Fürs eigene Team die Fakten biegen
Kaum etwas sticht bei dem Attentat von Magdeburg mehr ins Auge als das äußerst wirre Profil des Täters. Bis heute lässt sich nicht genau sagen, welchen Einfluss auf dessen Motivation eine etwaige psychische Erkrankung hatte und welchen Anteil persönliche Kränkungen oder der Hass auf den Islam. Mit Letzterem begründete er jedenfalls seine Sympathiebekundungen für die AfD.
Und doch hatten viele schnell eine klare Meinung, wie der Täter ideologisch einzuordnen ist: Er war ein Rechtsextremer; er war ein heimlicher Islamist; er war kein Rechtsextremer, weil nämlich psychisch krank; er war vielleicht psychisch krank, aber durch seine arabische Herkunft geprägt – all das und noch viel mehr wurde sofort hinausposaunt, und zwar im Brustton der Überzeugung.
Wie Meinungsbildung im digitalen Lagerkampf funktioniert
Das macht die Debatte über den Anschlag zu einem lehrreichen Beispiel, wie heutzutage Meinungsbildung im digitalen Lagerkampf funktioniert. Schnelle Urteile sind bei jedem Ereignis, dessen Hintergründe zunächst unklar sind, unseriös. Gerade wenn Täter alleine handeln, ist ihr Profil oft höchst idiosynkratisch, ein eigentümliches Patchwork, das persönliche Wahnvorstellungen mit weltanschaulichen Versatzstücken verbindet.
Das Attentat in Magdeburg war ein Test dafür, ob man der Versuchung des motivated reasoning widerstehen kann. Dieser Begriff bezeichnet einen Denkprozess, der (unbewusst) in die Richtung eines gewünschten Ergebnisses geleitet wird. Denn die Informationen, die bald über den Täter bekannt wurden, waren ein derart bunter Strauß, dass sich Vereindeutigungen zwar eigentlich verboten, sich aber jeder rauspicken konnte, was in seine vorgefasste Meinung passte. Wer sich mit Letzterem nicht zurückhalten konnte, hat den Test offenkundig nicht bestanden.
Eine Plattform wie X ist, wie der IT-Blogger Chris Pirillo einst schrieb, »ein großartiger Ort, um der Welt zu sagen, was man denkt, bevor man eine Chance hatte, darüber nachzudenken«.
Von Gruppendenken kann sich kaum ein Mensch frei machen. Das war auch schon vor der Digitalisierung so. Was diese aber verändert hat, ist erstens, dass sich Opportunismus und Konformismus weniger auf die Gesellschaft insgesamt beziehen, sondern stärker auf tribale Teilgesellschaften, die als virtuelle Gemeinschaften nun besser zueinander finden. Zweitens herrscht in den jeweiligen digitalen Milieus ein hoher Anpassungsdruck, da Abweichler sogleich öffentlich verächtlich gemacht werden. Wer Anerkennung will, sagt besser das, was in der peer group opportun ist.
Vor allem aber können nun Hinz und Kunz wie wild in öffentlichen Debatten mitmischen. Der oben beschriebene Effekt wirkte auch in herkömmlichen Medien schon, doch im postredaktionellen und massenpartizipativen System der sozialen Medien ist er nun völlig von der Leine gelassen.
Hinzu kommt noch, dass gerade geltungssüchtige und konfrontative Persönlichkeitstypen in den sozialen Medien die stärkste Aktivität und Wirksamkeit entfalten. Wer reflektiert und abwägt, wird hier weniger aktiv oder geht meist unter.
Eine Plattform wie X ist, wie der IT-Blogger Chris Pirillo einst schrieb, »ein großartiger Ort, um der Welt zu sagen, was man denkt, bevor man eine Chance hatte, darüber nachzudenken«. Die sozialen Medien lassen die Dampfplauderer unterschiedlicher Couleur aufeinander los – und beschleunigen beziehungsweise intensivieren deren Schlammschlacht. Mit der Digitalisierung macht die Gesellschaft daher einen Schritt in Richtung einer Kakistokratie, also der Herrschaft der Schlechtesten: Die Vereinfacher, Emotionalisierer und Polarisierer erhalten mehr diskursive Macht.
Verdammen oder vergöttern! Dazwischen gibt’s nichts
Das kann man jeden Tag beobachten. Ein Post von Elon Musk? Ein Video von Robert Habeck? Der neueste Cancel-Vorfall? Verdammen oder vergöttern! Dazwischen gibt’s nichts. Häufig bilden sich in den sozialen Medien schnell zwei Blöcke heraus, die auf eine eindeutige Lesart drängen. Die Positionierung erfolgt wie aus der Pistole geschossen, nicht selten auch in Blitzreaktion auf den Schuss des politischen Gegners: Das Gegenteil muss wahr sein!
Negative partisanship heißt dieser Denkmechanismus: Man vertritt aus Prinzip das Gegenteil von dem, was der politische Gegner sagt. Er ist zentral für das, was der IT-Soziologe Petter Törnberg »affektive Polarisierung« nennt. Man nimmt Politik nur noch als Teamsport wahr, fiebert mit der eigenen Mannschaft, verachtet den Gegner und ist zu einer vermittelnden Betrachtung nicht in der Lage.
Affektives Denken und selektive Wahrnehmung sind keineswegs den Rechten vorbehalten. Erinnert sei hier nur an den tödlichen Angriff auf eine Trans-Person 2022 in Münster. Da wusste manche woke Linke sofort Bescheid: Die Tat sei eindeutig das Ergebnis von Terf-Hetze; sogar »stochastischen Terrorismus« wollte man queerkritischen Feministinnen anhängen. Das aber gab das Täterprofil keineswegs her – es handelte sich um einen jungen tschetschenischen Boxer, der wohl kaum die medialen Debatten über Trans-Rechte verfolgt hatte.
Leben in postfaktischen Zeiten
Doch nach einer Revision der eigenen Schnellschüsse sucht man meistens vergeblich. Auch das machen die sozialen Medien: lernresistent. Denn hier lehnt man sich mit seinen Aussagen vor einem großen Publikum aus dem Fenster. Menschen haben ohnehin ein Problem damit, (sich) Fehler einzugestehen. »›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich«, schrieb einst Friedrich Nietzsche.
Im Digitalen gilt das umso mehr. Der Gesichtsverlust scheint zu schwer zu wiegen. Zumal man dem verhassten politischen Gegner partout nicht gönnen will, irgendwo recht zu haben.
Dass man in postfaktischen Zeiten lebt, hat daher weniger mit Lügen zu tun, wie es die Vereinfacher in beiden Lagern sich zurechtdenken. Gewiss, gezielte Desinformation gibt es nicht zu wenig. Der Großteil fragwürdiger Informationen entsteht aber, wenn sich 80 Millionen Bundeskanzler, Terrorexperten und Politkommentatoren auf die Schnelle einen Reim auf alles Mögliche machen wollen, dabei aber lediglich die Realität in die Denkschablonen der eigenen Gruppe pressen.