Serbien: »Sogar Madonna unterstützt die Proteste«
Frau Antić, Sie demonstrieren seit über drei Monaten regelmäßig. Nun ist sogar der serbische Ministerpräsident Miloš Vučević zurückgetreten und Präsident Aleksandar Vučić behauptet, die Forderungen der Studierenden seien erfüllt. Warum demonstrieren Sie weiter?
Der Ministerpräsident und auch der Bürgermeister von Novi Sad sind zurückgetreten, nachdem junge Männer aus der Parteizentrale der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) in Novi Sad herausgestürmt waren und eine Gruppe Studierender angriffen hatten. Dabei schlugen sie so hart auf eine junge Frau ein, dass sie ihr den Kiefer brachen und sie sofort operiert werden musste. Es stellte sich heraus, dass die Schläger mit Vučevićs Sohn in Verbindung stehen. Die beiden traten nicht zurück, um die Forderungen der Studierenden zu erfüllen, sondern weil sie wussten, dass man die Gewalttäter schnell mit ihnen und ihrer Partei in Verbindung bringen würde. Die Studierenden haben nicht nur den Rücktritt der Politiker gefordert, sondern auch ihre strafrechtliche Verfolgung. Dieser zweite Teil der Forderungen ist nicht erfüllt.
Gibt es weitere Forderungen, die nicht erfüllt wurden?
Präsident Vučić gab den Studierenden einen bestimmten Teil der Dokumente, die die Renovierung des Bahnhofs in Novi Sad betreffen, zur Einsicht, aber es handelt sich nicht um die gesamte Dokumentation, also ist die entsprechende Forderung noch nicht vollständig erfüllt. Wir fordern auch eine strafrechtliche Verfolgung aller Angreifer, die Studierende und andere Demonstrierende attackiert haben. Es muss noch viel passieren, bis wir sagen können, dass die Forderungen erfüllt sind.
Was wäre, wenn alle Forderungen erfüllt würden?
Die Besetzungen und Blockaden werden anhalten, bis die Forderungen erfüllt sind – das haben die Studierenden von Anfang an gesagt. So wie das Regime und Vučićs Schläger mit den Menschen umgehen, glaube ich außerdem nicht, dass sich die Wut der Menschen so schnell beruhigen wird. Vielleicht werden auch danach viele weiter für Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft kämpfen.
»Bei einer Regierungsumbildung setzt Vučić neue Leute ein und wir gewinnen nichts. Neuwahlen sind auch problematisch, weil die Opposition in Serbien leider sehr schwach ist.«
Präsident Vučić sagte, dass es nun zu Neuwahlen oder einer Regierungsumbildung kommen könnte. Wie bewerten Sie das?
Bei einer Regierungsumbildung setzt Vučić neue Leute ein und wir gewinnen nichts. Neuwahlen sind auch problematisch, weil die Opposition in Serbien leider sehr schwach ist. Obwohl es in der Opposition einige kluge Leute gibt, bedeutet das nicht, dass die für Wahlen gut aufgestellt wäre. Vučić und seine SNS verfügen zudem über ausgefeilte Systeme für Wahlbetrug und könnten damit wieder erfolgreich sein. Die Opposition hat auf die Schnelle keine Kapazitäten, sich auf die Wahlen vorzubereiten. Außerdem machen sich die Studierenden mit keiner Partei gemein, die Unterstützung für ihre Forderungen wird sich nicht notwendigerweise in Wahlergebnissen für Oppositionsparteien widerspiegeln. Ich glaube nicht, dass Neuwahlen jetzt helfen.
Vučić steht überhaupt nicht im Fokus der Proteste, obwohl er ja offensichtlich derjenige ist, der die wichtigen Entscheidungen trifft. Woran liegt das?
Gemäß der Verfassung der Republik Serbien hat der Präsident vor allem eine repräsentative Funktion und Vučić ist für die allermeisten Fragen, für die er sich als Verantwortlicher aufspielt, in Wirklichkeit gar nicht zuständig. Vučić sollte überhaupt nicht eine solche Bedeutung haben. Er baut wie ein Diktator einen Führerkult um seine Person, der überhaupt nicht mit der Funktion vereinbar ist, die er ausfüllt.
In Serbien gibt es seit Jahren immer wieder Massenproteste, die aber meist schnell wieder abflauen. Warum sind die gegenwärtigen erfolgreich, wo es andere nicht waren?
Die Proteste der letzten Jahre bezogen sich auf wichtige gesellschaftliche Themen, allerdings haben sie nicht die gesamte Bevölkerung erfasst. Als am 1. November das Bahnhofsdach in Novi Sad einstürzte und 15 Menschen starben, beschäftigte das auch viele Menschen, die sich bis dahin für unpolitisch oder desinteressiert gehalten haben. Jeder in Serbien hat in den vergangenen Jahren mitbekommen, wie die Verantwortlichen sich selbst für die Renovierungen und Rekonstruktionen von Gebäuden gelobt haben – darunter der Bahnhof in Novi Sad. Damit haben sie sich nun kompromittiert. Neben der Wut auf die Verantwortlichen gibt es viel Solidarität für die 15 Opfer und ihre Angehörigen. Ich glaube, dass die Arbeit, die viele Aktivisten und Oppositionelle in den vergangenen Jahren gemacht haben, jetzt bei diesem Thema zusammengekommen ist.
Sie waren von Beginn an bei den Protesten in Novi Sad und wurden in diesem Zusammenhang am 8. November in Gewahrsam genommen …
Ich wurde nicht in Gewahrsam genommen! Meine Freundin Mila Pajić und ich wurden von sechs Männern in zwei Wagen entführt, obwohl wir uns gewehrt haben. Die Männer haben sich nicht ausgewiesen und wir wussten in dem Moment nicht, ob das Polizisten oder vielleicht irgendwelche Verbrecher sind.
Wer waren die Männer und was ist dann passiert?
Die Namen kennen wir bis heute nicht, aber es waren Mitarbeiter des Geheimdiensts BIA. Wir beide kamen gerade aus Belgrad zurück und wollten zu einer Demonstration in Novi Sad, als wir mitgenommen wurden. Es ist eine sehr ungewöhnliche Situation, dass der Geheimdienst sich mit zwei jungen Frauen im Alter von 21 und 23 befasst, die zu einer Demonstration gehen. Eigentlich sollten sie sich mit anderen Themen beschäftigen, Schwerkriminelle jagen oder auch etwas gegen die Korruption unternehmen. Wahrscheinlich hatten sie uns ausgesucht, weil wir in serbischen Medien als Demonstrantinnen in Erscheinung getreten sind. Sie belogen uns über die Fahrtrichtung und brachten uns zum Gebäude des BIA. Dort hielten sie uns mehrere Stunden fest und stellten dumme Fragen. Nach sechs Stunden, als der Protest in der Nacht vorbei war, ließen sie uns gehen.
Beobachten Sie die Reaktionen aus dem Ausland auf die Protesten?
Die Unterstützung, die von Kommilitonen und Bürgern aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und der ganzen Region kommt, ist überwältigend. Auch über die Region hinaus gibt es aus Europa und der ganzen Welt viel Rückhalt. Das ist überwältigend.
Offizielle Unterstützung durch die EU-Kommission oder die deutsche Bundesregierung gibt es aber nicht …
Ja, sie haben zu keinem Zeitpunkt Unterstützung kommuniziert. Es gibt aber Versammlungen, vor allem von der serbischen Diaspora, in ganz Europa. Amsterdam, Brüssel, Berlin, Mailand, wo sich je Hunderte von Menschen in Solidarität versammeln, und auch Medien auf der ganzen Welt berichten. Das sollten auch die europäischen Institutionen nicht ignorieren.
Es gab Solidaritätsproteste von Sansibar bis nach Island.
Ja. Sogar Madonna unterstützt die Proteste. Und die serbischen Studierenden wurden für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Wie lange halten Sie noch durch?
Wir sind müde, das gebe ich ganz offen zu. Aber wir haben inzwischen gelernt, uns besser zu organisieren und uns abzuwechseln. Wir haben gelernt, dass es wichtig ist, so viel Energie wie möglich zu sparen. Wir werden so lange durchhalten, wie es nötig ist.
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Doroteja Antić, 23, beteiligt sich seit dem Einsturz des Bahnhofsdachs in Novi Sad an den Demonstrationen und ist aktiv in der studentischen Initiative Students Against Authoritarian Rule (STAV). Diese wurde vor einem Jahr von Studierenden der philosophischen Fakultät der Universität von Novi Sad gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, Bürger und Bürgerinnen über ihre Grundrechte aufzuklären und junge Menschen für politische Anliegen zu aktivieren.