06.02.2025
Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ist entscheidend für eine ­demokratische Entwicklung in Syrien

Tolerant wie die Sultane

Die neuen syrischen Machthaber versprechen den Minderheiten Inklusivität und Toleranz. Von Demokratie und Gleichheit vor dem Gesetz ist allerdings nicht die Rede.

Etwa 100 Kilometer südlich von Damaskus, nahe der jordanischen Grenze, liegt al-Suwayda, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Syriens, die das Hauptsiedlungsgebiet der Religionsgruppe der Drusen darstellt. Hier bekommt man eine Vorstellung davon, wie es überall im Land hätte sein können, wäre die syrische Revolution nach 2013 nicht brutal von Bashar al-Assads Streitkräften und ihren iranischen und russischen Helfern zusammengebombt worden.

Im Stadtzen­trum treffen sich täglich Bewohnerinnen und Bewohner auf dem mit Fahnen und Slogans geschmückten zen­tralen Platz. Seit 2023, als Assads Truppen endgültig aus der Stadt vertrieben wurden, nennen ihn viele auch »Revolutionsplatz«. Solche Plätze gab es früher vielerorts in Syrien, bis nach der Übernahme durch Streitkräfte des Regimes wieder Friedhofsruhe einkehrte.

»Wir als Drusen wollen nicht als Minderheit behandelt werden, sondern als syrische Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten.« Eine Frau aus al-Suwayda

In al-Suwayda herrscht die schon lange nicht mehr. Die Besucher aus Europa werden, kaum hat man den Platz betreten, in heftige Diskussionen verwickelt. Es geht um die Verfassung, rule of law (Rechtsstaatlichkeit), ob ein neues Syrien dezentral organisiert sein sollte und ob die neuen Machthaber von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) es mit ihren Ankündigungen ernst meinen, einen »inklusiven« Staat anzustreben, oder ob sie doch in Wirklichkeit auf einen islamischen zielen.

Die Ansichten differieren, vor allem die Frage, ob man ein föderales Syrien wolle, wird äußerst kontrovers diskutiert. Die Frage des Föderalismus muss die Drusen besonders bewegen, schließlich gelten sie unter radikalen Islamisten als »Ungläubige« und al-Suwayda war 2018 Ziel eines extrem blutigen Anschlags des »Islamischen Staats« (IS), bei dem über 250 Personen starben.

Aber in einem scheinen sich trotzdem alle einig: Man wolle eine demokratische Republik mit Gesetzen, die für alle gelten, und die auf citizenship basiert, was sich mit dem Wort Staatsbürgerschaft nicht hinreichend übersetzen lässt. Nicht nur in al-Suwayda, mit wem immer man in Syrien nach dem Sturz Assads spricht: Citizenship ist wie ein magisches Wort und wird immer wieder gefordert.

Zivilrecht bestimmt von islamischem Recht

Was Europäer oft nicht verstehen, ist die Emphase, die in Nordafrika und dem Nahen Osten mit dieser Forderung verbunden ist. Denn es geht nicht etwa nur darum, fortan nicht weiter als entmündigter und in ständiger Angst lebender Untertan quasitotalitärer Geheimdienstdiktaturen leben zu wollen, sondern um ein ganz spezifisches Rechtsverständnis, das erst vor dem Hintergrund islamisch verfasster Staaten verständlich ist.

Denn nichts könnte von der Realität weiter entfernt sein, als was man so oft auch über das Syrien unter Bashar al-Assad las und hörte, nämlich dass es säkular gewesen sei. Das Zivilrecht ist bestimmt von islamischem Recht: Für Frauen gelten andere Gesetze und Regeln als für Männer, das Gleiche trifft auf Christen und andere religiöse Minderheiten zu. Vor diesen Gesetzen ist man als Bürgerin und Bürger in fast allen Staaten der Region eben nicht gleich – ein Grund, warum schon vor langer Zeit Frauenorganisationen in Nordafrika die Forderung »Ein Gesetz für alle« aufstellten.

Umso kritischer sieht man auf dem Platz in al-Suwayda, was Interimspräsident Ahmed al-Sharaa von der HTS bislang in seinen Erklärungen zum Besten gab. Da ist viel von Toleranz, Schutz von Minderheiten und Ähnlichem die Rede, aber nichts von demokratischen Wahlen und eben citizenship zu hören. »Wir als Drusen wollen aber nicht als Minderheit behandelt werden«, sagt eine Aktivistin auf dem Platz in al-Suwayda, »sondern als syrische Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten.«

Nichtmuslimische Untertanen als Schutzbefohlene 

Gerade deshalb betrachte man auch die Besuche europäischer Politiker bei der neuen Regierung in Damaskus kritisch, die viel von Minderheiten sprächen, aber so gut wie nicht von einer neuen Verfassung und Demokratie. Ganz offenbar versteht man nämlich in al-Suwayda – und anderswo in Syrien auch –, vor welchen Herausforderungen all jene stehen, die im Geist der syrischen Revolution nun grundlegende Änderungen in ihrem Land anstreben.

Denn wie könnte der von der HTS propagierte neue, wahlweise reformierte oder moderate islamische Regierungsstil aussehen, sollten die ganzen Erklärungen mehr als nur, wie gerade im Westen viele fürchten, ein Trick sein? Robin Yassin-Kassab, Co-Autor des 2016 veröffentlichten Buchs »Burning Country: Syrians in Revolution and War«, meint im New Lines Magazine, al-Sharaa könnte sich dabei am osmanischen Reich orientieren, in dem nichtmuslimische Untertanen als Schutzbefohlene weitgehende Selbstverwaltungsrechte besaßen.

Was sie dagegen so wenig wie alle anderen hatten, schreibt er, waren individuelle Rechte. Citizenship nämlich geht einher mit Volkssouveränität und damit auch einem von allen Bürgern gewählten Parlament, in dem Volksvertreter Gesetze verabschieden. Das allerdings widerspricht einer grundlegenden Idee des politischen Islamismus, der Gott als Souverän und die Sharia als unabänderliches, ewiges Gesetz versteht.

Baerbock vermied in Damaskus Worte wie Demokratie oder Bürgerrechte 

Nun, da eine sunnitisch-arabisch-islamistische Organisation symbolträchtig nach Hunderten von Jahren »Fremdherrschaft«, wie man in diesen Kreisen die Vergangenheit charakterisiert, erneut die ehemalige Hauptstadt des umayyadischen Kalifats kontrolliert, dem ersten islamischen dynastischen Reich, könnte sie sich, auch um so eine Demokratie zu vermeiden, im Sinne früherer islamischer Herrscher sogar großzügig gegenüber Minderheiten zeigen.

Das aber wollen sie auf dem Platz in al-Suwayda gar nicht sein: Teil einer Minderheit, sondern gleichberechtigte syrische Bürger. Deshalb lehnen in der Diskussion einige auch vehement Dezentralisierung oder ein föderales System ab, die ihrer Ansicht nach genau auf so eine Zersplitterung entlang konfessioneller Grenzen hinausliefe. Zwischendurch singen sie eines der populärsten Revolutionslieder von damals, dessen Refrain in etwa lautet, dass alle Syrer eins seien.

Diese und ähnliche Forderungen und Diskussionen standen und stehen im Zentrum aller Massenproteste seit Ausbruch des sogenannten Arabischen Frühlings vor 14 Jahren. Nur scheint man erneut in Europa entweder nicht zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen, worum es eigentlich geht, wie sich einmal mehr bei dem Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in Damaskus im ­Januar zeigte, als Worte wie Demokratie oder Bürgerrechte kein einziges Mal fielen.

Reformen auf Grundlage islamischen Rechts

In Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Oman, also jenen Golfstaaten, die 2011 angesichts der Massenproteste in Panik verfielen und alles unternahmen, um sie nicht nur in ihren Ländern, sondern überall in der Region zu unterdrücken, hat man dagegen inzwischen verstanden, dass Reformen unumgänglich sind, will man weiter am Ruder bleiben.

Und was dort in den vergangenen Jahren umgesetzt wurde, dürfte auch Vorbild für die HTS sein – und nicht etwa die brutale Kopf-ab-Sharia-Tyrannei von al-Qaida und IS, der die HTS früher selbst anhing. In den Golfstaaten nämlich sind die herrschenden Monarchen, Sultane und Scheichs zu der Einsicht gelangt, dass Reformen auf Grundlage islamischen Rechts und ohne Gewährung demokratischer Partizipation der Bürger möglich und nötig seien.

Statt Wahlen gibt es dort Konsultationen mit den Herrschenden, die sich neuerdings auch in vielen anderen Fragen moderat geben. Dieses System sei, behauptete jüngst ein Kolumnist der Oman Times, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sogar viel angemessener als das Modell westlicher Demokratien, die sich ja sowieso überall in einer tiefen Krise befänden.

Sollte die HTS den bisher eingeschlagenen Kurs weiterver­folgen, hat sie gute Chancen, nicht nur die dringend benötigte finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten zu erhalten, sondern mit dem Versprechen, für Stabilität und Schutz von Minderheiten zu sorgen, auch aus der EU und den USA.

Ein Syrien nach Vorbild etwa der Emirate? Das garantierte doch, und darauf kommt es den Europäern und der USA ja im Nahen Osten vor allem an, Stabilität. Sollte die HTS also den bisher eingeschlagenen Kurs weiterver­folgen, so hat sie gute Chancen, nicht nur die dringend benötigte finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten zu erhalten, sondern mit dem Versprechen, für Stabilität und Schutz von Minderheiten zu sorgen, auch aus der EU und den USA.

Auf der Strecke bleiben würden dabei einmal mehr all die Forderungen, die seit Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings laut wurden und seitdem nie wieder verstummt sind und die alle ein wenig an das revolutionäre Europa von 1848 erinnern. Nur möchte man daran in Europa offenbar gar nicht mehr erinnert ­werden.