»Russland ist gerade besessen von Orwells ›1984‹«
Alice Weidel bezeichnet Hitler im Gespräch mit Elon Musk als Linken und Kommunisten und bekommt dafür in rechten und rechtsextremen Kreisen sehr viel Zustimmung. Verfolgt eine derartige Verkehrung ein bestimmtes Kalkül?
Das ist eine rhetorische Strategie, die ich in meinem Buch als »Verkehrung ins Gegenteil« beschreibe. Wir können sie insbesondere in den vergangenen Jahren bei rechtspopulistischen Akteur:innen beobachten, wozu ich auch Putin zählen würde. Es geht darum, dem politischen Gegner zu unterstellen, was man selber tut. Es ist eigentlich ganz banal, aber sehr wirksam. Seit den achtziger Jahren haben Rechte versucht, Linke als Faschisten zu bezeichnen. Weidel hat es jetzt noch einmal umgedreht, indem sie nicht sagt, Linke sind Faschisten, sondern: Faschisten sind eigentlich Kommunisten. Das ist damit vergleichbar, wenn Putin sagt, wir müssen die Ukraine entnazifizieren. Oder wenn er die westlichen Demokratien als Diktaturen bezeichnet. Also immer genau das Gegenteil von dem, was faktisch belegbar ist.
In Russland hat man auf Weidels Aussage aber kaum reagiert.
Ja, genau, weil die Aussage nicht in das eigene Verkehrungsnarrativ passt. Letztlich bedeutet Weidels Vergleich, dass Stalin Deutschland vom Kommunismus befreit hätte. Und das kann man in Russland nicht erzählen, zumal die russische Propaganda analog dazu das Narrativ verbreitet, man befinde sich wieder im Großen Vaterländischen Krieg, um die Ukraine und im Grunde auch Europa vom Faschismus zu befreien.
Weidel geht es darum, die deutsche Vergangenheit zu relativieren und die deutsche Rechte von Hitler und dem Nationalsozialismus zu trennen. Hat sie die Aussage nicht auch getätigt, um die Gunst von Musk und Donald Trump zu erlangen?
Sie redet Trump und Musk nach dem Mund, aber sie will auch Putin gefallen. Auch wenn beide Seiten rechtsnationale Gesinnungen vertreten, wird das sicher noch für rhetorische Verrenkungen sorgen. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass die Aussage, Hitler sei Kommunist gewesen, bei der putinfreundlichen Wählerschaft gut ankam. Dennoch werden Weidel und viele ihrer Anhänger von der Strategie der Verkehrung nicht abrücken. Dies auch, weil der Höcke-Flügel, der sich offen zum Faschismus bekennt, eher eine Minderheit ist.
»Ich denke, man muss sich darauf gefasst machen, dass künftig Diktatur mehr und mehr als etwas Positives erzählt wird. Der belarussische Diktator Lukaschenko hat genau damit begonnen, indem er Demokratie als Chaos, Diktatur als Ordnung bewirbt, Demokratie führe zu Krieg, Diktatur zu Frieden.«
Es geht immer darum, dem anderen das zu unterstellen, was man selbst macht, um sich umgekehrt die Begriffe der anderen anzueignen und für sich selbst zu verwenden, während man das Gegenteil tut. Aneignung und Projektion gehen dabei Hand in Hand. In meinem Buch habe ich gezeigt, dass die Verkehrung eine typische Strategie von Autokraten und Populisten ist. Die stellen sich nicht vor das Volk und sagen: Ich möchte die totale Macht und verlange von euch gnadenlosen Opportunismus. Sie sagen stattdessen, wir führen eine Revolution gegen die Elite, die sie selber sind, gegen die Diktatur im Westen, die sie selbst innehaben, oder gegen den deep state, den sie gerade zu bauen beginnen. Das grundlegende Problem von Diktaturen und Autokraten ist, dass sie eine verkehrte Welt schaffen müssen, weil sie ihre Herrschaft nicht mit Terror, Zensur, Vernichtungslagern oder Unfreiheit bewerben und legitimieren wollen.
In George Orwells dystopischem Roman »1984«, mit dem er den Stalinismus entlarvte, lautet die Parole der Partei: »Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Ignoranz ist Stärke!« Ist es diese Strategie, die Sie meinen?
Nicht ganz, denn die Diktatur, die Orwell beschreibt, macht aus der Verkehrung keinen Hehl, sie wirbt regelrecht dafür. Russland ist übrigens gerade besessen von Orwells »1984«. Marija Sacharowa, die Sprecherin des Außenministeriums, hat vorgeschlagen, Orwell selbst wieder zu verkehren. Sie behauptete, Orwell habe kein totalitäres System à la Sowjetunion beschrieben, sondern die liberalen Demokratien. Wenn Putin vom Untergang des Westens spricht, dann geht es ihm darum, die Demokratie als faulend und schwach zu bezeichnen. Der in den USA wiederum beschworene Untergang des Westens zielt auf die Aufgabe von Allianzen, aber auch auf das Ausreizen autokratischer Mittel in der Demokratie. Ich denke, man muss sich darauf gefasst machen, dass künftig Diktatur mehr und mehr als etwas Positives erzählt wird. Der belarussische Diktator Lukaschenko hat genau damit begonnen, indem er Demokratie als Chaos, Diktatur als Ordnung bewirbt, Demokratie führe zu Krieg, Diktatur zu Frieden.
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sprechen in der »Dialektik der Aufklärung« von »falscher Projektion«, Leo Löwenthal nennt sein wichtigstes Werk über den Autoritarismus »Falsche Propheten«. In der Kritischen Theorie sind es, in Anlehnung an Marx und Freud, die nicht durchschauten Verhältnisse, die ein »falsches Bewusstsein« produzieren.
Adorno und Horkheimer haben die »falsche Projektion« als Strategie der Faschisten beschrieben. Sie beziehen sich dabei auf Freuds »Umwertung der psychischen Werte«, die unter anderem darauf beruht, dass man sich selbst im anderen hasst. Sie beschreiben es als paranoide Form von Herrschaft. Im Anschluss an Melanie Klein spricht man heute auch von projektiver Identifikation, wie das auch der ukrainische Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker Jurko Prochasko bereits im Rahmen der russischen Umdeutung des Euromaidan beschrieben hat. Indem die Revolution, also die Emanzipation vom Imperium, als Hass des Westens auf Russland interpretiert wurde, kann das eigene imperiale Begehren als Widerstand legitimiert werden. Der Hass des Westens wird behauptet, um ungehindert und legitim zurückhassen zu können.
Diese Affektverkehrungen sind zentral, sie haben auch eine entlastende, eigentlich sogar eine kathartische Funktion.
Der 2015 verstorbene Politikwissenschaftler Sheldon Wolin sieht in seinem Buch »Umgekehrter Totalitarismus«, das Sie zitieren, nicht den politischen Führer als Architekten, sondern ein System, das diesen einen Führer hervorbringe.
Was er beschreibt, ist, dass die Demokratien inzwischen so defekt sind, dass sie autokratische Tendenzen hervorbringen, das aber zugleich verschweigen. Wolin hat Trump nicht mehr erlebt, er hat die Zeit unter Bush nach 9/11 beschrieben. Für mich ist die Verkehrung jedoch auch eine gezielte rhetorische Strategie, mit der Absicht, zu täuschen und zu manipulieren. Sie ist das zentrale Mittel von Putin und Trump. Putin kennt diese rhetorische Strategie sehr gut, er spricht sogar darüber, allerdings schiebt er sie natürlich dem Westen in die Schuhe.
Im Westen gibt es genügend Leute, die das gerne hören. Während der Covid-19-Pandemie wurde nicht nur die Existenz des Virus geleugnet. Die Leute fühlten sich durch staatliche Schutzmaßnahmen ihrer Freiheit beraubt. Sie gingen gegen eine Regierung auf die Straße, die sie als totalitär betrachteten. Sie fühlten sich als Dissidenten und Verfolgte. Manche trugen sogar den »Judenstern«.
Die Coronazeit hat viele solcher Verkehrungen hervorgebracht. Es war die Zeit, in der bei sogenannten Querdenker:innen und Impfgegner:innen die Erzählung vom Widerstand gegen die Diktatur, von Dissidententum und der Verfolgung von Andersdenkenden aufkam. Aber auch diese Erzählungen kommen nicht einfach so auf. Der russische Propagandasender RT Deutsch hat diese Erzählungen ganz aktiv verbreitet, um selbst davon als »zweite Meinung« oder als »Stimme der Andersdenkenden« zu profitieren. Während in Russland Andersdenkende tatsächlich eingesperrt werden, bezeichnet sich der autokratische Staat als Andersdenkender. Dies auch mit dem Ziel, tatsächlichen Widerstand gegen Diktaturen unsichtbar zu machen. Denn es waren die Dissident:innen in der Sowjetunion, die sich in den sechziger Jahren als Andersdenkende bezeichneten.
»Während in Russland Andersdenkende tatsächlich eingesperrt werden, bezeichnet sich der autokratische Staat als Andersdenkender. Dies auch mit dem Ziel, tatsächlichen Widerstand gegen Diktaturen unsichtbar zu machen. Denn es waren die Dissident:innen in der Sowjetunion, die sich in den sechziger Jahren als Andersdenkende bezeichneten.«
Auf den Pegida-Demonstrationen Anfang der zehner Jahre wurde das Narrativ der »Lügenpresse« verbreitet, das bis heute im Schwange ist. RT Deutsch hat das auch immer wieder befeuert.
Auch daran hatte die russische Auslandspropaganda keinen geringen Anteil. Sie bezeichnet die westlichen Medien generell als »Mainstream-Medien«, »Propaganda«, auch »Lügenpresse«, sich selbst wiederum als »alternative Medien«. Als RT Deutsch von der deutschen Medienaufsicht und von der EU im Rahmen der Sanktionen gegen Russland verboten wurde, konnten sie ihre Widerstandserzählungen noch verstärken. Viele glauben das und fragen sich keine Sekunde, warum RT Deutsch nicht über Zensur und Terror in Russland berichtet. Das Verbot hat allerdings auch dazu geführt, dass die Quelle der Narrative unsichtbar gemacht wurde. Dabei wäre es wichtig zu sehen, dass zum Beispiel gerade die heftige Desinformation über die Grünen, insbesondere gegen Robert Habeck und Annalena Baerbock, auf RT andauernd betrieben wird.
Philosophen und Kulturhistoriker haben für die rhetorischen Umdeutungen sehr unterschiedliche Begriffe gefunden. Aber wie sollte man auf diese verkehrten Welten reagieren?
Friedrich Nietzsche sprach von der »Umwertung der Werte«, Freud von der »psychologischen Umwertung der Werte«, Adorno und Horkheimer von »falscher Projektion«, der französische Soziologe Pierre-André Taguieff von »Retorsionen«. In meinem Buch habe ich die unterschiedlichen Theorien, aber auch die gängigen Verkehrungen analysiert, die Schuldumkehr – Opfer-Täter-Verkehrung –, die Verkehrung von Fiktion und Wirklichkeit, von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung, von Subjekt und Objekt, von Kritik und Opportunismus – um nur einige zu nennen. Ich persönlich denke, dass es nicht darum gehen sollte, Verkehrungen immer nur richtigzustellen, also zum Beispiel zu »beweisen«, dass Hitler kein Kommunist war. Das ist ja klar. Vielmehr sollte ein Bewusstsein für diese Strategie geschaffen werden, sie muss benannt werden, damit man sie erkennt und bald allenfalls nur noch gähnt, wenn sie wieder verwendet wird.
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Sylvia Sasse ist Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft und Mitgründerin des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK) an der Universität Zürich sowie Herausgeberin des Onlinemagazins »Geschichte der Gegenwart«. Derzeit forscht sie zum Verhältnis von Künsten und Desinformation im Kalten Krieg und in der Gegenwart. Das führt sie regelmäßig in die Geheimdienstarchive Osteuropas. Sasse hat 2023 das Buch »Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik« publiziert (Matthes & Seitz, 187 Seiten, 15 Euro).