23.01.2025
Timm Graßmann, Marx-Experte, im Gespräch über sein Buch »Marx gegen Moskau«

»Bonapartismus im Westen, Zarismus im Osten«

Die Arbeiterklasse müsse zu außenpolitischen Fragen Partei ergreifen, meinte Karl Marx, und zwar grundsätzlich nach republikanischen und antiautoritären Prinzipien. Besonders das Expansionsstreben Russlands wollte er zeit seines Lebens bekämpfen. Ein Gespräch mit dem Marx-Experten Timm Graßmann, der dafür plädiert, das politische Denken von Marx neu zu entdecken.

Sie schreiben in ihrem Buch, Karl Marx sei ein »regelrechter Polen­aktivist« gewesen. Wie hat das ausgesehen?
Polen-Litauen war Ende des 18. Jahrhunderts unter Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt worden und wurde seitdem von diesen Mächten mit militärischer Macht beherrscht. Marx setzte sich eigentlich sein Leben lang für die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates ein: Er nahm regelmäßig an entsprechenden Solidaritätskongressen teil, unterstützte Exilpolen und polnische Nationalaktivisten und forderte Dinge wie Russland von der Londoner Börse auszuschließen.
Er verkehrte mit Persönlichkeiten wie Joachim Lelewel, von dem wahrscheinlich das berühmte Motto der polnischen Nationalbewegung »Für unsere und eure Freiheit« stammt, das man heute wieder bei proukrainischen Demons­trationen hört. Diese Leute waren nicht unbedingt Sozialisten, aber sie wollten auch nicht die alte polnische Adelsrepublik zurück. Es ging um die politische Emanzipation der polnischen Arbeiter und Bauern in einer unabhängigen Republik.

Warum war für Marx gerade der polnische Nationalismus so wichtig?
Bei einer Gedenkfeier für den polnischen Aufstand von 1863 in London, an der auch ehemalige Pariser Kommunarden teilnahmen, hat Marx einmal seine Beweggründe erläutert. Zunächst war es die allgemeine Unterstützung »für ein unterjochtes Volk«: Nur wenn Polen wieder unabhängig werde, könne es »an der sozialen Umgestaltung Europas selbständig mitwirken«, so Marx. Solange es besetzt sei, bleibe »sein inneres Leben paralisiert« und es sei »unfähig, für die soziale Emanzipation zu arbeiten«.

»Karl Marx kritisierte immer wieder, dass besonders Großbritannien dem russischen Expansionsstreben nicht entschlossen genug entgegentrat.«

Als Beispiele für so einen Zustand nennt er Irland oder Russland unter der ein Vierteljahrtausend währenden mongolischen Herrschaft. Bei Polen kam aber noch ein besonderer Aspekt hinzu: die Lage als von den drei großen Militärdespotien Österreich, Preußen und Russland unterdrückte Nation. Besonders dem Expansionsdrang Russlands, aber auch den deutschen Ambitionen in Osteuropa würde ein unabhängiges Polen einen Riegel vorschieben, meinte Marx. Die Bedeutung von Polen war für ihn auch eine Lehre aus der Revolution von 1848/49. Damals unterdrückten preußische Truppen in Posen einen Aufstand, wodurch Russland den Rücken frei hatte, um seinerseits Truppen nach Ungarn zu schicken, die dort die Revolution niederschlugen.

Liest man Ihr Buch, ist man erstaunt darüber, wie wichtig für Marx die Opposition zum russischen ­Expansionismus war. Warum maß er Russland diese Bedeutung zu?
Damals waren vor allem zwei Mächte entscheidend in der Welt: England und Russland, und Russland hatte erklärtermaßen das Ziel, dass die Zukunft der Menschheit nicht demokratisch sein solle und schon gar nicht sozialistisch, sondern weiterhin geprägt von absoluter Herrschaft, kirchlicher Dominanz und traditionellen Werten. Das Russische Reich expandierte zu Marx’ Lebzeiten nicht nur in Osteuropa, sondern auch im Kaukasus, in Zentralasien, in Ostasien bis nach Japan. Marx beschreibt diesen Expansionsdrang als eine prinzipiell endlose Bewegung, ein Streben nach Weltherrschaft.

Aber England eroberte ebenfalls ein riesiges Weltreich. Wieso stand Marx der russischen ­Expansion so viel nega­tiver gegenüber?
Bei Marx gibt es eine Entwicklung, was seine Sicht auf den britischen Kolonialismus angeht. In den fünfziger Jahren war er zwar nicht unbedingt prokolonial, aber Großbritannien war für ihn der Träger der bürgerlichen Gesellschaft, der diese zum Beispiel in Indien etablierte. Mit der Zeit wird Marx kritischer und beginnt etwa, die irische Unabhängigkeit zu unterstützen. Und er bekommt ein größeres Bewusstsein für die destruktiven Folgen der Kolonialherrschaft, beispielsweise durch die Hungersnot in Indien von 1866. Damals starben in Indien circa eine Million Menschen, unter anderem auch weil Großbritannien Schutzmechanismen der vorherigen Wirtschaftsweise wie Preiskontrollen abgeschafft hatte.
Im russischen Expansionismus sah Marx von Anfang an kein »zivilisierendes« Moment. Die Briten schufen, dachte Marx zunächst, unbewusst die Bedingungen für ein unabhängiges Indien, Russland dagegen zerstörte ihm zufolge bestehende politische Einheiten und hemmte ihre Entwicklung. Marx sah Russland zwar in einer Art Underdog-Rolle gegenüber der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft im Westen, aber das war kein Grund, für es Partei zu ergreifen. Vielmehr kritisierte er immer wieder, dass besonders Großbritannien dem russischen Expansionsstreben nicht entschlossen genug entgegentrat, und er warnte davor, dass Russland versuche, die westliche Politik zu manipulieren. Er witterte ständig prorussische Intrigen und Korruption.

Marx wollte also, dass Großbritannien den Konflikt mit Russland sucht?
Marx’ Kritik an der westlichen Außenpolitik war gerade, dass diese herzlich wenig dafür tat, Demokratie und Freiheit in der Welt zu garantieren, auch nicht im beschränkten bürgerlichen Sinne. Den Verrat des Westens an der Demokratie in Osteuropa bedachte er immer wieder mit beißender Kritik. Die westliche Außenpolitik hatte eher eine vage Stabilität der internationalen Ordnung zum Ziel, ein Gleichgewicht zwischen den Großmächten.

Das sieht man ja auch heutzutage oft.
Ja, man denke nur an den Sturz von Bashar al-Assad. So richtig gefreut hat sich in der EU darüber ja kaum jemand. Es herrschte vor allem die Sorge darüber vor, was kommen könnte. ­Assad war vor seinem Sturz im Begriff, rehabilitiert zu werden, Giorgia Me­loni und Viktor Orbán hatten schon die Hand ausgestreckt.

Die Außenpolitik der Arbeiterklasse
»Wenn die Emanzipation der Arbeiterklassen das Zusammenwirken verschiedener Nationen erheischt, wie jenes große Ziel erreichen mit einer auswärtigen Politik, die frevelhafte Zwecke verfolgt, mit Nationalvorurteilen ihr Spiel treibt und in piratischen Kriegen des Volkes Blut und Gut vergeudet? Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heroische Widerstand der englischen Arbeiterklasse gegen ihre verbrecherische Torheit bewahrte den Westen Europas vor einer transatlantischen Kreuzfahrt für die Verewigung und Propaganda der Sklaverei. Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheueren und ohne Widerstand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa, haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen.
Der Kampf für solch eine auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse.
Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
Aus der von Karl Marx verfassten Inauguraladresse der Internationalen ­Arbeiter-Assoziation (Erste Internationale), gegründet am 28. September 1864 in London 

Marx meinte also, die Arbeiterklasse sollte sich dagegen wenden, wenn die bürgerliche Außenpolitik emanzipatorische Bestrebungen in anderen Ländern verrät?
Was Polen betraf, hatte Marx zum Beispiel wenig Hoffnung auf die Liberalen in Westeuropa. Deshalb sollte in seinen Augen die Arbeiterklasse ihre Macht einsetzen, um die herrschenden Klassen im Westen zu einer besseren Polen-Politik zu bewegen. Ein ähnlicher Fall war der Bürgerkrieg in den USA. Damals gab es in Großbritannien Überlegungen, zugunsten der Südstaaten zu intervenieren, weil die Seeblockade der Nordstaaten die britische Industrie von Baumwollimporten abschnitt, was in Großbritannien zu geschlossenen Fabriken und Arbeitslosigkeit führte. In seinem Brief an Abraham Lincoln betonte Marx stolz, dass die britische Arbeiterklasse Druck auf die eigene Regierung ausgeübt hatte, nicht für die Südstaaten zu intervenieren, obwohl sie selbst ökonomisch unter der Blockade litt.

Das erinnert an die heutigen Debatten über die Russland-Sanktionen …
Für Marx war jedenfalls klar, dass es für die Arbeiterklasse gewisse übergeordnete Anliegen gab: die Vereinigung der Arbeiterklasse zu ermöglichen, Spaltungen der Arbeiterschaft zu bekämpfen und ihr an jedem Ort die Möglichkeit zum Zusammenschluss zu geben. In diesem Fall hieß das, die ­Abschaffung der Sklaverei zu unterstützen. Marx’ Schlussfolgerung war, dass die Arbeiterklasse eben auch das Feld der internationalen Politik beherrschen müsse, konträr zum heute populären Motto »Der Hauptfeind steht im eigenen Land«. In der Internationalen Arbeiter-Assoziation setzte er sich immer wieder dafür ein, in außenpolitischen Fragen zu intervenieren – zum Beispiel für die Unabhängigkeit Polens.

Aber warum setzte sich Marx wie im Falle Polens oder der USA für Republiken ein, wenn das eigentliche Ziel doch war, die bürgerliche Herrschaft abzuschaffen?
Die Wertschätzung für Republik und Demokratie zieht sich durch bei Marx. Im »Manifest der Kommunistischen Partei« spricht er anerkennend über den modernen Repräsentativstaat, den die Bourgeoisie gegen den Absolutismus erkämpft hatte. Durch die Form der Republik wurde die absolute Staatsgewalt eingeschränkt und es gab eine Sphäre der Öffentlichkeit, in der es möglich war, eigene Interessen zu formulieren und zu vertreten. Klassenkämpferisch gedacht erlaubt das der Arbeiterklasse, sich zu organisieren.

»Die Erfahrungen des 20. Jahr­hunderts haben Marx’ Kritik der autoritären Herrschaft bestätigt und gezeigt, wozu die entfesselte Staatsgewalt in der Lage ist.«

Klar, Marx kritisierte den Parlamentarismus als eine Veranstaltung der bürgerlichen Klasse, er wollte mehr als nur politische Emanzipation und letztlich das Staatswesen überwinden. Aber er hielt nicht wenig davon, was er im »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« die »liberalen Konzessionen« nennt, die der Staatsgewalt ab­gerungen worden waren – und die dann in Frankreich durch den Staatsstreich von Louis Bonaparte über Nacht wieder einkassiert wurden. Deshalb war die Opposition zum autoritären Staat für ihn so wichtig. Marx zog dabei Parallelen zwischen dem Bonapartismus in Frankreich und der Autokratie in Russland.

Was war seine Haltung zu von bürgerlichen Staaten geführten Kriegen?
Marx und Engels waren da wenig zimperlich, schon der Amerikanische Bürgerkrieg, in dem sie dazu aufriefen, den Norden zu unterstützen, war ja sehr blutig. Aber Marx war kein Kriegstreiber. Er wollte vielmehr, dass man über die Bedingungen nachdenkt, ­unter denen Frieden wirklich möglich wäre. Eine solche Bedingung war für ihn die Vereinigung der Arbeiterklasse über Ländergrenzen hinweg. In dem Sinn ist er Kriegsgegner. Aber angesichts von Kriegen war er kein abstrakter Pazifist, sondern ergriff Partei, und zwar grundsätzlich nach republikanischen und antiautoritären Prin­zipien. Und immer wieder forderte er, man müsse Russland zurückschlagen, um dessen Expansionsdrang zu stoppen. So sieht er auch die Unabhängigkeit Polens: als Schranke gegen die Aggressionen des russischen Imperialismus.

Also »Frieden durch Stärke«?
Zumindest nicht durch Kapitulation. Gäben alle die Waffen ab, würde kein Frieden herrschen, sondern Russland Europa erobern, sagte Marx wortwörtlich. Er kritisierte deshalb die »peacemonger« in der westlichen Bourgeoisie wie auch in der Linken.

Wie wurden seine außenpolitischen Positionen in der Linken aufgenommen?
Marx hatte immer wieder Schwierigkeiten, seine außenpolitischen Positionen in der Internationalen Arbeiter-Assoziation durchzusetzen, und bei keinem Thema gab es mehr Widerstand als bei seiner Unterstützung für Polen. Die Diskussionen erinnern oft an die, die heute über den Krieg gegen die Ukraine geführt werden. Beispielsweise argumentierten einige Sozialisten gegen Marx, Außenpolitik an sich sei ein Ablenkungsmanöver der herrschenden Klassen des eigenen Landes; man solle lieber die eigenen Regierungen bekämpfen, anstatt sich glauben machen zu lassen, dass man auch einen äußeren Feind habe. Andere lehnten es ganz ab, zu Fragen wie der polnischen Unabhängigkeit Position zu beziehen, sie wollten ausschließlich die soziale Frage diskutieren und in politischen Konflikten aus Prinzip eine Äquidistanz wahren.
Marx kritisierte diese »politische Indifferenz«. Heute sieht man das beispielsweise bei Rätekommunisten, die fordern, sich nicht mit dem Verteidigungskampf des ukrainischen Staats gegen die russische Invasion gemein zu machen, oder Defätismus predigen, als ob unter russischer Besatzung die Chancen für den Klassenkampf besser stünden.

Auch mit einem antiwestlichen Antiimperialismus schlug sich Marx schon damals herum?
Die meisten von Marx’ Gegnern im eigenen Lager ergriffen nicht direkt Partei für Russland, aber auch das gab es. Eine Entdeckung bei meiner Recherche war, dass es eine zweite Kontroverse zwischen Marx und Bruno Bauer gab, die dann von dem Krim-Krieg und Russland handelte. Bauer, der frühere Linkshegelianer und Religionskritiker, hatte die Vorstellung entwickelt, dass die gesamte westliche Zivilisation untergehen müsse, ehe sich in der Welt etwas zum Besseren verändern könnte, und in der russischen Macht sah er das geeignete Instrument dazu, weshalb er Russlands Vordringen im Krim-Krieg begrüßte.
Russland erschien vielen damals als un- oder gar antikapitalistisch, deshalb gab es die Sympathien lagerübergreifend: Westeuropäische Konserva­tive sahen in Russland ein Vorbild und einen Ausgangspunkt für eine rechte Neuordnung Europas, Liberale in den USA einen möglichen Verbündeten, um Englands Hegemonie zu brechen. Aber Marx passt auch nicht einfach in ein prowestliches Schema: Er kritisierte die westliche Außenpolitik ebenso und wendete sich gegen Rückfälle aus der Republik in den Autoritarismus.

Besonders vehement ergriff Pierre-Joseph Proudhon gegen Polen Partei. Was leitete ihn dabei?
Bei ihm ging es viel um eine reflexhafte Ablehnung der Positionen der Liberalen, die eben unter anderem vorgaben, für die polnische Unabhängigkeit einzutreten. Wenn man aber so »querdenkt«, kann das nach hinten losgehen, weil die Liberalen wenigstens dem Anspruch nach versuchen, die absolute Gewalt auch international irgendwie einzuschränken, durch Regeln des internationalen Verkehrs und die Achtung der Souveränität kleiner Staaten beispielsweise.
Verwirft man das, landet man leicht beim Recht des Stärkeren. Proudhon etwa war folgerichtig Anhänger der Idee von den Einflusssphären der Großmächte. Polen gehörte für ihn zur russischen Einflusssphäre, die Teilungen von Polen-Litauen hielt er für gerecht. In der Konsequenz warf er dem polnischen Unabhängigkeitsstreben – nicht dem russischen Expansionismus – buchstäblich vor, den Weltfrieden zu gefährden.

Paradox wirkt allerdings, dass Marx den polnischen nationalen Befreiungskampf unterstützte, obwohl er die Überwindung von Nationen ­erwartete. Wurde das kritisiert?
Es war nicht nur Polen, Marx unterstützte beispielsweise auch die Unabhängigkeit von Irland. Nationen waren damals eben mit der Demokratie verbunden, obwohl nach Marx die ­politische Emanzipation nicht prinzipiell mit der Nation zusammenhängen muss. Antinational war zu dieser Zeit beispielsweise Proudhon, der argumentierte, dass die geschichtliche Phase der Nationenbildung schon vorbei sei, und wer es nicht rechtzeitig geschafft habe, habe eben Pech gehabt – auch so eine typische Arroganz der »fortgeschrittenen« Westlinken ­gegenüber Osteuropa. Aber vor allem war damals der real existierende Gegensatz zur Nation das Imperium. Marx schrieb deshalb an einer Stelle mal ironisch, auch der Zar arbeite ja an der Nationalitätenfrage, indem er versuche, die Krimtataren auszurotten.

»Ich glaube schon, dass die vergangenen Jahre gezeigt haben, dass sich die ukrainische Gesellschaft deutlich po­sitiver entwickelt hat als die russische, ganz davon zu schweigen, dass eine Besatzungsherrschaft jegliche Aussicht auf politische Entwicklung in der ­Ukraine abwürgen würde.«

Marx kritisierte aber auch Sozialisten, für die die politische Emanzipation und die Nation das Hauptziel geworden waren. Das ist bei Marx nicht der Fall, er denkt politische Emanzipation zwar als einen »großen Fortschritt«, aber zugleich auch eher strategisch und als eine Art Zwischenetappe, von der aus sich die Dinge weiterentwickeln können. Marx schreibt 1875 in der »Kritik des Gothaer Programms«, die demokratische Republik ist nicht das Ende der Geschichte, nicht »das tausendjährige Reich«, sondern da geht es erst los.

Eine Erwartung, an der festzuhalten heutzutage schwerer fällt.
Ich glaube schon, dass die vergangenen Jahre gezeigt haben, dass sich die ukrainische Gesellschaft deutlich po­sitiver entwickelt hat als die russische, ganz davon zu schweigen, dass eine Besatzungsherrschaft jegliche Aussicht auf politische Entwicklung in der ­Ukraine abwürgen würde.
Die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine ist mindestens schon mal ein Schritt weg von der Barbarei. Und wenn man heute die Ukraine aufgibt, wird man sich morgen Argumente dafür überlegen müssen, warum man auch das Baltikum, Moldau und Polen nicht verteidigen möchte.

Sie haben Ihr Buch unter dem Eindruck der russischen Invasion der Ukraine geschrieben. Bei allen Unterschieden zwischen dem damaligen und dem heutigen Russland: Hoffen Sie, dass die Beschäftigung mit Marx’ politischem Denken Linke dazu bewegen wird, für die Ukraine Partei zu ergreifen, wie Marx es mit Polen tat?
Wir müssen verstehen, dass es nicht ausreicht, einfach nur dem Kapitalismus den Kampf anzusagen. Die Er­fahrungen des 20. Jahrhunderts haben vielmehr Marx’ Kritik der autoritären Herrschaft bestätigt und gezeigt, wozu die entfesselte Staatsgewalt in der Lage ist. Vielleicht kann das Buch auch Marx’ Analysen des Bonapartismus in Erinnerung rufen. Trump droht jetzt damit, eine imperiale Außenpolitik zu betreiben, das wäre wie aus dem Lehrbuch. Bonapartismus im Westen, ­Zarismus im Osten – das war die Kon­stellation, die Marx in den 1850er Jahren vorfand, weshalb er diesen beiden Formen des autoritären Staats zu dieser Zeit eine eigene Untersuchung widmete. Eine Niederlage Putins in der Ukraine würde auch eine Schwächung der reaktionären Kräfte in der Welt bedeuten, die schließlich immer noch stark vom Kreml unterstützt werden.

*

Timm Graßmann vor einem beeindruckenden Bücherregal

Timm Graßmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Er ist der Autor von »Der Eklat aller ­Widersprüche: Marx’ Theorie und Studien der wiederkehrenden Wirtschaftskrisen« und »Marx gegen ­Moskau: Zur Außenpolitik der Arbeiterklasse«. 

Bild:
privat

*

Im Dschungel-Teil dieser Ausgabe findet sich ein Auszug aus Timm Graßmanns Buch »Marx gegen Moskau«.