Stas und Nastja hätten leben sollen
»Patriotismus als Diagnose« stand in glänzenden roten Buchstaben aus Klebeband auf dem großen schwarzen Plakat, gezeichnet mit »S. Markelow«. In der Silvio-Meier-Straße im Friedrichshain trafen sich am Sonntagnachmittag etwa 100 Antifaschist:innen zu einer Demonstration unter dem Motto »Erinnern heißt Kämpfen«. Die meisten von ihnen stammten aus Russland, viele waren nach Beginn der Invasion der Ukraine nach Deutschland gekommen.
Der Anlass war ein trauriger: Am 19. Januar 2009 wurden der 34jährige Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und die 25jährige Journalistin Anastasia Baburowa am helllichten Tag im belebten Zentrum Moskaus durch Kopfschüsse von einem Neonazi ermordet. Der Täter war Mitglied der Militanten Organisation russischer Nationalisten (Born), deren Anführer Verbindungen bis ins russische Präsidialamt hatte.
An verschiedenen Orten weltweit wird deshalb am 19. Januar der Opfer des russischen Faschismus gedacht. Dieses Jahr wurde auch an zwei aus Russland stammende Antifaschisten erinnert, die im jetzigen Krieg auf der Seite der Ukraine fielen: Dmitrij Petrow und Wladislaw Jurtschenko.
»Patriotismus als Diagnose«
Baburowa stammte von der Krim und begann gerade ihre journalistische Karriere bei der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta. Markelow verteidigte unter anderem die Familie einer tschetschenischen Frau, die während des Zweiten Tschetschenienkriegs 2000 vom russischen Offizier Jurij Budanow vergewaltigt und ermordet worden war. Sowohl Baburowa als auch Markelow engagierten sich in antifaschistischen Kreisen.
»Patriotismus als Diagnose« ist der Titel des letzten Artikels, den Markelow vor seinem Tod schrieb. »Unser Land hängt am Patriotismus wie ein Drogenabhängiger an der Nadel«, beginnt seine Abrechnung mit dem russischen Nationalismus. 16 Jahre später sind seine Worte aktueller denn je. Und perfiderweise stellt die russische Propaganda, die auch von vielen westlichen Linken nachgeplappert wird, die Realität auf den Kopf: Mit der »militärischen Spezialoperation« wolle man die Ukraine »entnazifizieren«.
»Bella Ciao«, russischer Hardcore-Punk und ein jiddischer Revolutionssong
Die Demonstration in Berlin begann mit einer kurzen Ansprache der Organisator:innen des Komitees 19. Januar in deutscher und russischer Sprache: »In Russland hat sich der autoritäre Neoliberalismus seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine in eine offene Terrorherrschaft verwandelt.« Politisch nicht konforme Menschen, Migrant:innen, Nichtruss:innen, Kriegsgegner:innen und queere Menschen würden immer stärker unterdrückt, verfolgt und angegriffen.
Der Demonstrationszug bewegte sich über die Rigaer Straße, wo er von einer kleinen Gruppe auf einem Dach mit Anarchismusflagge und Nebelkerzen begrüßt wurde. Aus dem Lautsprecherwagen ertönte ein wilder Musikmix aus »Bella Ciao«, russischem Hardcore-Punk (»Zusammen gegen den Faschismus«) und ein jiddischer Revolutionssong (»Daloy Polizei« – Nieder mit der Polizei), über den sich die Rufe der Demonstrant:innen legten.
Seinen russischen Pass habe er verbrannt, erzählt ein Antifaschist, der von der Krim stammt. Ein Demonstrant neben ihm meinte lachend, er habe dasselbe getan.
Sie schrien«Alerta Antifascista!«, »No fascism, no oppression, no Russian occupation« und »A-Anti-Anticapitalista«, das sie teilweise zu »A-Anti-Antiputinista« variierten. Auch russische (»Stas und Nastja hätten leben sollen!«) und ukrainische Losungen (»Freiheit, Gleichheit, Globale Solidarität!«) waren zu hören. Am Samariterplatz hielt der Demonstrationszug für eine Schweigeminute, bevor er zurück in der Silvio-Meier-Straße zu einem Ende kam. Benannt ist die Straße nach dem Antifaschisten, der 1992 auf dem U-Bahnhof Samariterplatz von Nazis ermordet wurde.
Es folgten Gespräche bei Kompott, Fertigkuchen und veganem Kakao aus dem Demowagen. Unter den Teilnehmenden waren die bekannte antirassistische Influencerin »Young Masha« und ein Literaturprofessor, die wie die meisten Teilnehmer:innen ursprünglich aus Russland stammen. Aber auch einige deutsche, ukrainische und belarussische Linke waren dabei. Einer der Organisatoren sagte der Jungle World, solche antifaschistischen Veranstaltungen seien wohl die einzigen Gelegenheiten, bei denen noch Menschen aus Russland, Belarus und der Ukraine zusammenkommen könnten. Andernorts, etwa im Universitäts- und Kulturbereich, sei das kaum noch möglich.
Kerzen und Blumen an der Plakette für Silvio Meier
Die Jungle World sprach auch mit Egor Alekseev, einem Antifaschisten aus der sibirischen Stadt Tomsk. Er war dort wegen des Posts eines angeblich extremistischen Videos im sozialen Medium Vkontakte 2017 angeklagt worden und nach Kiew geflohen. Nach der Großinvasion musste er die Ukraine verlassen. Er sagte, sein Schutzstatus hier sei prekär und er fürchte eine baldige Deportation. Neben ihm stand ein Antifaschist, der von der Krim stammt. Seinen russischen Pass habe er verbrannt, erzählte er. Ein weiterer Demonstrant neben ihm erwiderte lachend, er habe dasselbe getan.
Am Ende legten die Antifaschist:innen einzeln Kerzen und Blumen an der Plakette für Silvio Meier im U-Bahnhof Samariterstraße nieder. Daneben brachten sie Fotos der von russischen Neonazis Ermordeten an.