Deutsche Doppelstandards
Der Saal 4 im Berliner Haus der Bundespressekonferenz ist eher klein. Er fasst ein Podium und zwei Reihen Tische. Zehn Minuten vor Beginn der Pressekonferenz stehen bereits mehrere Kameras, der Andrang der Journalisten hält sich aber noch in Grenzen. Die Veranstaltung wurde kurzfristig anberaumt, ihr Anlass ist erst wenigen Stunden alt: Sieben Antifaschist:innen, nach denen seit zwei Jahren im Zusammenhang mit dem sogenannten Budapest-Komplex gefahndet wurde, haben sich an diesem Montagmorgen den deutschen Behörden gestellt.
In Begleitung ihrer Verteidigerinnen waren die jungen Erwachsenen im Alter zwischen 21 und 27 Jahren überraschend in Polizeistationen in Bremen, Hamm, Köln und beim Amtsgericht Kiel aufgetaucht. Sie sollen noch im Laufe des Tages zur Haftprüfung an den Bundesgerichtshof in Karlsruhe überstellt werden. Gegen sie liegen ungarische und europäische Haftbefehle vor, der Vorwurf lautet Körperverletzung. Die Taten sollen sich bei dem Neonazi-Aufmarsch »Tag der Ehre« im Februar 2023 in Budapest ereignet haben. Auch wird den Antifaschist:innen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.
»Es besteht keine Fluchtgefahr und damit keine Notwendigkeit einer Untersuchungshaft.« Die Mutter einer Beschuldigten
Thomas Uwer vom Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen begrüßt das Publikum. Er selbst habe mit den Vorgängen nichts zu tun, wurde als Externer für die Moderation angefragt. »Ich mache das gerne«, sagt er. Denn im Umgang mit den Beschuldigten sehe er »erhebliche rechtsstaatliche Defizite, die weit über das Verfahren hinausweisen«. Einer seiner großen Kritikpunkte: Im Juli hatten deutsche Behörden die Mitbeschuldigte Maja T. in einer »Nacht-und-Nebel-Aktion«, wie ihre Anwälte kritisieren, nach Ungarn überstellt und damit Fakten geschaffen, statt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Eilantrag der Verteidigung abzuwarten.
Zu Uwers Linker sitzt die Rechtsanwältin Giulia Borsalino. Sie gehört dem zwölfköpfigen Anwaltsteam an, das die Aufgetauchten vertritt. Dass ihre Mandanten sich nicht früher gestellt hätten, liege an der Bundesstaatsanwaltschaft, sagt Borsalino. Bereits 2023 hätten die sieben ihre Bereitschaft erklärt, sich zu stellen, sollte die Staatsanwaltschaft ihnen garantieren, dass keine Auslieferung nach Ungarn drohe. Doch die »hatte Gespräche bisher rundheraus abgelehnt«.
Gemeinsam koordinierte Aktion
Diejenigen, die sich am Montag in einer gemeinsam koordinierten Aktion gestellt haben, »taten dies in dem Wissen, dass sie in Deutschland mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert würden und ihnen vielleicht sogar die Auslieferung nach Ungarn droht«, sagt Borsalino. »Die Mandantinnen wollen sich dem Verfahren stellen und sich gegen die Vorwürfe verteidigen«, sagt sie und betont: »Es gilt die Unschuldsvermutung.« Auch Maik Elster, einer der beiden Verteidiger von Maja T., warnt: »Die Auslieferung nach Ungarn ist keine abstrakte Gefahr.«
Drei Mütter der Gesuchten sind auf dem Podium. »Heute ist kein einfacher Tag für uns«, beginnt eine ihre Erklärung, denn was jetzt komme, sei ungewiss. Die Furcht der Mütter vor einer Auslieferung ihrer Kinder nach Ungarn ist groß. Aber sie sei »froh über diesen Schritt«, sagt eine stellvertretend für alle drei, den ihre Kinder – das betonen sie – freiwillig gegangen seien.
»Unsere Kinder sorgen damit für eine Deeskalation der Situation. Es zeigt, es besteht keine Fluchtgefahr und damit keine Notwendigkeit einer Untersuchungshaft. Sollte dieses aus unserer Sicht starke Zeichen mit einer Auslieferung nach Ungarn beantwortet werden, wäre das eine Kapitulation des Rechtsstaats Deutschland vor der autokratischen Willkür Ungarns.«
Einschüchterungsversuche durch die Polizei
Zwar beteilige sich Deutschland an EU-Verfahren gegen Ungarn, bei denen es um die Beanstandung rechtsstaatlicher Defizite gehe – »da ist Deutschland immer sehr offensiv mit dabei«, sagt Maja T.s zweiter Anwalt, Sven Richwin. »Aber im Kleinen läuft es ganz anders. Dann arbeiten insbesondere die Ermittlungsbehörden von Deutschland und Ungarn sehr gut zusammen.« Deutschland kritisiere Ungarns Justiz, »aber man möchte trotzdem von den Ergebnissen profitieren, die unter den Bedingungen dort erlangt werden«. Eine der Mütter ergänzt: »Ich bin in Budapest aufgewachsen. Auf den Straßen sah ich die Plakate, auf denen stand: ›Wir tanzen nicht, wie Brüssel pfeift.‹«
Durch das Fehlen ihrer Kinder seit fast zwei Jahren seien ihre Leben aus den Fugen geraten, berichten die Eltern. Und sie erzählen von Einschüchterungsversuchen durch die Polizei. So habe das SEK bei einer Hausdurchsuchung den Vater ohne ersichtlichen Grund und vor den Augen seiner Kinder nackt in den Hinterhof verbracht. Aber sie ließen sich nicht einschüchtern, sagen die Mütter, die Eltern hätten sich umso stärker zusammengeschlossen.
Der Umgang Frankreichs und Italiens mit ihren im selben Fall beschuldigten Staatsbürgern scheint den Eltern recht zu geben. Eine Auslieferung an Ungarn lehnen die Behörden beider Länder bisher ab.
»Was wir für unsere Kinder fordern, sollte jedem Menschen zustehen«, sagt eine Mutter: »Beachtung der Grund- und Menschenrechte und ein rechtsstaatliches Verfahren vor einer unabhängigen Justiz.« Für einen Moment bricht ihre Stimme und sie kämpft merkbar mit den Tränen. »Wir stehen fest an der Seite unserer Kinder.« Borsalino berichtet, der Bundesjustizminister habe die Frage der Auslieferung in immer gleich lautenden Reaktionen auf ihre Anfragen als eine rein juristische dargestellt; doch darin, dass es sich vielmehr auch um eine politische Frage handle, sind sich alle einig. Der Umgang Frankreichs und Italiens mit ihren im selben Fall beschuldigten Staatsbürgern scheint den Eltern recht zu geben. Eine Auslieferung an Ungarn lehnen die Behörden beider Länder bisher ab.
Die breite öffentlich Aufmerksamkeit, die das Thema auch über die politischen Lager hinweg in Italien bekommt, findet Richwin bemerkenswert. Vergleichbares sei für die Angeklagten in Deutschland bisher ausgeblieben. Aber in persönlichen Gesprächen erführen die Eltern immer wieder Zustimmung zu ihren Forderungen. »Wir glauben, die Öffentlichkeit ist das einzige Mittel, das wir haben, um eine Auslieferung an Ungarn zu verhindern.«