16.01.2025
Auszug aus dem Band »Trump & Co. Der un/aufhaltsame Weg des Westens in die Anti-Demokratie«

Das gute Volk und die schlechte Gesellschaft

Weder Prozesse noch Skandale konnten ihn aufhalten: Donald Trump ist ein zweites Mal zum ­Präsidenten der USA gewählt worden. Flankiert von seinem Buddy Elon Musk wird der »Horrorclown« nichts Geringeres ver­suchen als die Neugestaltung der Welt. Wie konnte das passieren?

Margaret Thatchers berüchtigtes Diktum »There is no such thing as society« lässt sich als Schnittstelle zwischen dem neoliberalen und dem rechtspopulistischen Denken erkennen. Gesellschaft ist das Material für einen demokratischen Kapitalismus, der ein Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit, Besitz und sozialem Ausgleich finden will und dazu eine gemeinsame, so flexible wie verbindliche Kultur entwickelt, die, wie wir von Sigmund Freud wissen, das Unbehagen auch hervorbringen muss. Wenn Kultur die soziale Maschine ist, die aus einem Bündel von Angst, Lust und ­Aggression den nützlichen und zufriedenen Mitmenschen machen soll, dann ist Gesellschaft die kulturelle Maschine, die aus den divergierenden Mitmenschen ein produktives System formt. Das geschieht unter anderem durch die Anwendung einfacher Formeln wie etwa der, dass Eigennutz und Solidarität einander entsprechen sollen.

In unseren Phantasien spuken immer die Vorstellungen: Was ist, wenn es keine Kultur mehr gibt? Was ist, wenn es keine Gesellschaft mehr gibt? Die Antwort, von Robinson Crusoe bis Mad Max, ist immer die gleiche: Beides bildet sich neu, rudimentär und möglicherweise aus den Trümmern des Verlorenen. Vollkommen ohne Kultur und vollkommen ohne Gesellschaft ist der Mensch nicht vorstellbar.

Man könnte die Kultur in Kulte zerfallen lassen, und die Gesellschaft in Stämme, Banden und Horden, und man könnte die Metapher des Turmbaus von Babel bemühen, wie es amerikanische Kritiker:innen gern in Bezug auf die affektiven Polarisierungen tun: Das große (zu große!) kulturelle Projekt musste scheitern, weil Gott den Menschen die ­Fähigkeit der gemeinsamen Sprache nahm. Eine babylonische Verwirrung scheint auch gegenwärtig stattzufinden, weil ebenso wie Begriffe von Kultur und Gesellschaft auch die Fähigkeit zur Kommunikation untereinander verlorengeht. So bauen die einen, was die anderen gleich wieder einreißen, und Bauteile gelangen überall hin, nur nicht dort, wo sie einen Sinn für das Ganze ergeben.

Schon in der Positionierung im Wahlkampf war deutlich, wie komplex und widersprüchlich die Beziehungen zwischen ökonomischem Interesse, Lebensstil und Weltanschauung sind, die eine auf den ersten Blick so deutliche Spaltung der amerika­nischen Gesellschaft bedingen. Vieles geht durcheinander, manches ist willkürlich, einiges verborgen und maskiert. Aber in all diesen Prozessen, in denen sich die demokratische von der rechten Erzählung abspaltet, die Konzepte des sich auflösenden demokratischen Sozialstaats und des aufsteigenden faschistischen Wirtschaftsstaats, gibt es doch einige Konstanten, Verbindungen zwischen Propaganda und Alltagsleben, die auf die tieferen Ursachen der drastischen Wandlung in allen Feldern der westlichen Kultur hinweisen.

Eine Konstante ist das sich abzeichnende Ende der großen Erzählung vom Fortschritt, die die verschiedenen Frak­tionen des Bürgertums zusammengehalten haben. Der Fortschritt der ­einen ist für die anderen Rückschritt; dem ökonomischen, technischen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und am Ende dem Fortschritt von Vernunft und Moral ist das Versprechen, irgendwie miteinander ­zusammenzuhängen, verlorengegangen. Die Verlusterzählungen fressen die Fortschrittserzählung von innen auf.

Der Fortschritt der einen ist für die anderen Rückschritt; dem ökonomischen, technischen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und am Ende dem Fortschritt von Vernunft und Moral ist das Versprechen, irgendwie miteinander zusammenzuhängen, verloren gegangen. 

Zudem gibt es einen drohenden Bruch mit den Gewohnheiten in den diversen Codes: dem kulinarischen, dem sexuellen, dem ästhetischen, dem Mobilitäts- und dem Verbrauchs-Code. Für diesen Bruch mit den Gewohnheiten, der mal eine ­reale Ursache und mal nur paranoid phantasiert wird, werden überall die gleichen Schuldigen benannt: die wahnsinnigen Grünen und andere ökologische Bewegungen; die Frauen allgemein und die Hexen vom Feminismus im Besonderen; die nicht heteronormativen, queeren Emanzi­pationsforderungen; die »Fremden«, »illegalen Migranten« und »Flüchtlinge«, die sich nicht integrieren, kriminell und religiös fanatisch seien; die Liberalen, die all diese Vermischungen und Unordentlichkeiten zuließen, wenn nicht gar forcierten, womöglich im Dienst einer großen Verschwörung zwischen Washington und Jerusalem; und natürlich die Linken, die Kritik und Veränderung fordern und die eine Gesellschaft behaupten, wo »wir« ein Volk sehen möchten.

Da es nicht mehr weitergeht, muss man zurück. Und da man dazu für sich sein muss, wird alles zum Feind, was »anders« ist. Es geht also nicht mehr um die Person des Führers ­allein, sondern um »das Volk«, das ihn haben will oder das ihn mög­licherweise »erzeugt«.

Die Menschen, sagt Karl Marx, »machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«. Damit könnte man es bewenden lassen, lachend oder trauernd, aber, springen wir hinüber zu den Existentialisten: Man ist nun mal zur Freiheit verdammt, und deswegen gibt es eine Ur-Entscheidung für jede und jeden: die Umstände akzeptieren oder gegen sie rebellieren. Manche sind von Temperament oder Talent her, vielleicht auch aus frühen Erfahrungen heraus, zum Rebellieren geboren, andere eher zur Anpassung. Nur eine glückliche Einheit, das werden Menschen und Umstände nie, das wäre Himmel oder Hölle, je nachdem, weil es dann weder ­Bewusstsein noch Phantasie, weder Idee noch Zweifel gäbe. Bleibt also die umgekehrte Frage: Wie viel Widerspruch, wie viel Dissidenz ist überhaupt möglich, ohne dass das eine oder andere, der Mensch oder die Umstände, einfach verschwinden muss? Und wie viel Dummheit, ja, wie viel Blödheit muss dann immer wieder erzeugt werden, damit es überhaupt so etwas wie politische Umstände geben kann und nicht einfach das Chaos herrscht, das wir uns gern in der postapokalyptischen Phantasie vorstellen.

Gesellschaftliche Ordnung stellen sich die Menschen beinahe aller Kulturkreise immer noch als eine Form von Herrschaft vor: Ein Fürst, mag er auch demokratisch beschränkt und eingehegt sein, regiert mit Hilfe von Ministern, Ratgebern, Schergen, Bürokraten und Heeren. Dem gegenüber stehen das Volk, die Massen, die Leute, die Gesellschaft, die Untertanen, die Wählerinnen und Wähler, die in sich gewisse Rangordnungen praktizieren; aus Arbeits- und Besitzverteilungen entsteht daher eine zweite, fluidere Form von Macht. Herrschaft, Regierung und Macht bedingen einander, sind aber keinesfalls stets in einer Person oder einer Institution verbunden.

Wo wird die Spannung unerträglich dramatisch, und wo der Mangel daran unerträglich langweilig? Alle Umstände sind falsch, ungerecht und destruktiv. Sonst würde man sie als solche gar nicht wahrnehmen, sondern als endlose Erweiterung des Ich empfinden. Man kann das mit Drogen, spiritualistischer Meditation, narzisstischer Machtpolitik oder ­Internetsucht versuchen. Es wird am Ende nicht funktionieren. Man kann umgekehrt versuchen, sich selbst als gestaltender, mächtiger oder wissender Teil der Umstände zu setzen. Und wo der vorherige Typus die Welt in seinem Ich zu versenken droht, versucht der zweite, sein Ich in der Welt zu versenken. Auch das funktioniert am Ende eher schlecht, unter anderem weil bekanntlich jede Re­volution nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Ideen frisst.

Zwischen der radikalen Dissidenz und der fundamentalen Anpassung liegt die Kritik, es liegt aber auch andrerseits eine moralische Distanzierung, die Belehrung und Tadel umfasst, dazwischen. Während sich die Kritik aus Geschichte und Bewusstsein legitimiert, ist diese Form des Besserwissens mit einer Sendung belastet, die ihre religiösen Ursprünge nicht verleugnen kann. Aber zu rationaler Kritik und moralischer Entrüstung gibt es ein drittes Pendant, dem man den Namen der Scharlatanerie geben kann und die ganz offensichtlich in Krisenzeiten besonders gedeiht. 1937 er­schien das Buch »Die Macht des Charlatans« von Grete De Francesco, das die Gestalt historisch verankerte, und warnte vor den Magnetiseuren, den Marktschreiern, den Quacksalbern oder Wiedergängern, den Wunderheilern und Erlösungspredigern. (Sie wurde von den Nazis 1945 im KZ Ravensbrück ermordet.)

Diese Figur des Scharlatans zapft die beiden Impulse in der Krise an: die Angst vor dem endgültigen Aus und die Hoffnung auf Rettung und Erlösung. Wenn man den historischen Figuren durch die Jahrhunderte nachspürt, erscheint immer das gleiche Muster: die Verwandlung der ­Zuhörerschaft in eine Gemeinde der Gläubigen, die Verkindlichung der Wahrnehmung, die aggressive Blindheit gegenüber faktischer Vernunft, die grandiosen Lügengeschichten der Fälscher über sich selbst, und immer wieder die Geste einer Wendung für das Volk und gegen die »Eliten«. Und immer wieder ist dann das Erstaunen darüber groß, wie jemand so viele Menschen mit so haarsträubendem Unsinn hat in die Irre führen können.

Das Versprechen jedenfalls ist ­total: Nicht eine Medizin für eine Krankheit wurde gefunden, sondern das Wunderheilmittel gegen alle Krankheiten; es gibt nicht einen Weg zur Erlösung, sondern es ist ein einziger, aber endgültiger Schritt; es ist nicht ein Kampf auszutragen, sondern der alles entscheidende Endkampf; es gibt nicht viele Ideen und Konflikte, sondern nur die eine; und es gibt nur die eine »richtige« Sprache. Die Scharlatane sind in einem Zustand der ständigen Erregung und übertragen sie auf ihre Mitmenschen, jede Kritik erscheint ihnen als Blasphemie. Er muss eifern, wie aus Furcht, jemand könne einen Moment des Nachlassens seiner Energie nutzen, um ihm die Maske vom Gesicht zu reißen.

Da es nicht mehr weitergeht, muss man zurück. Und da man dazu für sich sein muss, wird alles zum Feind, was »anders« ist. Es geht also nicht mehr um die Person des Führers allein, sondern um »das Volk«, das ihn haben will oder das ihn möglicherweise »erzeugt«.

So ist der Scharlatan ständig dazu gezwungen, die Dosis der Emotionalisierung zu erhöhen. Wo Zweifel ist, muss noch mehr Angst sein; wo es Zögern gibt, müssen die Verheißungen noch größer werden. Und alles, das nicht in gerader Linie von Angst zur Erlösung führt, wird in den Bereich finsterer Verschwörungen und tückischer Geheimorganisationen verschoben. In seiner Sprache gibt es nur den Effekt, wie Peter Rawert erkennt: »Der Scharlatan meidet Sammelbegriffe. Nicht vom ›Wetter‹ spricht er, sondern von Blitzen, Sturm und Hagel, nicht von ›Waffen‹, sondern von Kanonen, Mörsern und Bomben. Er will die Ohren seiner Hörer sturmreif schießen. Oft setzt er dazu auch auf Musik. Märsche sind es, die er liebt, besonders das Defilee. Er weiß, welche Macht der Rhythmus über die Menschen hat. Und seine wichtigste Erkenntnis: Er weiß, dass die Leichtgläubigen zwar die Lüge verachten, die ganze Wahrheit aber gleichwohl scheuen. Deshalb negiert der Scharlatan die Wahrheit nicht. Das unterscheidet ihn vom bloßen Betrüger. Er ersetzt sie vielmehr durch eine neue Erzählung.«

Eine andere Bezeichnung, die den rechten Hassprediger charakterisiert, stammt von einem ehemaligen Mitbewohner aus Trumps Studienzeit. Er nannte seinen Kommilitonen einen »wütenden Idioten«. Zur Zeit des Attentats auf Trump begannen die konservativen Medien damit, die Ursachen dafür auch in den An­schuldigungen der Gegner zu suchen, sozusagen in Umkehrung der einstigen Vorwürfe, Trump sei mit seiner Hetze am blutigen Geschehen um die Erstürmung des Kapitols verantwortlich gewesen. Es könne nun eben genau zu einer solchen Gewalttat führen, Trump als Hitler zu beschimpfen und ihn als eine Bedrohung der Demokratie zu bezeichnen, kommentierte man bei Fox News. Nun erinnerte sich unglücklicherweise der einstige Zimmergenosse von J. D. Vance daran, von ihm während seiner Zeit auf der Yale Law School eine E-Mail mit eben jenem Inhalt bekommen zu haben. »Trump ist der amerikanische Hitler«, hieß es da kategorisch. Heute will sich Vance dabei nur auf Äußerlichkeiten bezogen haben. Mit dem »wütenden Idioten« wurde ein Typus beschrieben, der im Trumpismus eine zentrale Rolle spielt.

Der wütende Idiot äußert sich in Sprechakten. Versprechungen, Drohungen, Abschweifungen, Angebote, Erklärungen … Alles kann zum Sprechakt werden, der sich grundlegend von einer Aussage unterscheidet. Eine Aussage kann falsch, richtig oder noch nicht entschieden sein. Den Sprechakten des wütenden Idioten ist eine ganz andere Dualität zu eigen: Sie können angenommen oder abgewiesen werden. Sie bemessen sich an der Reaktion, was in aller Regel bedeutet, dass eine andere Äu­ßerung provoziert wird. Wenn das rechte Publikum dem populistischen Führer attestiert, er spreche »unsere Sprache« oder vermeintlichen Klartext, so erscheint dies als Zustimmung nicht nur für bestimmte Aussagen, sondern auch für die Art der Äußerung.

Es gibt zwar eine Schnittmenge von Aussage und Sprechakt, aber auch einen offensichtlichen Ausschluss. Wenn Aussagen mit Sprechakten konfrontiert werden, ist ein kommunikatives Chaos hochwahrscheinlich. Umgekehrt scheinen semantische Transformationen einen »Klartext« zu erzeugen, der nicht mehr ein Instrument der Kommunikation, sondern ein Teil der Identi­tät ist. Die politische Behauptung, die Denunziation, das Versprechen, die Drohung, die Deutung, die Beschwörung, all dies bekommt seine Bedeutung in der politischen Öffentlichkeit durch die Art der Äußerung. Wenn ein rechter Hetzer unbekümmert pure Erfindungen, verdrehte Fakten und Banalitäten mit seinen Hass­parolen mischt, dann glauben seine Anhänger:innen nicht an seine Aussagen, sondern an seine Äußerungen.

Wenn man also die Kritik als Wesen des Fortschritts, die moralische Empörung als Regression und Rückschritt betrachtet, so ist die (politische) Scharlatanerie der Ausstieg aus dieser Beziehung. Statt die Geschichte von einer der beiden Seiten aus zu interpretieren, wird sie durch eine andere Erzählung ersetzt. Das funktioniert, insofern die beiden anderen, die progressive wie die konservative, nicht mehr helfen oder ihre ­Verbindlichkeit verloren haben. So wie er die Wirklichkeit nicht leugnet, sondern in eine eigene Erzählung überführt, belügt der Scharlatan seine Zuhörer:innen nicht einfach, sondern versetzt sie in einen Zustand der kulturellen, emotionalen und rationalen Kindheit (zurück). Er spricht in ihnen das an, was er dann in seinen Erlösungsprojektionen verheißen kann: die Rückkehr in ein Vorher, in dem alles groß, geordnet und sym­biotisch war.

Das Reich, das der Scharlatan verspricht, ist in Wahrheit ein Reich der ewigen Kindheit. Wenn der Scharlatan die Menge seiner Zuhörer:innen in den Zustand kollektiver Gläubigkeit versetzt, dann versetzt der politische Scharlatan die seinen erst einmal in den Zustand kollektiver Subjekthaftigkeit. Man erklärt sich zum Subjekt der Erzählung, die der Scharlatan anbietet. Derjenige, der überzeugt werden soll, muss zuerst ergriffen sein. Der Trick des Scharlatans besteht darin, vor sein finales »du musst« ein enthemmtes »du darfst« zu setzen. Immer kommt das Befreiende vor dem neuen Zwang; immer die lustvolle Zerstörung der alten (bürgerlichen) Erzählung vor der Konstruktion der neuen (faschis­tischen) Erzählung. Und seine Geschichte ist so verführerisch, weil die Zuhörer:innen darin zu den Helden werden, zu kollektiven Helden – die Massen, die einfachen Leute, die ­jeweilige Nation, und endlich: das Volk.

Dieses Empfinden, zum Volk zu gehören, ist, wie die Angst und wie der Wunsch nach Erlösung und Belohnung, nicht erst erzeugt, sondern schon vorher da. »Das Volk« ist eine symbolische Wirklichkeit, die der Scharlatan in seine Erzählung übersetzt. Ein archaischer Zustand, der nie wirklich überwunden wurde: Die Menschen in einem Königreich, einem Staat, einer Nation, sind immer beides zugleich – Volk und Gesellschaft. Das Volk als ein (vages, aber tief reichendes) System von Elementen der Zugehörigkeit: die Sprachen, die kulinarischen und sexuellen Codes, die Religion, die Weltanschauung, die Gebräuche, die Erinnerungen und, nicht zuletzt, die Erzählungen; und die Gesellschaft als Projekt eines politisch-ökonomischen Regelwerks mit kultureller Kom­munikation, das als work in progress mehr oder weniger sensibel auf alle äußeren und inneren Reize reagiert.

Bild:
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Ein wenig Volk und ein wenig Gesellschaft zu sein, ist die ideale ­Lebenssituation für den Bürger und die Bürgerin, jedenfalls in guten und ruhigen Zeiten. Volk und Gesellschaft sind dialektisch miteinander verbunden. Nicht nur ist das eine aus dem anderen entstanden und trägt es daher in sich. Viel mehr noch ist die Praxis des Lebens zwischen Eigennutz und Obrigkeit auf die Synthese von beidem angewiesen. In einfachen Metaphern stellt man es sich dann etwa so vor, dass man als Volk »empfindet« und als Gesellschaft »entscheidet«: dass man (sich) als Volk »fühlt« und als Gesellschaft »spricht«. Gesellschaft ist auf die Übersetzung von allem, was sich entscheiden muss, in eine rationale Sprache und einen mehr oder weniger wissenschaftlich grundierten common sense angewiesen; Volk ist umgekehrt auf einen Grad an Regression und Mythos angewiesen.

Tatsächlich gibt es weder das reine Volk noch die reine Gesellschaft. Aber gewiss kann man sehr große Unterschiede in jeder Form von Selbstvergewisserung und Kollektivierung ausmachen: Der liberale Teil des Bürgers will mehr Gesellschaft, der konservative mehr Volk, der universalistische und der nationalis­tische Teil haben natürlich ihre entsprechenden weltanschaulichen ­Bezugspunkte. Als Volk erkennt man die Heimat als seine Welt, als Gesellschaft die Welt als seine Heimat. Daran zeigt sich, dass der Widerspruch nicht etwa auf ein simples Rechts-links-Schema heruntergebrochen werden kann: Noch der überzeugteste Kosmopolit trägt die Sehnsucht nach dem Volk in sich. Und beide, der revolutionäre wie der faschistische Bürger, wähnen sich als Anführer und »Diener« des Volks.

Die dialektische Einheit von Volk und Gesellschaft bleibt indes immer prekär. Zu einem hohen Grad muss sie auch unaufgeklärt bleiben, da sie sich sonst als ewige Quelle von Krisen und Katastrophen entpuppen müsste, die man am Ende nicht einmal mit Gewalt verschließen kann. Der Widerspruch zwischen Volk und Gesellschaft führt zum tragischen Bewusstsein auch im demokratischen Staat. Wem steht Regierung vor und gegenüber: der Gesellschaft oder dem Volk? Die Interessen, die das Volk hat, sind nicht diejenigen, die die Gesellschaft hat, und die Interessen, die der Volksteil eines bürgerlichen Subjekts oder einer bürgerlichen Institution habt, sind nicht diejenigen eines gesellschaftlichen Teils.

Dieser Bruch wird schmerzhaft deutlich, wo es eine Hegemonie von Volk oder schließlich Völkischem gibt: Dem Volk scheint es gut zu tun, wenn es das »Fremde« ausschließt. Wer ganz und gar Volk sein will, kann gar nicht anders, als in den Ruf »Ausländer raus!« einzustimmen. Für die Gesellschaft ist dieses Verhalten ein immenser Schaden, denn es fehlen schließlich die benötigten Arbeitskräfte, es könnten Märkte sich verschließen und nicht zuletzt wird eine fundamentale kulturelle Verarmung beziehungsweise eine allgemeine Blödheit erzeugt.

Der Trick des Scharlatans besteht darin, vor sein finales »du musst« ein enthemmtes »du darfst« zu setzen. Immer kommt das Befreiende vor dem neuen Zwang; immer die lustvolle Zerstörung der alten (bürgerlichen) Erzählung vor der Konstruktion der neuen (faschistischen) Erzählung.

Konservative würden behaupten, dieser Umschlag ins Völkische bei einer Mehrheit, insbesondere auch bei Jugendlichen, in einem demokratischen Staat, habe auch damit zu tun, dass zuvor das Gesellschaftliche sich zu dominant verhalten habe, zu viel Soziales, zu viel Toleranz, zu viel Fortschritt und Veränderung et ce­tera gefordert habe. Aber ganz offensichtlich ist das nicht mit der ein­fachen Pendelbewegung, die so gern als Metapher verwendet wird, zu ­erklären: Das Volk beziehungsweise der Volksteil des bürgerlichen Subjekts sieht sich aus anderen Gründen in Gefahr und wird auf diese Weise zum Opfer der Scharlatane, die ihm die andere, die eigene Erzählung versprechen. Die Krise des Gesellschaftlichen treibt den ambivalenten Bürger zum Völkischen. Volk und Gesellschaft brechen auseinander und führen, semantisch wie politisch, einen Kampf miteinander.

Wenn sich der österreichische Rechtsextremist Herbert Kickl als »Volkskanzler« anbietet, heißt das ziemlich eindeutig, dass er eben nicht eine Gesellschaft, sondern ein Volk regieren will. Das Volk und die Zivilgesellschaft sind die beiden politischen Subjekte, die vordem sozu­sagen im Untergrund, nicht zuletzt in der Kultur und in der medialen Öffentlichkeit um Hegemonie und um Zuwendung (des Staates, der ­Regierung) konkurriert haben, und die sich nun gleichsam den offenen Krieg erklärt haben, auch weil sich der demokratische Staat zu beidem als unfähig erwies: zwischen beiden zu moderieren oder sich für eine der beiden zu entscheiden.

Aus der Institution, die beide miteinander verbinden sollte, wurde eine, die von beiden gefordert wird. Die demokratischen Parteien in Deutschland etwa, die versuchen, durch Kompromisse das prekäre ­Geflecht von Volk und Gesellschaft aufrechtzuerhalten, verstärken den Gegensatz noch, die einen bewusst, die anderen aus der Dynamik der Selbstverblödung heraus. Erst war es »das Volk«, das sich von »seinem« Staat im Stich gelassen fühlte und moralisch empört reagierte; nun ist es die Zivilgesellschaft, die sich von ihrem Staat im Stich gelassen fühlen muss und deren rationale Kritik auf taube Ohren trifft.

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Mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus:


Buchcover

Georg ­Seeßlen: Trump & Co. Der un/aufhaltsame Weg des Westens in die Anti-Demokratie. Bertz und Fischer, Berlin 2025, 240 Seiten, 18 Euro