06.02.2025
Eine Bilanz der ersten 100 Amts­tage der mexikanischen Präsidentin Claudia Sheinbaum

Kontinuität mit eigenen Akzenten

Am 1. Oktober 2024 trat Claudia Sheinbaum als erste Präsidentin in der Geschichte Mexikos ihr Amt an. Mit der Umsetzung eines ambitionierten Regierungsprogramms hat sie begonnen – die Zustimmungs­werte in der Bevölkerung sind hoch.

Cuernavaca (Mexiko). Mit Spannung war erwartet worden, ob es la presidenta, der 62jährigen Physikerin Claudia Sheinbaum, nach ihrem überwältigenden Sieg bei der Präsidentschaftswahl im Juni 2024 gelingen würde, aus dem Schatten ihres populären Vorgängers und politischen Ziehvaters Andrés Manuel López Obrador zu treten. Beide gehören der sozialdemokratischen Partei Movimiento Regeneración Nacional (Morena) an, die auch die gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen mit riesigem Vorsprung gewann.

In mehrerlei Hinsicht steht Sheinbaum für Kontinuität: López Obradors großangelegtes sozial- und wirtschaftspolitisches Reformprojekt, das vor allem den Ausbau von Sozialprogrammen vorsieht, die sogenannte vierte Transformation, führt Sheinbaum, wie sie selbst sagt, auf nächster Stufe fort – freilich mit ihren eigenen Akzenten.

Im Gegensatz zu ihrem Amts­vorgänger, der sich von internationalen Gipfeltreffen eher fernhielt, ist Sheinbaum deutlicher um außenpolitische Wahrnehm­barkeit bemüht. 

Die von López Obrador eingeführten morgendlichen Pressekonferenzen (mañaneras) bekommen unter der Technokratin Sheinbaum einen neuen Anstrich. Insgesamt wirken sie geordneter. Mit Verbalattacken, die der Populist López Obrador bei den Konferenzen gegen die konservative Opposition und die als neoliberal verschriene Presse ritt, hält sich Sheinbaum zurück. Sie tritt deutlich versöhnlicher auf, regierungsfreundliche Medien scheinen unter ihrer Präsidentschaft keine bevorzugte Behandlung mehr zu genießen. Die mañaneras heißen jetzt mañaneras del pueblo (Morgenkonferenzen des Volks) und sind jeweils einem eigenen Thema gewidmet. Minister:innen, Kongressabgeordnete und Expert:innen haben mehr Redezeit.

Darüber hinaus hat Sheinbaum an­gekündigt, Frauenrechte, insbesondere der indigenen Frauen, ins Zentrum zu rücken. Das Jahr 2025 sei »den Frauen gewidmet, die viele Jahre lang vergessen wurden«. Gleich zu Anfang ihrer Amtszeit ließ Sheinbaum das Recht auf Lohngleichheit und auf ein Leben ohne Gewalt für Frauen in die Verfassung aufnehmen. Das Nationale Fraueninstitut (Inmujeres) hat sie in das erste Ministerium für Frauen umgewandelt. Mittels eines neuen Rentenprogramms sollen stufenweise bis 2026 insgesamt drei Millionen Frauen zwischen 60 und 64 Jahren eine zweimonatige Rente in Höhe von 3.000 mexikanischen Pesos (etwa 140 Euro) erhalten, als Kompensation für die oft jahrzehntelang unbezahlt geleistete Hausarbeit.

Hohe Rate an Femiziden

Das Parlament (der Kongress der Union, bestehend aus Senat und Repräsentantenhaus) und Kabinett sind in Mexiko – nicht erst seit Sheinbaums Amtsantritt – nahezu geschlechterparitätisch besetzt. Gleichzeitig verzeichnet Mexiko eine hohe Rate an Femiziden, bei einer Bevölkerung von 130 Millionen waren es offiziellen staatlichen Angaben zufolge allein im ersten Monat von Sheinbaums Amtszeit 70. Eine Präventionsmaßnahme der Regierung Sheinbaum stellt die »Cartilla de Derechos de las Mujeres« dar, eine Aufklärungsbroschüre, die landesweit verteilt werden und Frauen über ihre Rechte und über geschlechtsspezifische Gewalt informieren soll.

Die von López Obrador implementierten Sozialprogramme für ältere Menschen, Schüler:innen, Studierende und Landarbeiter:innen werden unter Sheinbaum fortgeführt, erweitert und nach und nach in der Verfassung verankert. »Das sind keine Programme mehr, das sind jetzt Rechte«, so die mexikanische Präsidentin. Staatliche Schulstipendien sollen Eltern finanziell entlasten und sicherstellen, dass Schü­ler:in­nen nicht aus ökonomischen Gründen die Schule abbrechen. Das Gesundheitsprogramm Salud Casa por Casa bietet älteren Menschen und solchen mit Behinderung regelmäßige ärztliche Hausbesuche an.

Im Gegensatz zu ihrem Amtsvorgänger, der sich von internationalen Gipfeltreffen eher fernhielt, ist Sheinbaum deutlicher um außenpolitische Wahrnehmbarkeit bemüht. In ihrer Rede beim G20-Gipfel in Brasilien im November 2024 schlug sie vor, einen Fonds einzurichten, um ein Prozent der Militärausgaben der G20-Mitgliedstaaten in das »größte Aufforstungsprogramm der Geschichte zu investieren«. Rechnerisch ergäbe das 24 Milliarden US-Dollar, mit denen 15 Millionen Hektar aufgeforstet werden könnten – ein Vorschlag, der Sheinbaum zufolge bei den G20 gut ankam.

Umfassendes industriepolitisches Vorhaben

Auch wirtschaftspolitisch hat Sheinbaum ambitionierte Ziele. Mitte Januar stellte sie den »Plan México« vor, ein umfassendes industriepolitisches Vorhaben, durch das Mexiko bis 2030 zur zehntgrößten Nationalökonomie der Welt (derzeit Platz 13) aufsteigen soll. Zu den Zielen für ihre sechsjährige Amtszeit gehört, den Anteil der Investitionen am BIP auf 25 Prozent zu steigern, 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Infrastruktur auszubauen. Die heimische Produktion soll gestärkt werden, Importe, vor allem aus China, sollen reduziert werden. Außerdem sollen ökologische Nachhaltigkeit gewährleistet und erneuerbare Energien gefördert werden.

Dass die nationale Energieversorgung bis 2030 zu 45 Prozent durch erneuerbare Energien gedeckt werden soll, hatte sie bereits im vergangenen Jahr als Ziel ausgegeben. Wirtschafts­expert:innen lobten die akribisch ausgearbeitete Initiative und auch viele Unternehmer äußerten Zustimmung. Allerdings bleiben Finanzierungsfragen offen. Um die Ziele des Plans zu erreichen, müsste die mexikanische Ökonomie in den kommenden Jahren konstant um fünf Prozent jährlich wachsen, Wirtschafts­ex­pert:innen gehen jedoch von einer Wachstumsrate aus, die unter zwei Prozent liegt.

Der Plan México wurde eine Woche vor Donald Trumps Amtsantritt als Präsident der USA vorgestellt. Das dürfte miteinander zusammenhängen. Mit der Ankündigung, Importe aus China einzudämmen, reagierte Sheinbaum auf den Vorwurf Trumps, Mexiko schleuse chinesische Produkte in die USA ein. Trump hatte Mexiko bereits Ende vergangenen Jahres mit Straf­zöllen von 25 Prozent ab Februar 2025 gedroht, woraufhin Sheinbaum in die Konfrontation ging und andeutete, Mexiko könnte mit höheren Importzöllen auf US-amerikanische Produkte antworten.

Verbesserung der desaströsen Sicherheitslage

Am Montag gab die Trump-Regierung bekannt, dass die geplanten Zölle zunächst für einen Monat ausgesetzt werden sollen. Im Gegenzug verpflichtete sich Mexiko 10.000 Nationalgardisten an die Grenze zu schicken, um insbesondere Fentanyl-Schmuggel einzudämmen. In Hinblick auf Trumps Dekrete vom ersten Tag seiner neuen Amtszeit, wie die Umbenennung des Golfs von Mexiko in Golf von Amerika oder die Einstufung mexikanischer Drogenkartelle als Terrororganisationen, betonte Sheinbaum, Verletzungen der territorialen Integrität Mexikos werde man nicht hinnehmen.

Auch hier unterscheidet sie sich von ihrem Amtsvorgänger, der den offenen Widerspruch in Trumps erster Amtszeit eher zu vermeiden suchte. Zugleich betont Sheinbaum immer wieder, man sei um eine gute bilaterale Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit den USA bemüht.Sheinbaums Beliebtheitswerte sind nach 100 Tagen im Amt beachtlich. Einer im Januar von der Tageszeitung El Financiero veröffentlichten Umfrage zufolge liegt die Zustimmungsrate für die neue Präsidentin bei 78 Prozent – ein historischer Höchstwert.

Die Beschlagnahmung von knapp 5.000 Schusswaffen, von mehr als 90 Tonnen Drogen und die Verhaftung von 10.148 Personen wegen schwerer Straftaten in den ersten vier Monaten ihrer Regierung signalisieren, dass Sheinbaum gegen die Kartellgewalt härter vorgehen will.

Neben der erfolgreichen Fortsetzung der Politik ihres Vorgängers und der weitgehend positiv aufgenommenen industriepolitischen Vorhaben dürfte Sheinbaums Beliebtheit vor allem an ihren bisherigen Erfolgen bei dem für die Mexi­kaner:innen wichtigsten Thema liegen, der Verbesserung der desaströsen Sicherheitslage und der Bekämpfung der Drogenkriminalität. ­López Obrador hatte hier versagt, seine Friedensstrategie der abrazos, no ­balazos (Umarmungen statt Schüsse), die der Konfrontation mit den Drogenkartellen weitgehend auswich, endete mit 180.000 Toten während seiner Amtszeit, einem Rekordwert in der jüngeren Geschichte Mexikos.

Unter Sheinbaum kündigt sich ein Richtungswechsel an. Die Beschlagnahmung von knapp 5.000 Schusswaffen, von mehr als 90 Tonnen Drogen und die Verhaftung von 10.148 Personen wegen schwerer Straftaten in den ersten vier Monaten ihrer Regierung signalisieren, dass sie gegen die Kartellgewalt härter vorgehen will. Ihre Sicherheitsstrategie besteht aus Präventiv- und Sozialmaßnahmen für Jugendliche, der Stärkung der Nationalgarde und der Nachrichtendienste sowie einer besseren Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Sicherheits- und Justizbehörden. Die Regierung sieht Fortschritte: Von Oktober bis Dezember 2024 habe sich Zahl der Morde um 15 Prozent verringert.