06.02.2025
Juan Cuvi, Soziologe, im Gespräch über Korruption und Krise in Ecuador

»Wir leben mit einer Narco-Ökonomie«

Im Oktober 2023 gewann der wirtschaftsliberale Unternehmer Daniel Noboa die Präsidentschaftswahl in Ecuador. Da er nur die Amtszeit Guillermo Lassos beendet, der wegen einer schweren politischen Krise Neuwahlen ausgerufen hatte, sollen bereits am 9. Februar wieder Präsidentschaftswahlen stattfinden. Luisa González, die 2023 unterlag, tritt nun erneut gegen Noboa an. Sie gehört zum Lager des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa (2007–2017), eines Linkspopulisten, der im belgischen Exil lebt und 2020 wegen Korruption zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Die »Jungle World« sprach mit dem Soziologen Juan Cuvi über die anhaltende Krise, die Korruption und die Bedeutung der organisierten Kriminalität in Ecuador.

Am 9. Februar soll in Ecuador gewählt werden. Es gibt 16 Kandi­dat:in­nen, aber zwei scheinen die Sache unter sich auszumachen.
Ja, vieles deutet auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem amtierenden Präsidenten Daniel Noboa und Luisa González, der Kandidatin des Correísmo (Anhänger:innen des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa; Anm. d. Red.), hin. Trotzdem denke ich, dass die Würfel schon mehr oder minder gefallen sind und sich die politischen und ökonomischen Eliten mit weiteren vier Jahren unter Daniel Noboa arrangiert haben.

Hat Daniel Noboa ein Konzept, um das Land aus der anhaltenden und vielschichtigen Krise herauszuführen?
Schön wäre es. Ich bin der Meinung, dass es absehbar war, dass Daniel Noboa eine 14monatige Proberunde in der Präsidentschaft machen würde, da er letztlich nur das Mandat hatte, die Amtszeit von Guillermo Lasso zu beenden. Folglich war alles auf eine zweite Amtszeit ausgerichtet. Daraus hat Daniel Noboa kein Hehl gemacht und seine Politik, mit Ausnahme der Sicherheitspolitik, auch so angelegt. Ich denke, dass das dicke Ende nun erst kommt – wir werden es mit einer strikt neoliberalen Regierung zu tun haben.

Wie ist es zu erklären, dass so wenig Widerstand aus der Bevölkerung kommt?
Gute Frage. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte ging genauso wie das Ende der Benzinsubventionen geräuschlos vor sich. Das ist ein Phänomen und hat viel damit zu tun, dass Noboa Präsident einer neuen Generation ist. Er und seine Frau, eine Influencerin, die ihm viele Stimmen bringt, führen ein öffentliches Leben auf Tiktok und Instagram. Die beiden sorgen gemeinsam für die komplette Banalisierung des Politischen.
Ein Beispiel: Als an den Weihnachtstagen rund um Guayaquil nach den vier verschwundenen Minderjährigen aus dem Stadtviertel Las Malvinas gesucht wurde …

 … ihre Leichen wurden bald darauf gefunden, gegen 16 Militärangehörige wird ermittelt …
 … genau, da präsentierte Präsident Daniel Noboa seine Tätowierungen. Auch seine neuesten modischen Schuhe sind ein Tiktok-Thema. Was hier im Land passiert, tritt in den Hintergrund. Das finden viele Jugendliche cool, sie folgen Noboa in den sozialen Medien. Sie finden es gut, dass es einen jungen, modernen Präsidenten gibt, der seinen kolumbianischen Amtskollegen Gustavo Petro in Shorts empfängt. Da gehen Konventionen über Bord. Die jüngere Generation applaudiert, und er liegt in den Umfragen vorn.

»Präsident Noboa und seine Frau, eine Influencerin, führen ein öffentliches Leben auf Tiktok und Instagram. Die beiden sorgen gemeinsam für die komplette Banalisierung des Politischen.«

Obwohl er die versprochenen Arbeitsplätze nicht geschaffen hat?
Nun gut, er bedient sicherlich nicht alle Kreise der Jugend. Diejenigen, die Arbeitsplätze benötigen, hat er nicht bedient, das ist richtig. Aber er hat mehrere Tausend Stipendien für Student:in­nen geschaffen – ein Erfolg. Das verkauft sich im Wahlkampf sehr gut, und gemeinsam mit seiner Frau ist er in der Öffentlichkeit extrem präsent. Hier wird von vielen positiv gesehen, dass er zur Vereidigung von Donald Trump in die USA geflogen ist – also dabei war. Die Leute sehen Trump als politisch-ökonomisches Phänomen und erst danach als jenen, der die Migrant:innen aus den USA wirft.

Also gibt es so etwas wie Bewunderung?
Ja, das ist Teil der postmodernen Kultur, in der wir leben. Es ist ein Effekt der sozialen Medien, die immer wichtiger werden, und wir haben nun vier Präsidenten, die ohne diesen Effekt nicht zu erklären sind: Donald Trump, in Argentinien Javier Milei, in El Salvador Nayib Bukele und hier Daniel Noboa. Alle vier sind Produkte von Instagram, Tiktok und Co., gewinnen An­hänger:innen mit ihren banalen Botschaften, in denen sie sich so gern und oft feiern.

Sie beschäftigen sich mit Korruption. Hat sie die Gesellschaft durchdrungen?
Ja, daran besteht kaum ein Zweifel, denn in Ecuador sind die Staatsbediensteten Teil des Problems. Im Goldbergbau, der in großen Teilen des Landes oft illegal, teilweise mit betrügerischem Hintergrund konzessioniert wird, gibt es korrupte Strukturen. Das ist ein gravierendes Problem. Hinzu kommt, dass diese Strukturen ein Einfallstor für die organisierte Kriminalität sind. Heute kann man sich nie sicher sein, ob jemand auf der Lohnliste einer Bande steht, gar selbst einem Kartell angehört oder eventuell doch auf der anderen Seite steht. Wir durchleben eine extreme Situation, und hinter der organisierten Kriminalität steht viel Geld.

Kalkulationen von Kriminalexperten wie Fernando Carrión zufolge generieren die Kartelle mittlerweile rund 15 Milliarden US-Dollar jährlich an Umsatz in Ecuador, wobei rund sechs Milliarden US-Dollar auf den Drogenschmuggel und Verkauf entfallen, fünf Milliarden US-Dollar hingegen auf den illegalen Goldbergbau und die restlichen vier Milliarden auf Auftragsmorde, Erpressungen und Entführungen.
Ich halte diese Zahlen für konservativ geschätzt und denke, dass sie noch höher liegen, denn die Unternehmer des Landes sind eben auch oft involviert. Im Goldsektor, der hohe Exporte generiert, ist es unstrittig, dass die kleinen, illegalen Unternehmen an die großen halb- und ganz legalen Betriebe mit Konzessionen verkaufen und das Gold so ohne Kontrollen und oft auch ohne Besteuerung außer Landes geht. Das ist eine bittere Realität, denn die Situation hat sich in der Pandemie verschärft. Gerade ist im Finanzministerium ein weiteres korruptes Netzwerk aufgeflogen.

Wird Ihnen nicht angst und bange angesichts dieser Zustände?
Ja, durchaus, denn man muss auch die Morde an Bürgermeistern und Beamten durch die organisierte Kriminalität in den Kontext setzten. Viele wurden nämlich nicht ermordet, weil sie sich einer Zusammenarbeit verweigerten, sondern weil sie mit den Falschen gekungelt haben. Das ist Teil unserer schwierigen Realität, wir leben heute mit einer parallelen Ökonomie, einer Narco-Ökonomie, die als wichtiger Kunde akzeptiert wird. Ich gehe davon aus, dass bis zu 30 Prozent unserer Wirtschaftsleistung auf die organisierte Kriminalität entfallen.
Ein elementares Problem ist die Tatsache, dass unsere Führungsschichten in Lateinamerika extrem ignorant sind – in Guayaquil leben sie abgeschlossen in ihren gated communities, und wer es kann, fliegt am Wochenende nach Miami. Diese Leute sind so kurzsichtig, so egoistisch und unverantwortlich, dass sie nicht begreifen, dass sie letztlich auch ihre eigenen Lebensperspektiven gefährden.

Ecuador ist ein Land, das in der Verfassung der Natur Rechte zuerkannt hat. Werden sie eingehalten?
Leider nein. In den vergangenen Jahren haben der illegale, halblegale und auch der legale Goldbergbau in Ecuador rasant an Bedeutung gewonnen. Dazu hat das investigative Online-Magazin Plan B eine Reportage veröffentlicht, in der es der Frage nachgeht, wie das Gold exportiert wird, wer davon profitiert, welche Bedeutung illegale Unternehmen, also auch die Kartelle, haben und so fort. Der Schutz der Natur spielt derzeit in Ecuador kaum eine Rolle, es wird gefördert, ausgebeutet und kontaminiert. Den Recherchen zufolge spielt die organisierte Kriminalität dabei eine zentrale Rolle.

Werden Sie wählen?
Nein, denn ich sehe keinen glaubwürdigen Kandidaten. Selbst die indigene Partei Pachakutik hat für mich an innerer Vielfalt verloren, weshalb ich derzeit nicht daran glaube, dass ihr Kandidat Leonidas Iza mehr als fünf, sechs Prozent erhalten wird. Ein Achtungserfolg über fünf Prozent würde mich jedoch freuen.

Wie beurteilen Sie die Zukunft Ecuadors?
Wenig positiv, die Stimmung ist schlecht in Ecuador, wir haben gravierende Probleme. Der ganze Küstenabschnitt versinkt in Gewalt. In Städten wie Machala geht es um 18 Uhr nach Hause, aus Angst. Viele Menschen befürchten, dass sich die Gewalt in andere Landesteile ausbreitet, und zugleich ist die Auswanderung nicht mehr möglich. De facto kontrolliert das organisierte Verbrechen erste Regionen des Landes und niemand weiß, wie es weitergeht. Wir stehen damit nicht allein, denn auch in Honduras, in Guatemala oder Kolumbien sind die Verhältnisse extrem komplex. Wir stehen vor schweren Zeiten.

Ist Daniel Noboa da der richtige Mann?
Nein, aber es gibt keinen anderen.