16.01.2025
Die italienischen Neofaschisten pflegen einen Opfermythos, der wenig mit der Realität zu tun hat

Faschistisches Requiem

Jährlich finden Anfang Januar Rechtsextreme in Rom zusammen, um der Morde an drei Neofaschisten in den siebziger Jahren zu gedenken. Die Selbstinszenierung bietet seit jeher Faschistengruß, Opfermythos und Märtyrerkult.

Die Via Acca Larentia in Rom misst keine 100 Meter und doch steht der Name der kleinen Straße im Stadtteil Tuscolano seit mehr als vier Jahrzehnten für politische Kontroversen. Besonders zu Jahresbeginn, wenn neofaschistische Gruppen zum Gedenken an das sogenannte Massaker von Acca Larentia aufrufen. Auch dieses Jahr gab es ein Stelldichein der extremen Rechten mit rund 1.300 Teilnehmern, die dreier 1978 getöteter Neofaschisten gedachten.

Der Trauerzug trat in Reih und Glied an, die überwiegend schwarz gekleideten Marschierer knüpften an die Tradition der camicie nere (ab 1919 entstandene faschistische Kampfbünde, die aufgrund der Farbe ihrer Uniform als Schwarzhemden bezeichnet wurden) an. Hunderte zeigten synchron den sogenannten römischen Gruß. Dieser kann in Italien als Verherrlichung des Faschismus strafbar sein. Sein kollektives Zeigen gehört zur Choreographie des faschistischen Requiems, bei dem die Namen der Getöteten ausgerufen werden, woraufhin die Menge »Presente!« (Anwesend) antwortet und dazu den rechten Arm in die Höhe streckt.

Die Antiterroreinheit der italienischen Polizei, Digos, leitete Ermittlungen ein und gab in den Tagen nach der Kundgebung an, intensiv an einer Identifizierung der Teilnehmer zu arbeiten. Zu dem Gedenken aufgerufen hatte unter anderem die rechtsextreme Gruppierung Casa Pound, die der Identitären Bewegung als Vorbild gilt. Seit 2003 spielt die Organisation, die zwischenzeitlich auch als rechtsextreme Partei den Einzug in die Parlamente anstrebte, eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung zu dieser und ähnlichen Kundgebungen.

Die Entdeckung eines Waffenlagers der Neofaschisten von NAR im Keller des italienischen Gesundheits­ministeriums konterkarierte schon 1981 ihre Selbstdarstellung als auf sich gestellte Staatsfeinde.

Gedacht werden soll bei dieser Veranstaltung der Ereignisse vom 7. Januar 1978. Am Abend jenes Tages wurden die beiden Mitglieder des neofaschistischen Jugendverbands Fronte della Gioventù, Franco Bigonzetti und Francesco Ciavatta, vor der Parteizentrale des Movimento Sociale Italiano (MSI; eine Vorgängerpartei der heutigen Fratelli d’Italia) in der Via Acca Larentia erschossen. Wenige Stunden später wurde auch der Rechtsextremist Stefano Recchioni bei Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet. Die Mörder von Bigonzetti und Ciavatta wurden nie eindeutig identifiziert, allerdings bekannte sich die linke Terrorgruppe Nuclei Armati per il Contropotere Territoriale (NACT; bewaffnete Zellen für territoriale Gegenmacht) zu den Morden.

Die NACT agierten, wie die Squadre Armate Proletarie (SAP, bewaffnete proletarische Gruppen) und die Nuclei Armati Proletari (NAP, bewaffnete proletarische Zellen), aus dem Untergrund und prägte mit ihrem bewaffneten Kampf die sogenannten anni di piombo (bleierne Jahre). Obwohl die politischen Auseinandersetzungen der Siebziger von offener Gewalt, Anschlägen und Straßenschlachten zwischen Linken, Rechten und der Polizei geprägt waren, sind die Morde vom 7. Januar 1978 wie kaum ein anderes vergleichbares Ereignis aus der Zeit nach wie vor präsent.

Für die extreme Rechte in Italien identitätsstiftend

Für den Historiker Davide Conti wurde in der Via Acca Larentia in jener Nacht ein Opfermythos geboren, der für die extreme Rechte in Italien seither identitätsstiftend wirkt. In der italienischen Tageszeitung Domani schreibt Conti: »Aus der Instrumentalisierung der Ereignisse vom 7. Januar 1978 entspringt die kontrafaktische Opfererzählung der extremen Rechten«. Schnell wurden die damaligen Ereignisse zu einem Symbol, das die italienischen Rechtsextremen nutzen, um sich als von der Republik Verfolgte darzustellen.

Militante Neofaschisten, die sich der Tradition Mussolinis verpflichtet fühlen, versuchten dabei, die Kriegsrhetorik zu kopieren, die zur Entstehungszeit der faschistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig war. Für die Rekrutierung und Radikalisierung faschistischer Schlägertruppen spielte damals die Mobilisierung von Rückkehrern aus dem Ersten Weltkrieg eine entscheidende Rolle, die das Gefühl nutzte, betrogen worden zu sein – in Italien machte die Rede vom sogenannten »verstümmelten Sieg« (Gabriele D’Annunzio) die Runde, eine Anspielung auf die vermeintlich unzureichenden territorialen Gewinne Italiens nach dem Ersten Weltkrieg. Die Opfer, die die Soldaten, insbesondere die durch ihre außergewöhnliche Brutalität bekannten Arditi (die Kühnen; eine Spezialeinheit der italienischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg), gebracht hatten, sollten durch die Aufnahme ihres Kampfgeistes in die Nachkriegsgesellschaft gerechtfertigt und belohnt werden.

So dienen Opfermythos und Märtyrerkult bis heute der moralischen Selbstvergewisserung und legitimieren die offene Feindschaft gegen den poli­tischen Gegner. Valentina Mira, Autorin und Kennerin des italienischen Neofaschismus, sagte hierzu der Jungle World: »Ich glaube, für diejenigen, die es gewohnt sind zu töten, ist es wichtig, sich moralische Rechtfertigungen zu geben. Die Tatsache, dass drei Personen an diesem Ort ermordet wurden, dient als so eine Rechtfertigung. Einen Monat nach den Morden in der Via Acca Larentia rächten sich die NAR (Nuclei Armati Rivoluzionari, eine neofaschistische Terrorgruppe; Anm. d. Red.) am zufällig ausgewählten Aktivisten Roberto Scialabba.«

Selbstviktimisierung faschistischer Gewalttäter

Scialabba, Mitglied der außerparlamentarischen linken Gruppe Lotta Continua und zum Zeitpunkt des Mordes 24 Jahre alt, wurde am 28. Februar 1978 in Rom getötet. Für Mira, die sich in ihrem Roman »Dalla stessa parte mi troverai« (2024; in etwa: Du wirst mich auf derselben Seite wiederfinden) mit den Morden von Acca Larentia und deren Bedeutung für die neofaschistische Bewegung befasst, ist die Selbstviktimisierung faschistischer Gewalttäter »der einzige Weg, weiter Täter bleiben zu können«.

Die Opferrolle, die sich die Neofaschisten während der anni di piombo zuschrieben, deckte sich allzu oft nicht mit der historischen Realität, so Mira: »Letztlich konnten mehrere Gerichtsurteile die Zusammenarbeit des italienischen Staats mit den Rechtsterroristen der NAR belegen.« Insbesondere die Entdeckung eines Waffenlagers der Gruppierung NAR in den Kellerräumen des italienischen Gesundheitsministeriums 1981 konterkariert die Selbstdarstellung der Neo­faschisten als auf sich gestellte Staatsfeinde. Trotz derartiger Nachweise der Zusammenarbeit militanter Neo­faschisten mit den italienischen Behörden, gelingt es der extremen Rechten Jahr für Jahr, den Opfermythos ­öffentlichkeitswirksam zu inszenieren.