Der Weg zur Wunschschule
Noch immer plagt Familie R. ein wenig das schlechte Gewissen. Vor zehn Jahren stand für Sohn Bela die Einschulung in Hamburg an. Doch die Grundschulen in der Nachbarschaft hatten damals noch einen schlechten Ruf. Also entschieden sich Belas Eltern dafür, Mutter und Sohn umzumelden auf die Adresse eines ihrer Freunde. So wohnten die beiden wenigstens offiziell beinahe neben der Wunschschule, an der Bela dann auch einen Platz bekam. Denn bei der Zuteilung von Grundschulplätzen ist die Entfernung vom Wohnort zur Schule maßgeblich.
Legal war das Vorgehen der Familie nicht. Immerhin handelte es sich um eine Scheinummeldung, was in Hamburg aber offenbar nicht unüblich ist. Zwar werden die von der Hamburger Schulbehörde verfolgt, doch die Zahl der Scheinummeldungen, die auffliegen, liegt im einstelligen Bereich. Die Dunkelziffer hingegen sei »als sehr hoch einzuschätzen«, teilte ein Behördensprecher der Taz mit. Bei den »stark angewählten Schulen« gehe man davon aus, dass Scheinummeldungen ihren Teil dazu beitrügen.
Besuchte 1992 noch etwa jeder zwanzigste Schüler eine Privatschule, ist es inzwischen jeder zehnte.
Die Friedrich-Bergius-Schule im Berliner Stadtteil Friedenau ist eine der Schulen, die sich Eltern wie Familie R. für ihr Kind nicht wünschen. Bei der Schule handelt es sich um eine Integrierte Sekundarstufe (ISS), auf die Kinder ab der 7. Klasse gehen. Seit 2010 existiert diese Schulform in Berlin und ersetzt Haupt-, Real- und Gesamtschule. In Hamburg entstanden im selben Jahr Stadtteilschulen ab der 5. Klasse. In Bremen heißen diese Schulen Oberschulen. Das Prinzip ist oft ähnlich – die Schulen preisen sich als Schule für alle und für alle Abschlüsse an. Gymnasien gibt es allerdings weiterhin.
Oftmals liegen die Schulen mit dem schlechtesten Ruf in sozial benachteiligten Stadtteilen. Für die Friedrich-Bergius-Schule trifft das nicht zu. Sie liegt in guter Wohnlage im beschaulichen Friedenau. Vor einigen Jahren hatte die Schule noch eine gute Reputation. Spätestens im November änderte sich das allerdings, nachdem Lehrer der Schule einen siebenseitigen Alarmbrief geschrieben hatten. Sie beklagten, dass eine »bedrohliche Gewaltbereitschaft« bestehe und es zu »verbalen Übergriffen« vor allem der männlichen Schüler komme. »Vorherrschend sind massive Verhaltensauffälligkeiten und ungebührliches, asoziales Unterrichtsverhalten.«
Erinnerungen an die Neuköllner Rütli-Schule
Knapp 85 Prozent der Schüler könnten kein Deutsch. Das Kollegium sei zu 65 Prozent mit bürokratischer Erziehung wie Klassenkonferenzen oder Schulverweisen beschäftigt und nur zu 35 Prozent mit faktenorientiertem Unterricht. Manche erinnerten die geschilderten Zustände an die der Neuköllner Rütli-Schule im Jahr 2006, als sich Lehrer ebenfalls mit einem Brandbrief an die Öffentlichkeit gewandt hatten. Die Probleme an der Friedrich-Bergius-Schule wirken sich auf die Nachfrage aus: 116 freien Plätzen standen zuletzt nur 38 Erstwunschanmeldungen gegenüber.
»In Berlin herrscht im Bereich der weiterführenden Schule freie Schulwahl an den Integrierten Sekundarschulen, wobei die Aufnahmekriterien bei Übernachfrage eine Rolle spielen«, teilt Martin Klesmann, Pressesprecher der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, der Jungle World mit. Bei Übernachfrage regelt den Übergang an eine ISS bislang das 60-30-10-Modell: 60 Prozent der Plätze werden nach Noten vergeben, 30 Prozent durch Auslosung und zehn Prozent sind für Härtefälle reserviert. Als Härtefall gilt etwa, wenn für ein Kind aus gesundheitlichen Gründen weite Wege nicht zumutbar sind.
Diese Aufteilung führt immer wieder dazu, dass Kinder unter Notenstress in der Grundschule leiden. Erreichen sie das geforderte Niveau an nahegelegenen Schulen nicht, drohen ihnen weite Fahrtwege. So geraten gewisse Sekundar-, Ober- und Stadtteilschulen in den Ruf, »Resteschulen« zu sein, denen Kinder zugewiesen werden, die an anderen Schulen nicht genommen wurden und auf denen gutsituierte Eltern aus der Nachbarschaft ihre Kinder nicht wissen wollen. Dass sich an solchen Schulen Probleme häufen, kommt also nicht von ungefähr.
Schuldirektorin freigestellt
Die Friedrich-Bergius-Schule ist da ein Musterbeispiel. In ihrem Fall hat der Senat eigenen Aussagen zufolge bereits Hilfe angeboten. »Der Schule wurde umgehend die Unterstützung durch Wachschutz angeboten. Angebote wie Coaching, Supervision, die Begleitung durch externe Schulentwicklungsexperten und die Einrichtung von Praxislernklassen wurden unterbreitet«, so Klesmann. Die Schulleitung habe die Angebote jedoch nicht in Anspruch genommen.
Nun hat die Direktorin ihre Stelle verloren. Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) bestätigte am 23. Januar im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses, dass die Schulleiterin Andrea Mehrländer »aufgrund von fachlichen Entscheidungen freigestellt« worden sei, unter anderem da eine »vertrauensvolle Zusammenarbeit« mit der Schule schwierig gewesen sei. Die Direktorin hatte den Brandbrief des Kollegiums mitunterzeichnet. Kommissarischer Nachfolger wird zunächst Engin Çatik. Als ehemaliger Leiter der Johanna-Eck-Schule in Berlin-Tempelhof habe er bereits bewiesen, dass er Krisen meistern könne, hieß es zur Begründung. Die Elternvertretung war irritiert über die Entscheidung der Bildungssenatorin.
Der Gesamtelternvertreter Andreas Thewalt meinte gegenüber dem Spiegel, die Entlassung sende so kurz nach dem Brandbrief das falsche Signal, nämlich »bloß nicht den Mund aufmachen«, sondern »Klappe halten und kuschen«. Die ausgeschiedene Schulleiterin hat mittlerweile erwogen, Rechtsmittel gegen ihre Freistellung einzulegen.
Mit aller Macht aufs Gymnasium
Die Diskussion ist geprägt von Schuldzuweisungen. Was allerdings unerwähnt bleibt, ist ein Schulsystem, das die Kinder zunehmend segregiert, in dem finanziell bessergestellte Eltern ihre Kinder mit aller Macht auf das Gymnasium bringen beziehungsweise in Schulen, die allgemein beliebter sind. Und wenn das nicht gelingt, bleibt immer noch eine der vielen Privatschulen als Möglichkeit. Besuchte 1992 noch etwa jeder zwanzigste Schüler eine Privatschule, ist es inzwischen jeder zehnte. Deren Bestand ist von 1992 bis 2020 um 82 Prozent auf knapp 6.000 angewachsen. Die Zahl der privaten Grundschulen hat sich in den vergangenen 20 Jahren sogar vervierfacht. »Die Quote der Schulen in freier Trägerschaft hat sich zuletzt auf einem höheren Niveau von ungefähr elf Prozent eines Schülerjahrgangs stabilisiert«, so Klesmann über die aktuellen Zahlen in Berlin.
Der Stadtsoziologe und Bildungsforscher Robert Vief von der Humboldt-Universität zu Berlin bemerkt im Tagesspiegel, dass sich vor allem »im Grundschulbereich eine stärkere Spaltung der Schulen aus sozialer Sicht beobachten« lasse. Obwohl Berlin sozial durchmischter werde, spiegele sich dies nicht an den Schulen wider. Grund dafür seien unter anderem die Privatschulen. »Sie sind gleichzeitig im besonderen Maße von der sozialen Realität ihrer Nachbarschaften und der Stadt im Allgemeinen abgekoppelt – mit am Ende negativen Folgen für die Gesamtheit des Bildungssystems«, so Vief.
In der Hamburger Lenzsiedlung, einem Hochhausgebiet im Stadtbezirk Eimsbüttel, das in den siebziger Jahren errichtet wurde, um vor allem Sozialwohnungen Platz zu bieten, leben rund 35 Prozent der Bewohner von Transferleistungen. Die Mehrzahl der heutigen Bewohner hat eine Migrationsgeschichte. Sowohl in der benachbarten Grundschule in der Vizelinstraße als auch in der direkt gegenüberliegenden Stadtteilschule Stellingen trifft man in der Hauptsache die Kinder und Jugendlichen aus der Siedlung an. »Die Schulen sind für die Bewohner einfach naheliegend. Man will bei seinen Freunden bleiben.
Und hat manchmal auch Ressentiments gegen die ›Kinder aus besseren Familien‹«, so Fabian Heinze, der als Sozialarbeiter in der Siedlung arbeitet, im Gespräch mit der Jungle World. Eigentlich ist Eimsbüttel ein eher wohlhabender Stadtteil. Auf den genannten Schulen macht sich das allerdings nicht bemerkbar.
Durch das – illegale – Ummelden in die Nähe der Wunschschule oder das aktive Einklagen von Plätzen tragen die Eltern zum Erhalt der Segregation bei. An stark migrantisch geprägten Schulen möchten auch grün-alternative Wähler ihre Kinder eben nur ungern sehen.
Leo hat die Stadtteilschule Stellingen für ein Jahr in der Oberstufe besucht. Im Vergleich zu seiner vorherigen Schule im benachbarten Stadtteil Eppendorf, wo vor allem gutsituierte Menschen leben, war die neue Schule sehr geprägt von Kindern mit Migrationsgeschichte. »Warum sind in Stellingen so viele ausländische Kinder und zwei Straßen weiter am Gymnasium fast nur deutsche?«, fragt sich der 18jährige im Gespräch mit der Jungle World. Die Schulen trenne eine unsichtbare Grenze.
In Berlin hat die Senatsverwaltung für Bildung bereits Abhilfe versprochen. »Der Übergang an Integrierte Sekundarschulen (ISS) und Gemeinschaftsschulen (GemS) soll reformiert werden«, so Pressesprecher Klesmann. Wie das genau aussehen soll, sagte er nicht. So bleibt es wahrscheinlich zunächst bei einer sozialen Segregation an Berliner Schulen. Durch das – illegale – Ummelden in die Nähe der Wunschschule oder das aktive Einklagen von Plätzen tragen die Eltern zum Erhalt dieser Segregation bei. An stark migrantisch geprägten Schulen möchten auch grün-alternative Wähler ihre Kinder eben nur ungern sehen. Auch Familie R. würde bei ihrem Sohn trotz aller Bauchschmerzen in Sachen Schulwahl wieder so entscheiden.