Wir hier bei HTS schätzen Ihr Feedback. Wir streben nach Inklusion und Diversität. Sie wollten, dass die Shahada verschwindet. Wir haben Sie gehört. Sie ist weg.« Propaganda für einen Gottesstaat wird tunlichst vermieden und würde bei einem großen Teil der Bevölkerung sicher auf Ablehnung stoßen.

Während Vertreter:innen westlicher Staaten auf eine Regierung unter Einschluss der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen drängen, setzt die Türkei andere Akzente. Kaum war Damaskus gefallen, besuchte der Leiter des türkischen Inlandsgeheimdienstes, İbrahim Kalın, der über acht Jahre lang Präsident Recep Tayyip Erdoğans persönlicher ­Sprecher war, Damaskus und betete dabei demons­trativ in der Umayyaden-Moschee. Dieser kommt nicht nur im Islam eine herausgehobene Rolle zu, sie hat auch als Ausgangspunkt des syrischen Aufstands 2011 symbolische Bedeutung. Die Türkei hat zudem bereits wieder ihre Botschaft in Damaskus eröffnet, Katar folgte unlängst mit der Ankündigung, es gleichzutun.

Erdoğan strebt das Ende von Rojava an

Erdoğan hatte in den vergangenen Tagen auf X seine Forderung nach territorialer Integrität und einheitlicher Struktur Syriens bekräftigt und während eines Besuchs des US-Außenministers Antony Blinken in der Türkei zugleich von der Wichtigkeit »präventiver Maßnahmen« in Syrien zur Wahrung der nationalen Sicherheit der Türkei gesprochen. Konkret bedeutet das wohl, dass Erdoğan das Ende von Rojava anstrebt, der autonomen kurdischen Verwaltung im Nordosten des Landes. Wegen Beziehungen zur PKK gelten die in Rojava tonangebende Partei der demokratischen Einheit (PYD) und ihr mili­tärischer Arm, die YPG, der Türkei als terroristische Organisationen.

Für die US-Regierung stellt sich das anders dar. Zwar bekundet diese, das Sicherheitsbedürfnis des Nato-Partnerlandes anzuerkennen, braucht aber gleichzeitig die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) – de facto eine Erweiterung der YPG – als Miliz zur Niederhaltung des »Islamischen Staats« (IS) in Syrien. Der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler hat unlängst betont, dass die Auslöschung der »Terrororganisation PKK/YPG« das Hauptziel der Türkei sei. Den USA biete man zur Bekämpfung des IS drei türkische Brigaden an. Güler zufolge ist man sich, was die Beseitigung der YPG betrifft, auch mit der in Damaskus dominierenden HTS einig.

Wie weit sich Erdoğans Regierung mit der syrischen Übergangsregierung beziehungsweise mit der HTS in Bezug auf Rojava tatsächlich einig ist, ist indes nicht klar. Letztere hat sich selbst bisher noch nicht dazu geäußert. Allerdings kann man davon ausgehen, dass man bei der HTS nicht darüber glücklich ist, über gut ein Viertel des Landes, inklusive der wichtigsten Erdölquellen, keinen administrativen Zugriff zu haben.

Wie wird die neue Verfassung aussehen?

Hadi al-Bahra, Präsident des Oppo­sitionsbündnisses Syrian National Coalition, sprach am 8. Dezember von einer 18monatigen Transitionsperiode, in der die Übergangsregierung um »neue Elemente der Opposition« erweitert solle, um dann binnen sechs Monaten eine neue Verfassung zu erstellen. Wie viel Einfluss al-Bahra hat, ist jedoch ebenso unklar wie die Gestaltung der Verfassung. Wird ihre Ausarbeitung unter Beteiligung aller relevanten Gruppen, inklusive Vertreter:innen von Rojava, erfolgen? Wird sie Minderheitenrechte gewährleisten, den Zentralismus der Diktatur durch einen föderalen Staatsaufbau ersetzen und auf religiöse Beschränkungen der Bür­ger:in­nen­rechte verzichten?

Wenn die neue Verfassung religiös und zentralistisch geprägt sein sollte, könnte das Konzept des demokratischen Konföderalismus – ein auf den inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan zurückgehendes Gesellschaftsmodell, welches ein Verwaltungssystem mit basisdemokratischen Elementen und Gendergleichheit vorsieht – in Rojava als politische Alternative erscheinen, würde aber genau deshalb mit größerer Wahrscheinlichkeit an­gegriffen werden.

Indessen hat man in Rojava auch interne Probleme. Die Bevölkerung besteht bestenfalls zur Hälfte aus Kur­d:in­nen. Doch dominiert die prokurdische Partei der demokratischen Einheit (PYD) das politische Geschehen. Insbesondere in mehrheitlich arabisch besiedelten Orten gibt es immer wieder Konflikte, bei denen die SDF-Miliz auch Schusswaffen einsetzt, wie jüngst in der arabisch und islamisch-konservativ geprägten Großstadt Raqqa. Die Gründe für die Konflikte sind vermutlich vielfältig: Korruption in der Verwaltung, Vertei­digung religiöser Vorstellungen, das Gefühl von Fremdbestimmung durch die kurdisch dominierte Verwaltung.

Die Rolle Irans und Russlands

Manche Konflikte mögen auch von den Überbleibseln des IS geschürt sein. Nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes jedenfalls gibt es nun für arabische Syrer einen Grund weniger, an ­Rojava festzuhalten. Würde über die Zugehörigkeit zu einer kurdisch dominierten Autonomieregion abgestimmt werden, verlöre Rojava wohl einige überwiegend arabische Gebiete entlang des Euphrat. Bleiben würden eher die Gebiete nahe der türkischen Grenze. Dabei handelt es sich im ­Wesentlichen genau um das Gebiet, auf dem Erdoğan seine »Sicherheitszone« erweitern will.

Während Erdoğan also vehement die Einheit Syriens fordert, hält die Türkei dort selbst Gebiete besetzt und dürfte seinen nun größer gewordenen Einfluss für den Versuch nutzen, eine kurdische Autonomie zu verhindern, was auch Folgen für den Staatsaufbau im gesamten Land hätte. Es ist zu befürchten, dass der Wettstreit zwischen den politischen Systemen Rojavas und dem der HTS mit Hilfe der Türkei bald militärisch gelöst wird. Dem im Wege stehen einstweilen noch 900 US-Sol­dat:innen. Doch der ehemalige re­spektive designierte US-Präsident Donald Trump hat Erdoğans Truppen 2019 schon einmal im Krieg gegen seine kurdischen Verbündeten den Weg freigemacht.

Für die Zukunft Syriens kann man hoffen, dass sich die Zivilgesellschaft in den Städten von der HTS emanzipiert und sich ein inklusiveres, demokratischeres Syrien herausbildet. Doch andererseits stellt sich die Frage, woher dessen Träger nach 53 Jahren Diktatur so rasch kommen sollen.

Unklar bleibt indes auch, welche ­Rolle die einstigen Verbündeten des Assad-Regimes, Iran und Russland, in ­Syrien spielen werden. Laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax soll Russland in direktem Kontakt zur HTS stehen, um seine zwei wichtigsten Militärbasen im Land zu erhalten. Der Iran, der mit dem Sturz des Assad-Regimes einen der wichtigsten strategischen Partner im Kampf gegen den Erzfeind Israel verloren hat, zeigt sich den nun neuen Machthabern gegenüber offen. Man respektiere die veränderte politische Situation in Syrien und plane gar die Wiedereröffnung der iranischen Botschaft. In Richtung Israel ließ al-Sharaa zunächst verlautbaren, dass man keine Absicht habe, in einen Konflikt zu treten. Zu den weitreichenden israelischen Luftangriffen auf militärische Infrastruktur in Syrien äußerte al-Sharaa nur, dass Israel, da die iranische Präsenz in Syrien beendet sei, »keine Ausreden mehr« für die Angriffe habe.

Für die Zukunft Syriens kann man hoffen, dass sich die Zivilgesellschaft in den Städten von der HTS emanzipiert und sich ein inklusiveres, demokratischeres Syrien herausbildet. Doch andererseits stellt sich die Frage, woher dessen Träger nach 53 Jahren Diktatur so rasch kommen sollen. Eine Dik­tatur mag über Nacht gestürzt werden, ihre Hinterlassenschaft verschwindet aber nicht so schnell. Dazu gehören auch die bärtigen Krieger, die Assad vertrieben, aber viele von dessen Funk­tionären in die Interimsregierung und die neue Verwaltung integrierten. Das kann positiv als Verzicht auf Rache gedeutet werden – aber auch als pragmatischer Versuch, anpassungsfähiges und erfahrenes Personal zu gewinnen, mit dem sich eine Dominanz der HTS leichter festigen ließe.