Im Scherbenhaufen der Moderne
Nichts lieben Verlage und Buchhändler mehr, als mit großen Worten anzukündigen, dieser oder jener ihrer Wälzer sei äußerst relevant, gar »das Buch der Stunde«. Dass Andreas Reckwitz, Professor für Allgemeine und Kultursoziologie an der HU Berlin, keiner ist, der die Dringlichkeit seiner Bücher herbeischreiben muss, hat er bereits mehrfach gezeigt, zuletzt aber wohl am prominentesten 2017 mit seiner Monographie »Die Gesellschaft der Singularitäten«.
Bis heute wird seine Theorie, dass die Moderne tendenziell Vereinzelung und Individualisierung fördere, wohingegen »das Allgemeine« in der Krise stecke, weit über die Grenzen des Fachs hinaus rezipiert und zitiert. Das Buch erhielt Preise, wurde vielfach aufgelegt und in etliche Sprachen übersetzt. Selten genug kommt es vor, dass ein Werk aus der Soziologie derart erfolgreich wird; noch seltener kann ein solches Buch die Vielfältigkeit der Erklärungskonzepte des Fachs abbilden – ohne bloß ein neues Vokabular für alte »Weltbeziehungen« (Hartmut Rosa) zu präsentieren.
Reckwitz zufolge trägt die »spätmoderne Kultur« mit ihrer dominanten Erzählung vom beständigen Fortschritt, die Verlusterfahrungen grundsätzlich marginalisiert, paradoxerweise eine »verstärkte Verlustsensibilität« in sich.
Reckwitz’ neueste Veröffentlichung trägt den Titel »Verlust« und postuliert in der Unterzeile, nichts Geringeres als ein »Grundproblem der Moderne« zu beschreiben. Da dürfte der Suhrkamp-Verlag die Sektflaschen geköpft haben, denn an Indizien für die Relevanz des Themas mangelt es gegenwärtig nicht: »Deutschlands neue Abstiegsangst – wer jetzt um Lebensmodell und Wohlstand fürchten muss«, lautete eine Meldung aus dem Spiegel vom Januar. In dem dazugehörigen Artikel geht es unter anderem um ein vom Arbeitsplatzverlust bedrohtes Ehepaar, das sich fragt, wie Haus, Zweitwagen und Pferd (!) noch bezahlt werden wollen.
Herbeigeschrieben ist er also schon allgegenwärtig, der Verlust, und wie: Zwar müssten die wenigsten um ihre blanke Existenz bangen, dennoch gebe es, so Der Spiegel, einen »Abstiegskampf neuer Art«, der den Beschäftigten aufgezwungen werde und in welchem »Wohlstand und Sicherheit« sowie »Zuversicht« und der »Fortbestand fein austarierter Lebensmodelle« drohten, verloren zu gehen.
Sauberer Begriffsarbeit, praxeologischer Ansatz
Eine bessere Werbung für Reckwitz’ Thesen zum spezifisch modernen Verlust lässt sich kaum denken. Der Soziologe beginnt sein Buch zunächst mit sauberer Begriffsarbeit: Verloren geht in der modernen Welt zwar ständig irgendetwas, aber nicht alles ist ein Verlust. Gravierender noch: Was als Verlust wahrgenommen wird und was nicht – so eine zentrale These des Buchs –, ist selbst Ausdruck einer bestimmten Vergesellschaftung.
Fortan führt Reckwitz den Leser durch seine Theoriewelt, grenzt den Verlust ab vom bloßen »Verschwinden«, unterscheidet Selbst-, Welt-, Status-, Stabilitäts- und Zukunftsverlust sowie Verlust im »schwachen« und »starken Sinne«. Verstanden werden muss sein Buch spätestens hier als Fortschreibung des für Reckwitz typischen praxeologischen Ansatzes, weshalb er viel Wert darauf legt, seinen Untersuchungsgegenstand nicht zu essentialisieren: Verlust ist bei ihm stets etwas, das erst durch ein bestimmtes Handeln gewissermaßen als solcher wirkt (doing loss). Zudem erklärt der Autor, wie andere Theoretikerinnen und Theoretiker der Moderne, insbesondere der mit seinen Arbeiten zu Geschichte und Zeitwahrnehmung bekannt gewordene Reinhart Koselleck, sein Denken beeinflusst haben.
Insbesondere im Rückgriff auf jene Arbeiten Kosellecks zeigt Reckwitz, wie sein moderner Verlustbegriff erst im Rahmen spezifisch moderner Fortschrittserzählungen zur Geltung kommt: »Zukunft« kann nur verlieren, wer eine bestimmte Zukunft erwartet; »sich selbst« wiederum verliert nur derjenige, der eine bestimmte Vorstellung von seiner Rolle in einer Gesellschaft hat. Mit ihrer dominanten Erzählung vom beständigen Fortschritt, die Verlusterfahrungen grundsätzlich marginalisiert, trage die »spätmoderne Kultur« paradoxerweise eine »verstärkte Verlustsensibilität« in sich. Was man gestern noch konnte, mochte, hatte, ist heute vielleicht schon nutzlos, »veraltet« oder schlicht nicht mehr vorhanden. Ein Verlierer möchte aber keiner sein, und wer dem Verlorengegangenen allzu sehr hinterhertrauert, ist »altmodisch«, »rückständig«, »nostalgisch«.
»Modern sein heißt, Verluste anzuheizen«
»Modern sein heißt, Verluste anzuheizen«, subsumiert Reckwitz folglich und attestiert der Moderne ein widersprüchliches Verhältnis zu ihrem Fortschreiten, das beständig Neues hervorbringt, dabei aber einen stetig wachsenden Berg an Verlorengegangenem anhäuft. So weit, so Frankfurter Schule. Nur, was tun mit all diesen Verlusten?
In der zweiten Hälfte des Buchs beginnt Reckwitz mit seiner Analyse jener Praktiken, mit denen seiner Meinung nach die typisch modernen Verlusterfahrungen bearbeitet oder aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt werden. Diese sind mannigfaltig und reichen von »Retro-Tendenzen der Postmoderne« wie nostalgischen Revivals über die »therapeutische Behandlung von Depressionen« und »Opferpolitik« bis hin zur Haftpflichtversicherung.
All diesen Kulturpraktiken sei gemeinsam, dass sie erst durch einen realen oder antizipierten Verlust ihre Bedeutung erlangen: Nostalgie erlaube einen kreativen Zugriff auf das vermeintlich »überholte« Vergangene; aus zurückliegenden Diskriminierungen können wirkmächtige, zukunftsorientierte politische Erzählungen generiert werden; und in der Psychotherapie lernen die modernen Subjekte, ihre Einstellung zu Verlusten zu ändern, damit sie nicht weiter unproduktiv trauern, sondern den Blick schnell wieder auf den kommenden Wahnsinn richten.
Rechtspopulisten als »Verlustunternehmer«
So werden die Verluste auf eine Art und Weise bearbeitbar, die das Fortschrittsnarrativ intakt lässt: Ja, eine geliebte Sache, eine Person oder ein Ort ist nicht mehr – aber es gibt ja noch ganz viele andere, oder es wird sie geben, bestimmt. Verdrängt werden Verluste hingegen, wenn das Objekt, auf das sie sich beziehen, so gar nicht mehr in die Fortschrittserzählung passen will, weder kreativ noch produktiv. So ist die DDR zwar verschwunden, wer aber ihren Verlust beklagt, gilt selbst als verloren.
Reckwitz‘ Verlustbegriff bleibt zwar dynamisch, wird aber nie schwammig. Das wird besonders deutlich im Kapitel über jene, die aus den Verlustempfindungen der Subjekte politisches Kapital schlagen. »Verlustunternehmer«, wie Reckwitz Rechtspopulisten bezeichnet, arbeiten politisch mit dem Scherbenhaufen der Moderne und entwerfen eine Vision von Fortschritt ohne Verluste.
Erstaunlich kurz kommt dieses Phänomen in dem dicht geschriebenen Buch, gemessen daran, dass sich Reckwitz‘ Thesen und Begrifflichkeiten beim Thema politisches Verlustunternehmertum wohl am deutlichsten bewähren. Aber so ist das eben mit der Relevanz: Wer sie erst wortgewaltig beschwören muss, hat sie wohl schon verloren.
Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp, Berlin 2024, 463 Seiten, 32 Euro