Disziplin für die Hirnchemie
Der perfekte Morgen? Bloß kein Dopamin! Auf Tiktok und Youtube trenden Videos, die eine »dopaminarme« Morgenroutine anpreisen: warmes Wasser statt Kaffee, Tagebuch statt Smartphone, weißer Joghurt statt Donut. Durch Askese soll die Ausschüttung des Hormons im Gehirn begrenzt werden.
Andere empfehlen spezielle Fastenprogramme, Dopamin-Detox genannt. Der Gedanke dahinter: Moderne Verlockungen ließen unser Hirn in kurzer Zeit üppige Mengen Dopamin ausstoßen, so dass wir süchtig nach den schnellen Kicks werden. Bodenständigere Aktivitäten – Yoga, Waldspaziergänge, Arbeit – verlören so immer mehr an Reiz. Das Gegenmittel seien regelmäßige Auszeiten, etwa ein Sonntag völlig ohne Video und Cheeseburger. Anders als beim religiösen Fasten geht es aber nicht um innere Einkehr, sondern darum, das Beste aus sich herauszuholen. »So hackst du Dopamin und wirst süchtig nach harter Arbeit«, heißt es in einem Videotitel. Ironischerweise sind diese Clips besonders bei Social-Media-Plattformen beliebt, wo schrille Inhalte im Sekundentakt wechseln.
Es ist etwas faul an der Anti-Dopamin-Rhetorik: Sie baut darauf auf, dass hinter den beklagten Missständen das Streben nach zu viel Vergnügen steckt.
Dopamin genießt einen zwiespältigen Ruf als Glücksmolekül, das uns teils belohnt, teils gefügig macht. Rund um die Substanz hat sich in den vergangenen Jahren ein Wellness-Trend gebildet – mit ideologischen Untertönen: nein zu oberflächlichen Gelüsten, ja zu Disziplin und langfristigen Zielen. So könne man zu einem ausgeglichenen Leben zurückfinden und den tückischen Hormonsalven entkommen.
Dieses Pop-Dopamin hat wenig zu tun mit jenem aus den Neurowissenschaften. Dort gilt Dopamin als Tausendsassa mit zahlreichen unterschiedlichen Funktionen, je nachdem, an welcher Stelle im Gehirn es ausgeschüttet wird. Es treibt den Bewegungsapparat an und ist wichtig für geistige Prozesse: beim Belohnungslernen, fürs Arbeitsgedächtnis und beim Bilden von Erwartungen. Im Normalfall reguliert sich der Botenstoff im Gehirn von selbst.
Die These vom »Glückshormon« Dopamin ist überholt. Sie geht vermutlich auf einen Versuch aus dem Jahr 1954 zurück, in dem die Hirnforscher James Olds und Peter Milner winzige Elektroden in den Schädel von Ratten einsetzten. Per Hebeldruck konnten die Labortiere dopaminerge Zellen in ihrem eigenen Hirn elektrisch stimulieren, was sie auch taten – mehrere Hundert Mal pro Stunde. Doch wie viel hat es mit Glück zu tun, wenn sich ein Versuchstier in einem engen Käfig kleine Stromstöße abholt?
Dopamin trägt zu Süchten bei
Die Fachwelt rückte bald ab von der Idee, Dopamin verursache gute Stimmung. Spätere Studien sprachen für eine andere These: Der Stoff sorgt eher für Motivation als für positive Empfindungen. Im Gehirn wird beides getrennt voneinander verarbeitet. Dopamin steht für Wollen, nicht für Genuss. Dass das eine ohne das andere zu haben ist, zeigt sich gut bei Menschen mit Suchtproblemen: Sie konsumieren oft auch dann noch weiter, wenn die anfänglichen Hochgefühle schon längst verflogen sind.
Dopamin trägt zu Süchten bei, zumindest bei aufputschenden Drogen. Kokain etwa regt den Dopaminfluss im Gehirn an. Konsumiert man es regelmäßig, regulieren sich die Rezeptoren allmählich herunter, so dass es immer größere Mengen für dieselbe Wirkung braucht: der berühmte Toleranzeffekt. Ob Dopamin als universelles Erklärmodell für Sucht taugt, ist allerdings umstritten: Bei anderen Drogen, etwa Cannabis oder Heroin, ist die Rolle von Dopamin weniger klar. Zudem verschleiert die Idee von Sucht als reiner Hirnerkrankung, dass auch Lebensumstände wie Armut und soziale Notlagen zu Drogenproblemen beitragen.
Doch während Forschende ihr Verständnis von Dopamin immer wieder überdenken, genießt der Stoff in der Popkultur ein erstaunliches Eigenleben. An der Mythenbildung beteiligen sich sogar renommierte Experten, die es eigentlich besser wissen müssten, wie Anna Lembke von der kalifornischen Stanford-Universität. Sie landete 2021 mit »Die Dopamin-Nation: Balance finden im Zeitalter des Vergnügens« einen Bestseller.
Metapher für das Unbehagen an der Konsumgesellschaft
Bei ihr wird Dopamin zur Metapher für das Unbehagen an der Konsumgesellschaft. »Wir haben die Welt von einem Ort der Knappheit in einen Ort des erdrückenden Überflusses verwandelt«, schreibt sie. Sie warnt vor dem Suchtrisiko von Fastfood, Pornos und Videospielen. Außerdem erzählt sie von ihrer eigenen früheren Abhängigkeit, nämlich von erotischen Fantasy-Romanen. Das Smartphone sieht sie gar als »moderne Injektionsnadel«. Bislang gibt es zwar kaum Belege, dass Dopamin wirklich derartige Verhaltenssüchte mitverursacht. Dennoch spricht Lembke vielen aus der Seele, die nach einer Erklärung für ihre leidvollen Gewohnheiten suchen und sich nach einer Ruhezeit sehnen: Dopaminfasten, wie sie es nennt.
Lembke führt wichtige Punkte an: Plattformen wie Instagram oder Tiktok sind gezielt so gestaltet, dass ihre Nutzer möglichst viel Zeit auf ihnen verbringen. Design-Kniffe wie das endlose Scrollen machen es schwer, sich loszureißen. Viele Menschen hängen länger am Handy, als ihnen selbst lieb ist. In Europa gelten rund 19 Prozent als süchtig nach ihrem Smartphone, so das Ergebnis einer Metastudie eines chinesischen Forschungsteams aus dem Jahr 2022. Auch Menschen ohne Sucht hilft es, gelegentlich eine Pause von der digitalen Dauerstimulation einzulegen. Man muss es ja nicht Fasten nennen – oder mit Dopamin begründen.
Und noch etwas ist etwas faul an der Anti-Dopamin-Rhetorik: Sie baut darauf auf, dass hinter den Missständen das Streben nach zu viel Vergnügen steckt. Lembke prangert eine Gesellschaft an, die den Hals nicht voll bekomme und verlernt habe, sich schmerzhaften Herausforderungen zu stellen. Süchte entstehen aber nicht aus hedonistischem Überschwang, im Gegenteil: Viele Betroffene hadern mit persönlichen Krisen oder wirtschaftlichen Notlagen. Doch für Lembke ist der »leichte Zugang zu billigem Dopamin« der Kern des Übels.
Alte protestantische Arbeitsethik
Das erinnert an die alte protestantische Arbeitsethik: keinen Spaß ohne vorherige Plackerei. Was sich im 21. Jahrhundert kaum noch religiös rechtfertigen lässt, erlebt nun im neurowissenschaftlichen Gewand ein erstaunliches Comeback. Ähnliches Gedankengut teilt Lembkes Stanford-Kollege Andrew Huberman, der als Hirnforscher mit seinem Wellness- und Lifestyle-Podcast berühmt wurde. Als pathologisch sieht er den »wiederholten Zugang zu Dopaminschüben ohne Anstrengung, ohne Opfer«, sagt er im Interview mit Jordan Peterson in Hinblick auf Internetpornos. Und so ist man rasch zurück bei der These von der sündhaften Selbstbefriedigung.
»Unser zwanghafter Überkonsum gefährdet nicht nur unser eigenes Überleben, sondern auch das unseres Planeten«, mahnt Lembke. Damit verkennt sie, dass es die herrschende Produktionsweise ist, die, um immer mehr Profit zu realisieren, eben auch immer mehr Konsum erfordert. Stattdessen sieht sie die Verhaltensweisen als Folge einer unausgeglichenen Hirnchemie und somit als privates Problem: Nicht die gesellschaftlichen Strukturen sollen sich ändern, sondern unser Inneres.
Es ist natürlich richtig, dass die Konsumexzesse teils zu seelischen Problemen führen. Doomscrolling beispielsweise, also das endlose Wischen durch unheilvolle Schlagzeilen im Internet, kann ängstliche und depressive Zustände verschlimmern. Andererseits nehmen kleine Rituale zur Erholung einen wichtigen Platz in der heutigen Arbeitswelt ein. Daddeln im Büro etwa ist für viele eine Technik zur Emotionsregulation. In der Arbeitszeit ständig auf Katzenvideos statt Jahresberichte zu starren: Das kann auch eine leise Protestform sein. So neigten vor allem jene Angestellte zu heimlichem Internetsurfen, die ihre Arbeit als sinnlos erleben und sich wenig mit ihr identifizieren, so das Fazit einer Studie von Benjamin Liberman und seinen Kolleginnen aus dem Jahr 2011.
Kreislauf aus Detox und Intox, aus Askese und Rückfall
Ähnliches gilt für andere Belohnungen, auch nach Feierabend: Videospiele, Bingewatching, Impulskäufe. Den Dopamin-Gurus gelten solche Aktivitäten im Übermaß als neurochemisches Versagen – nicht jedoch als Trostpflaster für ein fremdbestimmtes Leben. Doch psychologisch gesehen versprechen die Impulshandlungen ein Gefühl von Kontrolle in einem Zustand allgegenwärtiger Ohnmacht. Deshalb lassen sie sich nicht isoliert via Fastenprogramm beseitigen, solange ihre strukturellen Ursachen fortbestehen.
Im unschönsten Fall bemühen sich die Betroffenen immer wieder um Besserung, ohne es zu schaffen. Sie landen dann in einem Kreislauf aus Detox und Intox, aus Askese und Rückfall – und machen sich selbst für ihre Fehlschläge verantwortlich. Befreiender wäre, das zwiespältige Verhältnis zu den eigenen Lastern zu würdigen. Das hieße, sich selbst gegenüber gnädiger zu sein, und sich den eigenen Konsumgelüsten hinzugeben, zumindest hin und wieder – mehr Dopaminvöllerei wagen.