Duelle und Medaillen
»Der Zionismus erweckt das Judentum zu neuem Leben. (…) Er bewirkt dies sittlich durch Auffrischung der Volksideale, körperlich durch die physische Erziehung des Nachwuchses, der uns wieder das verlorengegangene Muskeljudentum schaffen soll«, sagte in seiner Rede beim 2. Zionistischen Kongress 1898 in Basel der Mitgründer der Bewegung, Max Nordau. Sein Appell zeigte Wirkung, die jüdische Sportbewegung wuchs fortan rasch. Schon drei Monate später wurde in Berlin unter dem Namen Bar Kochba der erste jüdische Sportverein ins Leben gerufen, benannt nach dem Anführer des jüdischen Aufstands gegen die Römer in den Jahren 132 bis 135.
Das Fechten wurde eine der beliebtesten Sportarten unter Juden, was nicht zuletzt Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus und Entwerfer eines selbständigen jüdischen Staats, zu verdanken war. Bereits im Kindesalter hatte er den Umgang mit der Klinge erlernt. In seiner Studentenzeit bot er sich zu einer Mensur an, um in die Wiener akademische Burschenschaft Albia aufgenommen zu werden; später verließ er die Verbindung wegen zunehmender Judenfeindlichkeit.
»Wir werden uns an einen Ort begeben, um unsere Kraft und unser Können unter Beweis zu stellen, an dem unsere jüdischen Brüder als eine andere Ethnie, nicht als von Gott geschaffene Menschen, ja sogar als schädlich angesehen werden.« Endre Kabos, ungarischer Fechter, vor der Abreise zu den Olympischen Spielen in Berlin 1936
Als Pariser Korrespondent der Wiener Zeitung Neue Freie Presse berichtete er begeistert über Gefechte zwischen Juden und Antisemiten. Herzl meinte: »Ein halbes Dutzend Duelle würde die soziale Stellung der Juden sehr verbessern.« Dies sollte sich als zutreffend erweisen, allerdings verlagerten sich die zuvor lebensgefährlichen Zweikämpfe auf die deutlich weniger gefährlichen Fechtbahnen. Alsbald erwarben junge Juden sich einen Ruf als knochenharte Kämpfer und wiesen eine beeindruckende Siegesbilanz auf. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg errangen sie allein bei den Olympischen Spielen insgesamt 35 Fechtmedaillen, davon die Hälfte in Gold.
Die Reihe eröffnete der Österreicher Siegfried Flesch. Bei den Olympischen Sommerspielen 1900 in Paris errang er Bronze im Säbelwettbewerb. Ein besonders angesehener Fechter wurde der Engländer Edgar Seligman, der einzige, der die britischen Meisterschaften in drei verschiedenen Disziplinen für sich entscheiden konnte: 1904 und 1906 mit dem Degen, 1906 und 1907 mit dem Florett sowie 1923 und 1924 schließlich mit dem Säbel. Seine internationale Karriere begann 1906 in Athen bei den sogenannten Olympischen Zwischenspielen. Dort gewann er mit der britischen Auswahl die Silbermedaille. Diese Leistung konnte er bei den Olympiaden 1908 in London und 1912 in Stockholm wiederholen. 1908 gewannen zwei französische Juden, Jean Stern und Alexandre Lippmann, als Mitglieder des Nationalteams die Goldmedaille im Degenfechten.
Der Fechtsport wurde unter den ungarischen Juden zur Obsession
1912 waren jüdische Sportler besonders erfolgreich. Im Degenfechten als Mannschaftsdisziplin erreichten die Belgier Gaston Salmon und Jacques Ochs den ersten Platz. Albert Bogen aus Österreich gewann eine Silbermedaille im Florett- und Mannschaftssäbelwettbewerb zusammen mit seinem Teamkollegen Otto Herschmann. Ivan Joseph Martin Osiier holte für Dänemark Silber im Degen-Einzelwettbewerb.
In Ungarn galt das Fechten als Sinnbild der magyarischen Tugenden von Stärke, Mut, Ehre und Eleganz. Deswegen widmeten sich die jüdischen Bürger mit noch nie dagewesenem Eifer diesem Sport, denn sie wollten sich auch dadurch der Mehrheitsgesellschaft anpassen. Damit hatten sie Erfolg, die Presse würdigte bald mit großer Begeisterung die Siege der jüdischen Fechter-Asse, darunter Jenő Fuchs, Dezső Földes, Oszkár Gerde und Lajos Werkner, die Mannschaftsolympiasieger im Säbelfechten bei den Olympischen Spielen 1908 in London. Fuchs errang zudem eine Goldmedaille im Einzelwettbewerb. Vier Jahre später, in Stockholm, gewann das Dream Team erneut Mannschaftsgoldmedaillen in den Florett- und Säbelwettbewerben. Fuchs wurde Erster im Säbel-Einzelwettbewerb, Werkner im Florett.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Fechtsport unter den ungarischen Juden geradezu zur Obsession. Ab 1920 verfiel Ungarn mehr und mehr einem heftigen Antisemitismus, und das Land führte als erstes im Europa des 20. Jahrhunderts ein antijüdisches Gesetz ein: An den Universitäten galt ein Numerus Clausus, der nur einer geringen Zahl von Juden das Studium erlaubte. Paradoxerweise spornte diese neue Situation sie umso stärker an, ihre Loyalität zum Vaterland unter Beweis zu stellen. Die Nachfolger der Spitzenfechter der Vorkriegszeit setzten zwischen 1920 und 1936 den Siegeszug fort und gewannen für Ungarn insgesamt elf olympische Medaillen.
Dem friedlichen Mit- und Gegeneinander bereitete der Faschismus ein Ende
Mit einiger Verspätung betraten nun auch die Frauen die Fechtbahn. Bei den Olympischen Spielen 1928 in den Niederlanden gewann die Deutsche Helene Mayer, Tochter eines jüdischen Vaters und einer lutherischen Mutter, im Alter von 17 Jahren Gold. Auch die Österreicherin Ellen Müller-Preis und die Ungarin Ilona Elek gehörten zu den Besten des jüdischen Frauenfechtens.
Dem friedlichen Mit- und Gegeneinander bereitete der Vormarsch des Faschismus ein Ende. Der Olympiasieger Endre Kabos aus Ungarn war sich der Symbolik der Olympischen Spiele 1936 im Dritten Reich durchaus bewusst. Vor dem großen Sportfest schrieb er in der Zeitschrift Egyenlőség (Gleichheit): »Wir werden uns an einen Ort begeben, um unsere Kraft und unser Können unter Beweis zu stellen, an dem unsere jüdischen Brüder als eine andere Ethnie, nicht als von Gott geschaffene Menschen, ja sogar als schädlich angesehen werden.« Die ungarisch-jüdischen Athleten würden nicht nur für die ungarische Nation, sondern auch für das Judentum kämpfen, meinte er.
Hitler dürfte vor Wut geschäumt haben, als in Berlin fünf der insgesamt neun olympischen Fechtmedaillen an Sportler:innen jüdischer Herkunft gingen. So gewann Ilona Elek Gold, Helene Mayer Silber und Ellen Müller-Preis Bronze. Alle drei waren sogenannte Halbjüdinnen, allerdings bekannte sich keine von ihnen zu ihrer Herkunft. Ein Foto der Siegeszeremonie zeigt Mayer sogar, wie sie den Arm zum Hitlergruß hebt. Für die Nazis machte das keinen Unterschied. Propagandaminister Joseph Goebbels wies die deutsche Presse an, Mayers »nichtarische« Abstammung zu verschweigen. Nach den Spielen 1936 kehrte sie in die USA zurück, wo sie studiert hatte. Zwischen 1937 und 1946 gewann sie sechsmal die US-Meisterschaft im Damenflorett. Zudem wurde sie 1937 Weltmeisterin. Ilona Elek wurde in 1948 bei der Olympiade in London erneut Erste und vier Jahre später in Helsinki Zweite. Ihre Schwester Margit war ebenfalls eine hervorragende Fechterin und wurde fünfmal Weltmeisterin.
Die Ermordung des mehrfachen Olympia-Medaillengewinner Attila Petschauer war besonders grausam: Nachdem seine Aufseher ihn erkannt hatten, wurde er bei frostigem Wetter gezwungen, sich auszuziehen und auf einen Baum zu klettern. Dort wurde er so lange mit Wasser bespritzt, bis er erfror.
Ilona Elek war noch vor den Olympischen Spielen in Berlin aus ihrem Budapester Sportclub ausgeschlossen worden. Sie wurde gezwungen, in einem kleinen Verein unter widrigen Bedingungen zu trainieren. Während der Shoah entging sie der Deportation, weil sie untertauchen konnte.
Der Österreicher Otto Herschmann, Silbermedaillengewinner 1912 in Stockholm, wurde im KZ Sobibor ermordet, Oszkár Gerde, zweifacher Olympiasieger für Ungarn, im Todeslager Mauthausen. János Garay, Mitglied der siegreichen ungarischen Degenmannschaft bei den Olympischen Spielen 1928, wurde ebenfalls in Mauthausen getötet. Der oben zitierte Kabos wurde zum Arbeitsdienst in einem Strafbataillon für jüdische Männer, eingezogen. Der Lastwagen, auf dem er mit seinen Kameraden saß, fuhr im November 1944 über die Budapester Margaretenbrücke, als diese in die Luft flog.
Der mehrfache Olympia-Medaillengewinner Attila Petschauer wurde in Ungarn ebenfalls zum Arbeitsdienst verpflichtet. Seine Ermordung war besonders grausam: Nachdem seine Aufseher ihn erkannt hatten, wurde er bei frostigem Wetter gezwungen, sich auszuziehen und auf einen Baum zu klettern. Dort wurde er so lange mit Wasser bespritzt, bis er erfror.
Der erste Olympiasieger in der Geschichte des sowjetischen Fechtsports war jüdisch
Auch in der Nachkriegszeit spielten jüdische Fechter eine entscheidende Rolle. Rudolf Kárpáti aus Ungarn gewann bei vier Olympischen Spielen zwischen 1948 und 1960 insgesamt sechs Goldmedaillen. Die Sowjetunion wurde ebenfalls zu einer Hochburg des Fechtsports, in der jüdische Athleten ungeachtet antisemitischer Anfeindungen Erfolge feierten. So war 1964 der erste Olympiasieger in der Geschichte des sowjetischen Fechtsports, der Ukrainer Hryhorij (oder Grigorij) Kriss, jüdisch.
Als Juden ab Ende der achtziger Jahre massenhaft emigrierten, nahmen viele ihre Leidenschaft und ihr Können mit. Sie gaben sie oft an ihre Kinder weiter. Der aus der Ukraine in die USA eingewanderte Misha Itkin trainierte seinen Sohn Nick, der viermaliger Weltmeister und olympischer Bronzemedaillengewinner im Florettfechten der Mannschaft 2020 und 2024 im Einzelwettbewerb wurde.
Bei den Olympischen Spielen in Paris im vorigen Jahr hatten sechs der 20 Fechter und Fechterinnen im US-Team eine jüdische Herkunft. Lee Kiefer gewann Gold, ebenso das Damenflorett-Team mit den Jüdinnen Jackie Dubrovich und Maia Weintraub.