Die nützliche Lüge vom linken Hitler

»So links waren Hitler und die NSDAP wirklich.« Der erste Parteitag der nach einem zeitweiligen Parteiverbot neugegründeten NSDAP im Juni 1926 fand in Weimar statt, da Adolf Hitler in Bayern noch Redeverbot hatte. Vor dem erhöht stehenden Hitler marschieren SA-Verbände mit einem Transparent vorbei
Schon Adorno wusste: »Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.« Und Alice Weidel ist bekanntlich sehr deutsch. Als die AfD-Vorsitzende Anfang Januar im Gespräch mit dem US-Milliardär Elon Musk auf dessen Plattform X Adolf Hitler als »Kommunisten« bezeichnete, tat sie das aus voller Überzeugung: »Nationalsozialisten, wie das Wort schon sagt, waren Sozialisten«, sagte sie, Hitler habe sich schließlich »selbst als Sozialisten« bezeichnet. In der Talkshow »Maischberger« legte sie noch mal nach. »Hitler wurde im Nachkriegsdeutschland als Rechter gelabelt, was absolut falsch ist. Er war im Geiste ein Linker.«
Die Mär von Hitler als (linkem) Revolutionär wird nicht nur in den sozialen Medien gerne von Rechtsextremisten, zum Teil aber auch von Konservativen und Liberalen verbreitet, sondern wird auch im wissenschaftlichen Diskurs vertreten. Der revisionistischen Geschichtsschreibung dient diese Verdrehung nicht nur dazu, der Linken das größte Menschheitsverbrechen anzulasten. Es geht auch darum, zwischen Hitler und dem Nationalsozialismus auf der einen und den vermeintlich bürgerlichen Spielarten des Nationalismus auf der anderen Seite eine klare Trennlinie zu behaupten, um selbst unbeschwert an die deutsche Nation anknüpfen zu können.
Die Mär von Hitler als (linkem) Revolutionär wird nicht nur in den sozialen Medien gerne von Rechtsextremisten, zum Teil aber auch von Konservativen und Liberalen verbreitet, sondern wird auch im wissenschaftlichen Diskurs vertreten.
Einen frühen Versuch, Hitler aus der Tradition des deutschen Nationalismus zu lösen, unternahm der Historiker Rainer Zitelmann in seiner 1987 erschienenen Dissertation »Hitler – Selbstverständnis eines Revolutionärs«. Darin versucht Zitelmann, Hitler als Sozialrevolutionär darzustellen. Über die Jahrzehnte wurde diese Darstellung immer mal wieder bemüht, um zu beweisen, dass die neue deutsche Rechte nichts mit Hitler zu tun habe.
Erst im Herbst des vergangenen Jahres veröffentlichte die rechtskonservative Zeitung Jüdische Rundschau einen Artikel mit dem Titel: »Hitler – ein antikapitalistischer Revolutionär? Der NSDAP-Führer verstand sich nie als Rechter.« Als Kronzeuge wurde Zitelmann aufgerufen. In der Einleitung zu dem zweiseitigen Text des Autors Stefan Beig heißt es: »Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (wie viel mehr links braucht man eigentlich noch in seinem Namen) war zu Beginn eine linke Prekariatsbewegung und ein Sammelbecken besonders gegen Juden neiderfüllter und häufig gescheiterter Lebensverläufe.« Die Begriffe »national« und »deutsch« im Namen der NSDAP lässt der Artikel unter den Tisch fallen, schließlich geht es dem Blatt darum, den »bürgerlichen« Nationalismus vom Makel des Nationalsozialismus zu befreien.
Zitelmann versucht in seiner Dissertation, durch eine bloße Aneinanderreihung von Zitaten aus Hitlers »Mein Kampf«, aus dem zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskript, das unter dem Namen »Zweites Buch« firmiert, sowie aus Reden und Protokollen interner Besprechungen ein Bild von Hitler als revolutionärem Kämpfer zu zeichnen.
Der Historiker Peter Longerich hat ihn dafür im Jahr 1987 in einer Besprechung für Die Zeit kritisiert. Zitelmann nehme Hitlers Reden und Schriften allzu wörtlich und überschätze dabei »die Authentizität der in ›internen‹ Äußerungen Hitlers überlieferten Absichten«. Bei einer Interpretation Hitlers müsse »stets berücksichtigt werden, dass der Diktator gerade im Gespräch unter vier Augen ein virtuoser Überredungskünstler, ein Meister des Verstellens und Täuschens war«. Der völkische Nationalismus, der Judenhass und der Sozialdarwinismus sowie die Losung »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« sind dagegen eindeutig belegt.
Dass im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Vorstellungen die Volksgemeinschaft steht, der alles untergeordnet wurde, schrieb schon
der Politologe Franz Neumann 1942 in seinem Standardwerk zum Nationalsozialismus, »Behemoth«: »Mit der Atomisierung der unterworfenen Bevölkerung (und bis zu einem gewissen Grade auch der Herrschenden) hat der Nationalsozialismus indessen keineswegs die Klassenverhältnisse ›ausgemerzt‹, sondern im Gegenteil die Antagonismen vertieft und verfestigt.« Auf diese Struktur pfropfe der Nationalsozialismus zwei Ideologien auf: »die Volksgemeinschaftsideologie und das Führerprinzip«.
Geburtsstunde der völkischen Bewegung und ihr Antisemitismus
Hitler versuchte schon lange vor der »Machtergreifung«, mit der Unterstützung antidemokratischer Kräfte die Weimarer Republik zu stürzen. Am Abend des 8. November 1923 rief er im Münchner Bürgerbräukeller die »nationale Revolution« aus; zum »Marsch auf die Feldherrenhalle« (auch bekannt als »Hitler-Ludendorff-Putsch«) versammelten sich am folgenden Tag rund 2.000 Rechtsextremisten jeglicher Couleur. Für die Nationalsozialisten war es die wahre Geburtsstunde ihrer völkischen Bewegung.
Doch diese Kontinuität wird von Revisionisten seit jeher ebenso ausgeblendet und relativiert wie der Antisemitismus, der die völkische Rechte seit dem Kaiserreich vereinte. Es war der Ausspruch »Die Juden sind unser Unglück« des nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896), der zur alles bestimmenden Losung der nationalsozialistischen Herrschaft wurde und später auf den Titelseiten des antisemitischen Hetzblatts Der Stürmer prangte. In seiner berühmten Rede vom 30. Januar 1939 prophezeite Hitler schließlich, dass am Ende eines künftigen Krieges entweder die »Bolschewisierung der Erde« oder der »Untergang der jüdischen Rasse in Europa« stehen werde.
Die »Jungkonservativen« der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgten jedoch weiter das Ziel, Hitler geistesgeschichtlich zu entsorgen. Sie bezogen sich auf die von dem Schweizer Rechtsextremisten Armin Mohler kanonisierte »Konservative Revolution« der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts als eine Tradition, die vermeintlich nichts mit dem Nationalsozialismus gemein habe.
Wichtige Figur der Neuen Rechten
Auch Zitelmann blieb eine wichtige Figur der Neuen Rechten, der es darum ging, nach dem Vorbild der »nouvelle droite« in Frankreich eine »kulturelle Hegemonie« (Antonio Gramsci) von rechts zu begründen. Als Lektor des Ullstein-Verlags verantwortete Zitelmann zahlreiche revisionistische Titel, darunter Karl-Heinz Weißmanns »Rückruf in die Geschichte« (1992), Jörg Haiders »Die Freiheit, die ich meine« (1993) sowie den von den Welt-Redakteuren Ulrich Schacht und Heimo Schwilk herausgegebenen Sammelband »Die selbstbewusste Nation« (1994). Später war Zitelmann leitender Redakteur des Ressorts »Geistige Welt« der Tageszeitung Die Welt, wo er neurechte Autoren wie Weißmann zu Wort kommen ließ.
Heute schreibt Zitelmann, der Mitglied der FDP ist, Gastbeiträge im Focus. Dort kommentierte er auch das »Musk-Weidel-Gespräch«. Unter dem Titel »So links waren Hitler und die NSDAP wirklich« hebt er vor allem auf die Ökonomie ab, wenn er betont, Hitler habe Stalins Planwirtschaft bewundert.
AfD-Anhängern dürfte die verdrehte Geschichtsschreibung gefallen. Schließlich taugt der Nationalliberale Zitelmann auch heute noch als Stichwortgeber für diese Partei, deren Ziel ein »nationaler Wettbewerbsstaat auf völkischer Basis« ist, wie der Rechtsextremismus-Experte Helmut Kellershohn in einem Kommentar zum Grundsatzprogramm der Partei aus dem Jahr 2016 schreibt.
Der Geschichtsrevisionismus ist zentral für das Unterfangen, die deutsche Geschichte von der NS-Zeit zu befreien und sie im besten Fall den »Linken« in die Schuhe zu schieben.
Der »nationale Imperativ« (Kellershohn) wurde im Programm zur diesjährigen Bundestagswahl noch einmal verstärkt, indem unter dem Schlagwort »Remigration« eine »umfassende Rückführungsoffensive« für »ausreisepflichtiger Ausländer« angekündigt und ein »traditionelles« Familienbild als »Einheit von Vater, Mutter und Kind« postuliert wird. Auch die jüngsten Auftritte Weidels zeigen, dass sie sich inzwischen für die völkische Seite entschieden hat.
Der Geschichtsrevisionismus ist zentral für das Unterfangen, die deutsche Geschichte von der NS-Zeit zu befreien und sie im besten Fall den »Linken« in die Schuhe zu schieben. Nur so ist es für die AfD möglich, gemeinsam mit möglichst vielen »stolzen Deutschen«, geführt von einer national gesonnenen Elite, den nächsten Schritt in Richtung »selbstbewusster Nation« zu gehen.