Befreite Liebe
»Titanic«, »Keinohrhasen«, »Dirty Dancing« und »Sissi« – allenthalben bietet die filmische Inszenierung romantischer Liebe Anlass, sich mit Taschentüchern zum Vollheulen ausgerüstet vor dem heimischen Fernseher einzunisten. Es existiert kaum ein Film, der ohne ein Paar auskommt, das sich abseits der eigentlichen Handlung ineinander verliebt. Als Widerpart zu Arbeit, Konkurrenz und Stress soll die romantische Liebe in monogamer Zweierbeziehung Hort all dessen sein, was sich gesellschaftlich nicht anders verwirklichen lässt: ein Ort von Zärtlichkeit, Intimität und wirklicher Individualität soll sie sein, denn hier wird der Mensch geliebt als voller und ganzer, unter Absehung von seinen auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren, austauschbaren Eigenschaften.
Gleichzeitig war die romantische Zweierbeziehung historisch stets der Ort patriarchaler Unterdrückung, was der romantisch-harmonische Schein verschleierte. Für Simone de Beauvoir war die Liebe Fessel der Frau und gleichzeitig einziger Weg für sie, an gesellschaftliche Macht vermittelt über den Ehemann zu gelangen. Dies sei aber nur möglich, wenn man auch die vorgesehenen Geschlechterrollen akzeptiert: Produktion in der Gesellschaft ist Sache des Mannes, die Reproduktion der Arbeitskraft – vermeintlich außerhalb der Gesellschaft, im Privaten also – der Frau. Der Ehevertrag regelt so schließlich das Tauschverhältnis beider in einer Beziehung stehenden Partner, ökonomische Absicherung und gesellschaftliche Teilhabe des Paares vermittelt über den Mann, wofür sich die Frau der Autorität des Familienoberhaupts unterwirft.
Neben einer Arbeitswoche von 40 Stunden auch noch zwei Partner:innen oder mehr sowie Kinder, Reproduktionsarbeit und Hobbys unter einen Hut zu bekommen, erweist sich als Herausforderung.
Die Kritik an dieser Form der Beziehung lässt innerhalb der spätkapitalistischen Gesellschaft andere Beziehungskonzepte an Bedeutung gewinnen, die behaupten, die ganze, durchaus schwierige Sache mit der Liebe besser zu machen: offene Beziehung, Polyamorie, Polygamie und Lebensabschnittspartnerschaften, die mit festgelegtem Ablaufdatum die Beziehung auf eine gewisse biographische Phase festlegen. Exemplarisch hierfür ist die US-amerikanische Stadt Somerville, die zum Wallfahrtsort der polyamoren Szene geworden ist, weil dort eine sehr liberale Gesetzgebung besteht. Hier ist es mittlerweile möglich, mehrere Lebenspartner zu bestimmen, die dann einige Rechte genießen dürfen, die es anderswo nur exklusiv für zwei Menschen in einer monogamen Beziehung gibt. Die eingetragenen Lebenspartner:innen können sich die Krankenversicherung im Versicherungsfall teilen oder ihre Partner:innen einfacher im Krankenhaus besuchen.
Doch von gesellschaftlichen Einflüssen unberührt bleiben auch die polyamoren Beziehungen nicht. Neben einer Arbeitswoche von 40 Stunden auch noch zwei Partner:innen oder mehr sowie Kinder, Reproduktionsarbeit und Hobbys unter einen Hut zu bekommen, erweist sich als Herausforderung. Deshalb planen einige Paare minutiös die Tage und Stunden, die sie miteinander verbringen. Da werden Pläne mit time slots erstellt und Personen nach Beziehungsgrad kategorisiert. Mit primären Partner:innen geht man auch eine finanzielle Beziehung ein, wohnt gemeinsam und erzieht Kinder, mit sekundären teilt man vielleicht nicht alles, aber verbringt viel Zeit miteinander, und mit tertiären trifft man sich lediglich hin und wieder. Einige Beziehungsratgeber empfehlen auch, die Partner:innen nach Bedürfnissen, die sie an einem befriedigen, zu sortieren. So befriedigt die eine ein kulturelles Bedürfnis, wie gemeinsame Museums- oder Theaterbesuche, der nächste ein sexuelles und die nächste wiederum ein anderes.
Unkontrollierbares kontrollierbar machen
Auffällig ist, dass das alles doch dem klassischen Paarvertrag recht ähnlich sieht, der an der Ehe und monogamen Zweierbeziehung ursprünglich kritisiert werden sollte. Es scheint sich wieder einzuschleichen, was man doch so gern verhindern wollte. Um diesen Umstand zu verstehen, gilt es, das allen Beziehungsformen Gemeinsame festzuhalten: Die unterschiedlichen Modelle haben letztlich alle den Vertrag gemeinsam, der Unkontrollierbares kontrollierbar machen soll.
Während eine nach dem Ideal romantischer Liebe ausgerichtete Beziehung sich durch ihre eigene Dynamik stets in unvorhersehbare Richtungen entwickeln kann und somit mit zahlreichen Unsicherheiten und Abhängigkeiten, die es auszuhalten gilt, aufwartet, regeln kategorisierte Beziehungen die Abhängigkeiten vertraglich, so dass es gar nicht erst zum Kontrollverlust kommen kann: sei es im Ehevertrag, in der zeitlichen Begrenzung der Lebenspartnerschaft oder in den Zeitplänen und Einteilungen einiger polyamorer Partnerschaften.
Sie bereiten die einzelnen Vertragsmitglieder auf schmerzliche Erfahrungen, Trennungen und Konflikte vor, indem sie durch ihre vorherigen Regelungen im besten Fall schon Lösungen parat haben. Die offene Dynamik einer Beziehung wird durch ein starres, mechanisches Gerüst ersetzt. Da hier die Vorgänge wie auf dem Amtsweg ablaufen, also Sicherheit besteht, es werde alles seinen geregelten Gang gehen, soll erst gar keine Angst vor oder Schmerz durch unerwartete Entwicklungen entstehen.
In der Ehe bleiben die Machtverhältnisse in Konflikten und somit die Dynamik der Beziehung fest geregelt, in polyamoren Beziehungen kann eine Trennung weniger Schmerz verursachen, weil die Abhängigkeit entweder auf viele aufgeteilt ist und so der Verlust nicht mehr so wehtut oder weil die Menschen sowieso auf verschiedene austauschbare Objekte der Befriedigung reduziert sind. Letztlich setzt sich durch den kalten, rationalen Vertrag, ob nun ehelich oder polyamor, wie es Adorno ausdrückt »noch in den zartesten Verzweigungen des Gefühls der Mechanismus durch, bis Liebe selber, um überhaupt noch zum Anderen finden zu können, so sehr zur Kälte getrieben wird, daß sie über der eigenen Verwirklichung verfällt«.
Das Ideal romantischer Liebe
Erst die Abhängigkeit voneinander macht die romantische Liebe zu dem, was sie ist. Die Vorstellung, jemandem unendlich verfallen zu sein, weil sie die eine und keine andere austauschbare Person ist, dass man zweifeln mag, ob Selbsterhaltung – nimmt man dieses Ideal ernst – dann noch erstrebenswert ist, erst diese Form der Liebe wäre das, was man sich als Ideal romantischer Liebe vorzustellen hätte. Eine solche Liebe würde bedeuten, sich von der Gesellschaft zurückziehen, sich ganz mit der geliebten Person zu genügen, ihr alles von sich zu geben und somit beispielsweise die Selbsterhaltung durch Lohnarbeit hintan zu stellen.
Hier kommt das antigesellschaftliche Element der Epoche der Romantik zum Tragen, das auch Sigmund Freud in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« erkennt, wenn er die Liebenden, man möchte meinen, fast schon zu antifaschistischen Widerstandskämpfern stilisiert, denn: »Die beiden zum Zweck der Sexualbefriedigung aufeinander angewiesenen Personen demonstrieren gegen den Herdentrieb, das Massengefühl, indem sie die Einsamkeit aufsuchen. Je verliebter sie sind, desto vollkommener genügen sie einander.«
Eine Kritik der romantischen Liebe müsste dieses Ideal erst einmal ernst nehmen, um es immanent zu kritisieren, anstatt ihr zahlreiche andere Optionen gegenüberzustellen, die letztlich eher Zeugnis eines flexiblen, auf Autonomie bedachten, neoliberalen Zeitgeistes sind, als diesem in irgendeiner Art und Weise zu widersprechen.
Letztlich entpuppen sich viele Versuche, die romantische Zweierbeziehung zu überwinden, oft als individuelle Fortschreibungen gesellschaftlicher Prinzipien wie der unbedingten Autonomieerhaltung. Abhängigkeiten sollen geleugnet oder abgelehnt werden.
Würde man eine immanente Kritik formulieren, dann wäre die Frage eine andere, nämlich nach dem Widerspruch der romantischen Liebe selbst: Widerspricht das Ideal der romantischen Liebe nicht eigentlich den gegebenen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft? Zum einen, weil die angenommene Individualität des geliebten Gegenübers als wirklich einzigartige Person kaum vereinbar mit einer normierenden Gesellschaft ist, die die Einzelnen rational, nach Effizienz, Charaktertyp oder Persönlichkeitsmerkmalen einzuteilen versucht. Zum anderen, weil die Konsequenz der romantischen Liebe, einer Person so sehr zu verfallen, sich so in ihr zu verlieren, den Vorgaben von Selbsterhaltung und unbedingter Autonomie in der neoliberalen Gesellschaft widerspricht.
Letztlich entpuppen sich viele Versuche, die romantische Zweierbeziehung zu überwinden, oft als individuelle Fortschreibungen gesellschaftlicher Prinzipien wie der unbedingten Autonomieerhaltung. Abhängigkeiten sollen geleugnet oder abgelehnt werden. Das Ideal romantischer Liebe verweist auf Menschen, die Abhängigkeiten eingehen, ohne dass sie in Unterwerfung und Herrschaft umschlagen. Dazu aber müssten die Menschen diese Abhängigkeiten aushalten können und sogar darin etwas Erfüllendes und Befreiendes entdecken können.
Dass dies so selten geschieht, ist aber nicht der Tatsache geschuldet, dass die romantische Liebe verwerflich wäre, sondern der Gesellschaft beziehungsweise der Art und Weise, wie Menschen sich in dieser aufeinander beziehen müssen. Die romantische Liebe verweist so auf eine Gesellschaft, in der es möglich ist, Abhängigkeiten einzugehen, ohne Angst haben zu müssen, gesellschaftlich fallengelassen zu werden. Als bürgerliches Ideal entstanden, ist das Versprechen der romantischen Liebe durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gar nicht einzulösen. Vielmehr scheint in ihr eine noch unentdeckte, freiere Gesellschaftsform auf.
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Die Illustrationen dieses Schwerpunkt-Themas hat die Künstlerin Franziska Angermann angefertigt. Sie lebt in Berlin und hat Bildende Kunst an der Hochschule Dresden studiert. Sie beschäftigt sich mit dem Unterschied zwischen Illustration und Malerei und dem Verhältnis von Kunst und autoritärem Charakter.