13.02.2025
Annika Nickenig, Literaturwissenschaftlerin, im Gespräch über die Dramaturgie der Liebe

»Liebe hat etwas sehr Literarisches«

In der Literatur fanden Frauen bereits im 16. Jahrhundert einen Ausdruck ihrer Subjektivität. Warum Liebesromane zu Unrecht mehr als kitschig denn als feministisch wahrgenommen werden und was man aus der Literatur über das Wesen der romantischen Liebe erfahren kann, darüber sprach die »Jungle World« mit der Literaturwissenschaftlerin Annika Nickenig.

Welchen Aufschluss kann die Literatur über die Liebe geben?
An literarischen Texten kann man erkennen, wie sich das Konzept der Liebe im Laufe der Zeit verändert. Die historische Perspektive macht deutlich, dass es so etwas wie ein natürliches, universelles Konzept von Liebe nicht gibt. Deswegen rekurrieren soziologische Analysen zur Liebe häufig auf literarische Texte – beispielsweise Niklas Luhmann oder Eva Illouz. An Literatur lässt sich zeigen, dass die Vorstellungen von Liebe abhängig sind von den jeweiligen sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen.

Wie eng ist das Verhältnis von Liebe und Literatur?
Liebe, oder ihr Ideal, ist häufig das Ergebnis einer Erzählung, die man selbst konstruiert, ästhetisiert und die einer typischen Dramaturgie folgt. Das hat etwas sehr Literarisches. Die Liebes­erzählung folgt in der Regel einem Muster: Es gibt ein Kennenlernen, es folgen Phasen von Irrungen und Wirrungen und am Ende steht meist ein Happy End.

Es gibt doch sicher auch noch andere Dramaturgien der Liebe, oder?
Auf jeden Fall. Eine typische Liebesdramaturgie im Roman des 19. Jahrhunderts ist der Selbstmord oder Tod der ehebrechenden Frau. Mit einem solchen Ende werden die Ausbrüche jener Frauen, die nach mehr streben und mehr wollen, als ihnen klassischerweise zugestanden wird, in gewisser Weise sanktioniert. Die Texte können aber auch als Kritik am Korsett der bürgerlichen Verhaltensnormen verstanden werden, denen sich die Frauen zu unterwerfen hatten.

»Im 19. Jahrhundert, wo sich die bürgerliche Familie als Modell durchsetzt, entstehen besonders viele Eheromane, aber auch sehr viele Ehebruchromane.«

Was können Sie aus der Literatur über das Verhältnis von Liebe und Ehe im Wandel der Zeit ableiten?
Ich habe mich vor allem mit Novellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert aus Frankreich und Spanien beschäftigt. Ein wiederkehrendes Thema in diesen Texten ist die Bedeutung von Heiratsmärkten. In der Literatur der Frühen Neuzeit hat die Liebe mit der Ehe nicht viel zu tun. Sie ist etwas Pragmatisches, eine rationale Entscheidung. Es geht darum, dass man eine ökonomische Einheit bildet, gemeinsam einen Haushalt leitet.

Setzt die romantische Liebe nicht ohnehin eine Vorstellung von Individualität und Subjektivität voraus, wie sie sich erst im Zuge der Aufklärung entwickelt?
Sicherlich. Auch das heutige Ideal von romantischer Liebe setzt die Einzig­artigkeit des Gegenübers voraus, also der Person, in die man sich verliebt. Diesem Ideal der Einzigartigkeit steht die Austauschbarkeit, wie sie beispielsweise auf dem Heiratsmarkt herrscht, diametral entgegen. Ich sehe da starke Parallelen zur heutigen Dating-Kultur mit Hilfe von Dating-Apps. Auch dort wird eine Logik von Nachfrage und Angebot bedient, das hat etwas von einer ökonomisierten Partnerwahl. Die Nutzer:innen agieren als Käufer:innen, werden aber auch selbst zu Waren.

Nicht besonders romantisch …
Das romantische Ideal des 19. Jahrhunderts spielt heute nach wie vor eine große Rolle. Allerdings wird versucht, die ökonomischen Momente der Partnerwahl in den Hintergrund zu rücken, das Gefühl soll für sich sprechen. Liebe ist dem Ideal nach etwas Irrationales, Unmittelbares, ein zufälliges Geschehen, wie der Pfeil des römischen Liebesgottes Amor beziehungsweise Cupido, der die Liebenden ins Herz trifft. Das verspricht die Dating-Website ­Okcupid sogar dem Namen nach. Gleichzeitig soll ein wissenschaftlich basierter Algorithmus ein besonders planbares und berechenbares matching garan­tieren. Dahinter steht die Vorstellung, dass der ­Ablauf des Kennenlernens und Verliebens optimierbar ist.

Ist Rationalität also der Gegenspieler der romantischen Liebe?
Man neigt dazu, Liebe und Ökonomie oder auch Gefühl und Kalkül als getrennte Parameter zu sehen, sogar als Oppositionen. Ökonomische Erwägungen waren aber seit jeher Bestandteil der Partnerwahl oder der Anbahnung einer Liebesbeziehung. Das wird nur je nach Kontext unterschiedlich deutlich gemacht und auch als unterschiedlich legitim wahrgenommen. Je weiter man zurückgeht in der Zeit, desto offener wird die Eheschließung als strategische Erwägung dargestellt. Aber es gibt keine geradlinige Fortschrittsgeschichte, bei der sich die Liebe mehr und mehr von ökonomischen Faktoren befreien würde.

Wie sieht das in der Literatur des 19. Jahrhunderts aus, dem Zeitalter der Romantik?
Im 19. Jahrhundert, wo sich die bürgerliche Familie als Modell durchsetzt, entstehen besonders viele Eheromane, aber auch sehr viele Ehebruchromane. Jane Austen geht in ihren Romanen sehr kritisch ins Gericht mit der gesellschaftlichen Klasse der gentry (bezeichnet den niederen Adel, aber auch die Gesamtheit der sogenannten Honoratioren; Anm. d. Red.). Bei ihr sind die weiblichen Figuren damit konfrontiert, dass ihre Familien ökonomisch darauf angewiesen sind, sie gut zu verheiraten. Dennoch schafft Austen es, Geschichten gelingender Liebe zu erzählen. Schon im Titel ihres Buchs »Sense and Sensibility« werden zwei Facetten von Liebe aufgegriffen. Die Vernunft und die Empfindsamkeit werden von den Figuren zweier Schwestern verkörpert. Am Ende gehen beide eine glückliche Verbindung ein. Bei Austen siegt weder die reine Vernunft noch die impulsive Leidenschaftlichkeit.

Ist das nicht recht versöhnlich mit den gesellschaftlichen Bedingungen für die Liebe im damaligen England?
Austens Romane haben, trotz der Schwierigkeiten ihrer Heldinnen, ein glückliches Ende, das liegt auch an den Konventionen der Gattung. Etwas anders sieht es im Realismus aus, etwa in Gustave Flauberts »Madame Bovary«. Hier entwickelt die Protagonistin Emma Bovary durch die übermäßige Lektüre von romantischen Liebesgeschichten voller ritterlicher Helden selbst ein Übermaß an Imagination und Liebessehnsucht. Von der Realität ihrer eigenen bürgerlichen Ehe ist sie in­folgedessen enttäuscht. Der Text hat eine bestechende Doppelbödigkeit, denn die Protagonistin wird durchaus mit Ironie gezeichnet, aber noch viel mehr kritisiert Flaubert die Mittelmäßigkeit und Borniertheit der bürgerlichen Gesellschaft, die das Gefühl und die Emphase nicht erlaubt.

»Luhmann spricht davon, dass erstmals im 17. Jahrhundert die Vorstellung von Liebe als einer Passion aufkommt, die mit einem gewissen Furor einhergeht und etwas Ungezügeltes hat, das sich nicht beherrschen lässt. Diese Form der Liebe ist gesellschaftlich problematisch, weil sie die herrschende Ordnung angreift.«

Wie steht es um den Klassencharakter der Liebe?
Luhmann spricht davon, dass erstmals im 17. Jahrhundert die Vorstellung von Liebe als einer Passion aufkommt, die mit einem gewissen Furor einhergeht und etwas Ungezügeltes hat, das sich nicht beherrschen lässt. Diese Form der Liebe ist gesellschaftlich problematisch, weil sie die herrschende Ordnung angreift. Ab dem 18. Jahrhundert steht die Liebe dann im Zeichen der Empfindsamkeit, die insofern mit der Ordnung konform geht, als sie eine einhegende Wirkung in der Ehe entfaltet. Dieser Wandel reflektiert die bürgerliche Kritik an der Aristokratie und ihrem als unmoralisch kritisierten Umgang mit der Liebe. Liebesbeziehungen wurden oft offen außerhalb der Ehe eingegangen.

Warum fällt die Entzauberung der ökonomischen Beziehungen durch den Kapitalismus mit der Romantisierung der Ehe zusammen?
Die romantische Liebe wurde umso wichtiger, je loser das Gefüge der Familie als ökonomische Kerneinheit wurde. Wo vorher die enge Zusammenarbeit der Ehepartner unverzichtbar war, hat die Arbeit außerhalb des Hauses, ­beispielsweise in der Fabrik, eine neue Dynamik in die Beziehungen gebracht. So wurde eine andere Legitimation benötigt, um die Frau in dem Gefüge zu halten. Man könnte also sagen, dass die romantische Liebe hier als gesellschaftlicher Kitt fungiert.

Welchen Platz hat die Liebe in der Literatur der Vormoderne?
Die mittelalterliche Minne kultiviert die Anbetung einer unerreichbaren schönen Frau. Diese Prämisse der Unerreichbarkeit findet man auch in der lyrischen Form des Petrarkismus (am Beginn von Neuzeit und Renaissance; Anm. d. Red.). Auch hier wird die Frau überhöht. Es geht dabei nicht um eine tatsächliche Begegnung oder darum, dass es zu einer Erfüllung der Liebe kommt. Die Liebe ist hier eher ein poetisches Ideal, die geliebte Frau eine ­Allegorie für die Dichtung selbst.

Frauen haben zu dieser Zeit wohl noch nicht so viel geschrieben?
Schon in der Frühen Neuzeit, speziell im 16. Jahrhundert, gibt es Frauen, die die petrarkistischen Liebessonette ­adaptieren. Da ist die Frau dann auch nicht mehr die Angebetete, sondern sie ist es, die über ihr Begehren und ihre Gefühlswelt schreibt und den Mann zum Objekt ihrer Begierde werden lässt. Der weibliche Petrarkismus ist dabei ungleich expliziter als sein männliches Pendant. Da geht es durchaus um körperliche Begegnung und Begehren. Die Französin Louise Labé lässt in ihren Sonetten das lyrische Ich sehr explizit ihr Liebesbegehren schildern. Eine andere Form der Aneignung zeigt sich in der Erzählliteratur. Im 17. Jahrhundert schreibt die Autorin María de Zayas mit ihren »Novelas amorosas y ejemplares« (1637; Anm. d. Red.) zum Teil sehr feministische Erwiderungen auf die Novellen von Miguel de Cervantes und zeigt kluges Täuschen als insbesondere weibliches Vermögen.

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Die Illustrationen dieses Schwerpunkt-Themas hat die Künstlerin Franziska Angermann angefertigt. Sie lebt in Berlin und hat ­Bildende Kunst an der Hochschule Dresden studiert. Sie beschäftigt sich mit dem Unterschied zwischen Illustration und Malerei und dem Verhältnis von Kunst und autoritärem Charakter.