07.01.2025
Eine Würdigung des Kampfs von »Charlie Hebdo« gegen religiöse Identitätspolitik und für Kunstfreiheit und Säkularismus

Zehn Jahre nach dem Anschlag auf »Charlie Hebdo«: Das Trenden der Frömmigkeit

»Charlie Hebdo« ist und bleibt das Zentralorgan des Laizismus und Antiklerikalismus. Zehn Jahre nach dem jihadistischen Terroranschlag am 7. Januar 2015 gibt es für das Blatt mehr zu tun denn je. Denn die Religiosität ist auch in Europa auf dem Vormarsch.

Nicht nur Muslime, auch Christen und Juden ereifern sich regelmäßig über die Karikaturen des Satireblatts Charlie Hebdo. Denn dieses verspottet immer wieder Gott und kommentiert das Treiben von Priestern, Imamen und Rabbinern in Wort und Bild hämisch. Blasphemie für alle, lautet das Gebot des Magazins.

Vor Mullahs und Mohammed haben die Zeichner und Autoren ebenso wenig Respekt wie vor Rabbis, Moses, Priestern und Jesus; Laizismus und Antiklerikalismus gehören zum Selbstverständnis des linken Magazins. Zwölf Redakteure und Zeichner wurden aus diesem Grund am 7. Januar 2015 in den Redaktionsräumen von Anhängern des jemenitischen Zweigs von al-Qaida brutal ermordet.

Der Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, war eine der Grund­lagen für den wirtschaftlichen Aufschwung in Europa und die Bedingung für das Entstehen des modernen Rechtsstaats und der Demokratie.

Zu den großen Erfolgsgeschichten westlicher Staaten gehört die Zurückdrängung der Religion. Die Zeiten, in denen Kirche und Staat eng verflochten waren, liegen Jahrhunderte zurück. Wie auch in Japan, China oder Korea spielt Religion in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien keine große Rolle mehr, und auch in den USA ist die Zahl derjenigen, die Kirchen meiden, in der jüngeren Vergangenheit gestiegen. Mit dem Aufschwung des Rechtspopulismus ist der Einfluss evangelikaler Christen zuletzt aber deutlich gewachsen.

Der Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, war eine der Grund­lagen für den wirtschaftlichen Aufschwung in Europa und die Bedingung für das Entstehen des modernen Rechtsstaats und der Demokratie, weil nicht mehr spätantike Schriften wie die Bibel oder der Koran das Leben der Menschen regelten, sondern in Parlamenten beschlossene Gesetze, die nicht mehr von bärtigen Männern mit merkwürdigen Kopfbedeckungen, sondern von Juristen ausgelegt ­wurden.

Cover der Sonderausgabe vom 2. September 2020. Es zeigt einen Propheten, der sich vor den Jihadisten graut: »Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden …«

»All das nur deswegen.« Das Cover der Sonderausgabe vom 2. September 2020 zum Auftakt des Prozesses gegen die Hintermänner des islamistischen Anschlags zeigt einen Propheten, der sich vor den Jihadisten graut: »Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden …«

Bild:
picture alliance / dpa / MAXPPP / Philippe Vacher

Wenn der FC St. Pauli heute in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Punk-Band Bad Religion T-Shirts auf den Markt bringt, auf denen das Logo der Band, eine Art Verkehrszeichen mit durchgestrichenem christlichem Kreuz, zu sehen ist, sorgt das für etwas Aufregung. Christen fühlen sich verletzt und protestieren. Aber Angst, dass christliche Eiferer den Vereinsmitgliedern nach dem Leben trachten, müssen sie nicht haben. Eher im Gegenteil ist die Empörung kostenlose Werbung, die den Verkauf der T-Shirts fördern dürfte. So weit, so gut.

In vielen Teilen der Welt wäre der Verkauf eines T-Shirts mit einem antireligiösen Motiv aber lebensgefährlich, denn dass Gott tot ist, wie Nietzsche meinte, gilt längst nicht überall auf diesem Planeten. Das belegen auch Statistiken. Im Rahmen des World Values Survey werden seit über 40 Jahren Menschen nach ihren Einstellungen zu Themen wie Gleichberechtigung der Frau, Kindererziehung, Arbeit und auch Religion befragt. Religion spielt demnach zwar im westlichen und im »konfuzianischen« Kulturkreis kaum eine Rolle; in Afrika, Lateinamerika, Indien und der arabischen Welt hingegen prägt Religiosität weiterhin das Leben der Menschen.

Religion ist ein Treiber von Gewalt

In Deutschland glauben 55,7 Prozent an einen Gott. So gläubig sind weder Niederländer (28,6 Prozent) noch Chinesen (11,5 Prozent) oder Ukrainer (41,9 Prozent). Gläubiger als in Deutschland ist man jedoch in der Türkei (91,8 Prozent), dem Libanon (85,3 Prozent), Nigeria (83,2 Prozent), Kenia (83,0 Prozent) und Pakistan (89,3 Prozent); Gläubigkeitsweltmeister ist Bangladesh (98,8 Prozent).

Religion ist ein Treiber von Gewalt. Hindus greifen in Indien Muslime und Sikhs an, und Christen verüben Anschläge auf Abtreibungskliniken in den USA und verfolgen Homosexuelle und »Hexen« in Afrika. Aber keine Religion hat derzeit so viele radikale und gewaltbereite Anhänger wie der Islam.

Mit der Einwanderung aus den islamischen Ländern nimmt auch die Religiosität in Europa zu. Die Vorstellung, dass Migranten die Freiheiten, die der Säkularismus des Westens gewährt, vorbehaltlos annehmen, hat sich nicht bewahrheitet. Einen Steinzeit-Islam, wie ihn die für den Anschlag auf Charlie Hebdo verantwortlichen Jihadisten durchsetzen wollen, wünschen sich die wenigsten.

Nach den Morden gingen Hunderttausende weltweit auf die Straße

Nach den Morden an den Redakteuren und Zeichnern des Blatts gingen Hunderttausende weltweit auf die Straße, um für die Kunst- und Pressefreiheit zu demons­trieren. Zeitungen in vielen Ländern der Welt druckten ihre Zeichnungen nach.

Insgesamt aber reagieren die westlichen Staaten auf den islamistischen Terror mit Beschwichtigungen. Spott über den Islam wird vermieden, zu gefährlich sind Witze über Mohammed. Und seit Kritik am Islam als »Islamophobie« und als eine Form von Rassismus diskreditiert wird, hat die Vorsicht weiter zugenommen. Beim FC St. Pauli käme man nie auf die Idee, ein Motiv auf T-Shirts zu drucken, das die Gefühle von Muslimen verletzen könnte.

In linken Kreisen werden islamische Kleidervorschriften für Frauen schon mal als Form des »Empowerments« und Symbol des Kampfs gegen den verhassten säkularen Westen gesehen. Schon Judith Butler wusste das islamische Textilgefängnis umzudeuten: »Die Burka symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und ihrer Familie verbunden; aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist.«

Zur Verhaftung von Boualem Sansal: »Algerier! Nehmt eure Imame zurück, gebt uns eure Schriftsteller wieder!« Ausriss aus dem Titelblatt vom 27. November 2024

Zur Verhaftung von Boualem Sansal: »Algerier! Nehmt eure Imame zurück, gebt uns eure Schriftsteller wieder!« Ausriss aus dem Titelblatt vom 27. November 2024

Bild:
Archiv 2. Juni

Auf antisemitischen Demonstrationen nach dem 7. Oktober weltweit rufen Linke, die sonst die Silhouette einer Moschee nicht von der einer Mokkakanne ­unterscheiden können, berauscht »Allahu akbar«, und auf einer Demonstration der DKP-Teenies der SDAJ entschuldigte man sich dafür, dass diese während des Ramadan am späten Nachmittag begann, versicherte den Muslimen aber, auf dem Marschweg gebe es zahlreiche Frittenbuden, um nach Sonnenuntergang den frommen Hunger zu stillen.

Begeistert laufen viele, die eine Kirche nur besuchen würden, um Kerzen zu klauen, Transparenten hinterher, auf denen die auf den Trümmern des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem erbaute al-Aqsa-­Moschee zu sehen ist. Der Islam hat ja irgendwas mit dem Globalen Süden zu tun und trendet entsprechend mehr als Aufklärung, Demokratie, Menschenrechte und all die übrigen Erfindungen weißer Kolonialisten.

Islamogauchisme, das Bündnis zwischen autoritären Linken und dem Islamismus, ist eine der Säulen des Erfolgs von Jean-Luc Mélenchons Partei La France insoumise. Mélenchon erreichte bei der französischen Präsidentschaftswahl 2022 mit 21,7 Prozent der Stimmen den dritten Platz hinter Emmanuel Macron und Marine Le Pen.

Rechtsextreme haben mit dem Islam an sich kein Problem

Auch in Deutschland sind die Stimmen frommer Muslime begehrt. Politiker von SPD und CDU besuchen gerne Moscheen der Erdo­ğan treu ergebenen Ditib und bemühen sich teils sogar um gute Kontakte zu den rechtsextremen und islamistischen Grau­en Wölfen. Die Berliner Linkspartei war strikt gegen das mittlerweile vom Bundes­arbeits­ge­richt gekippte Neutralitätsgesetz des Landes, das unter anderem Lehrerinnen unter­sagte, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen.

AfD-Politiker besuchten vor zwei Jahren die iranische Botschaft. Der Vorsitzende der Thüringer AfD, Björn Höcke, will zwar nicht, dass sich der Islam in Deutschland ausbreitet, hat aber mit dessen autoritärer Gedankenwelt kein Problem. In dem Inter­viewband »Nie zweimal in denselben Fluss« fordert er von der deutschen Außen­politik: »Erstens der Ausstieg aus der internationalen ›Anti-Islam-Koalition‹ und die konstruktive Zusammenarbeit mit muslimischen Ländern.«

Auch andere Rechtsextreme haben mit dem Islam an sich kein Problem. In der einschlägigen Zeitschrift Sezession schwärmt Erik Lehnert davon, dass die islamischen Gesellschaften ebenso wie die Russlands und Chinas, anders als die des Westens, heroische Gesellschaften seien.

In der Feindschaft gegen den Westen sind sich alle einig.

Das Nachsehen haben jene Migranten aus muslimisch geprägten Ländern, die in den Westen gekommen sind, weil sie mit den islamischen Gesellschaften gebrochen haben und ein Leben wollen, das nicht von Religion geprägt ist.

Das Nachsehen haben jene Migranten aus muslimisch geprägten Ländern, die in den Westen gekommen sind, weil sie mit den islamischen Gesellschaften gebrochen haben und ein Leben wollen, das nicht von Religion geprägt ist. Frauen werden unter Druck gesetzt, sich an islamische Kleidervorschriften zu halten, Islamkritikerinnen wie Mina Ahadi, die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, erhalten Morddrohungen, und immer mehr Kinder werden gedrängt, während des Ramadan zu fasten, auch wenn das keine traditionelle Regel im Islam ist.

Wer der Ansicht ist, dass es für Kinder besser wäre, wenn sie statt Religionsunterricht ein paar Stunden mehr Geschichte, Informatik oder Mathematik in der Schule hätten, und dass Religionen durch die Aufklärung domestiziert werden müssen, um Teil moderner Gesellschaften sein zu können, hat in Europa immer weniger Freunde.

Das muss sich wieder ändern.