An Deutschland erkranken
Nach jeder Gewalttat eines Flüchtlings wird stets nur die eine mögliche Lösung diskutiert: Abschiebung und Verschärfung des Asylrechts. Die Reaktionen nach dem grausamen Messerangriff eines ausreisepflichtigen Afghanen in Aschaffenburg waren dementsprechend erwartbar.
Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, wollte mit dem sogenannten Zustrombegrenzungsgesetz die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge drastisch reduzieren. Überraschend war in diesem Fall höchstens, dass Merz bereit war, seine Pläne mit Stimmen der AfD durchzusetzen, und dennoch im Bundestag scheiterte.
Für Merz’ Manöver gab es reichlich Kritik – doch an der grundlegenden Vorstellung, dass die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge drastisch reduziert werden müsse, halten alle Parteien fest; wenn auch mit unterschiedlicher Härte im Detail. Die Bundesregierung plant bereits, noch vor der Bundestagswahl, einen Abschiebeflug nach Afghanistan. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Für Merz’ Manöver gab es reichlich Kritik – doch an der grundlegenden Vorstellung, dass die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge drastisch reduziert werden müsse, halten alle Parteien fest; wenn auch mit unterschiedlicher Härte im Detail.
Der afghanische Attentäter war als psychisch krank bekannt. Damit ist er beileibe kein Einzelfall. Laut der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) haben 87 Prozent aller Flüchtlinge in Deutschland traumatisierende Ereignisse hinter sich und unterschiedliche Formen der Gewalt erlebt.
Rund 30 Prozent von ihnen leiden demnach unter depressiven Erkrankungen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung. Zu den Symptomen zählen häufig erhöhte Reizbarkeit oder Wutausbrüche sowie Übererregbarkeit. Ob die Gewalterlebnisse von Flüchtlingen zu einer ernsthaften Traumafolgestörung führen, hänge stark von den Lebensbedingungen nach der Flucht ab, schrieb die BAfF.
Soziale Isolation, Langeweile, Zukunftsangst
Wer nach Deutschland kommt, um hier Schutz zu suchen, landet in der Regel zunächst in einer Notunterkunft – ohne Privatsphäre und auf engem Raum mit anderen traumatisierten Menschen. Die Unterkünfte sind immer häufiger irgendwo im Nirgendwo, wo die Anwohner die Neuankömmlinge nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen.
Zur sozialen Isolation gesellen sich die pure Langeweile und die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Es gibt keine Arbeitserlaubnis, solange man keine Aufenthaltsberechtigung hat. Und solange das nicht geklärt ist, bleibt alltäglich die Angst vor der Abschiebung. Hinzu kommt die Sorge um möglicherweise im Herkunftsland verbliebene Familienmitglieder.
Die Zeit nach der Flucht kann ein Trauma noch verstärken. Nach Einschätzung des Dachverbands der Psychosozialen Zentren werden viele Flüchtlinge erst in Deutschland richtig krank. Auf der Flucht befänden sich die Menschen in einem Überlebensmodus und würden die traumatischen Erfahrungen zunächst verdrängen. Diese Menschen brauchen psychosoziale und sozialpädagogische Betreuung, manche sogar psychiatrische.
Selbst für deutsche Staatsbürger sind die Wartezeiten für psychotherapeutische Behandlungen enorm. Durchschnittlich wartet man etwa fünf Monate auf einen freien Platz; nicht weil es zu wenig ausgebildete Psychotherapeuten gäbe, sondern weil die Anzahl kassenärztlicher Zulassungen nicht dem Bedarf entspricht.
Asylbewerberleistungsgesetz sieht nur Akutversorgung vor
Für Flüchtlinge gestaltet es sich noch schwieriger, psychotherapeutische Behandlung zu erlangen, da der Zugang zur Gesundheitsversorgung für sie nicht in vollem Umfang gewährt ist. Erst vergangenes Jahr wurde die Zeit, die man sich in Deutschland bereits aufgehalten haben muss, um Leistungen aus der Kassenversorgung zu erhalten, von 18 auf 36 Monate erhöht.
Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht nur eine Akutversorgung vor und nicht die Heilung einer psychischen Krankheit. Theoretisch gäbe es für Flüchtlinge mit psychischen Störungen mit den Psychosozialen Zentren des BAfF Anlaufstellen. Die sind allerdings unterfinanziert und überlastet. Zuletzt habe man dort nur 3,1 Prozent des Versorgungsbedarfs abdecken können, so der Verband.
Auch der Täter von Aschaffenburg war vorher wegen psychischer Krisen aufgefallen und als potentiell gefährlich bekannt. Eine bessere Behandlung hätte die Tat womöglich verhindern können. Statt darüber rational zu diskutieren, verbreitet die deutsche Politik lieber die Botschaft, solche Taten ließen sich durch die Schließung der Grenzen in Zukunft ausschließen.