Störungen im Betriebsablauf
Vor jeder Wahl gibt es Diskussionen über Sinn und Sinnlosigkeit des Wählens, über Systemkritik und die Notwendigkeit, für das geringere Übel zu stimmen. Vor allem letztere Frage ist heute ernster denn je, da die Grundlagen des Parlamentarismus erodieren.
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»Wählen ist nicht heiraten. Wählen ist öffentlicher Nahverkehr. Man wartet nicht auf ›den/die eine:n‹, sondern nimmt den Bus. Und wenn es keinen gibt, der genau ans Ziel fährt, bleibt man nicht zu Hause und nörgelt, sondern nimmt den, der einen dem Ziel am nächsten bringt.«
Dieses Zitat, ursprünglich 2020 auf einer Plattform gepostet, die damals noch Twitter hieß und nicht vollends zur Nazi-Kneipe verkommen war, wird in Wahlkampfzeiten gerne hervorgeholt, um Kritik an dieser oder jener Partei beziehungsweise generell an der parlamentarischen Demokratie abzubügeln (häufig von Leuten, die auf Mastodon, Bluesky oder sonstwo auch gerne Hashtags wie #Habeck4Kanzler oder #TeamRobert verwenden.)
Die Bus-Metapher war selbst in der »guten alten Zeit«, also bevor mit der CDU eine der vermutlichen künftigen Regierungsparteien den demokratischen Rahmen verlassen hat, falsch oder zumindest naiv. Dennoch ist das Bild gut geeignet, um zu erklären, was am derzeitigen politischen System so kaputt ist. Naiv deshalb, weil sie ein Politikverständnis voraussetzt, wie man es in der Schule gelernt hat: mit Parteien, die die Interessen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen vertreten und sich dabei konstruktiv auf Kompromisse einigen. Auf jeden Fall sind alle am Gemeinwohl – in unserem Bild: einem funktionierenden ÖPNV – interessiert (»Omnibus« bedeutet schließlich »für alle«) und alles wäre super, gäbe es da nicht diese eine Gruppierung, die den Nahverkehr zerschlagen und stattdessen mit dem Bus straflos Menschen überfahren will.
Arme Bevölkerungsschichten tendieren überdurchschnittlich stark zum Nichtwählen, und das nicht etwa, weil die Botschaften der Parteien sie nicht erreichen würden.
Man muss nicht gleich mit einer tiefschürfenden linksradikalen Kritik der parlamentarischen Demokratie oder der These vom Staat als ideellem Gesamtkapitalisten kommen, um zu sehen, wo die Metapher hinkt. Mit der neoliberalen Wende seit den achtziger Jahren und noch verschärft seit dem Wegfall der Systemkonkurrenz in den Neunzigern wurde die schrittweise Zerstörung des ÖPNV nämlich schon vor Jahrzehnten zur Staatsräson erhoben – nebenbei bemerkt auch ganz real, wie sich unschwer am Zustand der Deutschen Bahn erkennen lässt.
Im übertragenen Sinne stehen viele Viertel schon längst nicht mehr auf dem Fahrplan: Sie tragen Namen wie bezahlbare Mieten, Gesundheitsversorgung oder Sozialsystem. Tatsächlich tendieren arme Bevölkerungsschichten überdurchschnittlich stark zum Nichtwählen, und das nicht etwa, weil die Botschaften der Parteien sie nicht erreichen würden, wie es aus den jeweiligen PR-Abteilungen in solchen Fällen gerne heißt.
Vielmehr kommt schon recht deutlich an, dass deren Probleme nicht diejenigen sind, die von den Regierungsanwärtern thematisiert werden, und sie sich von deren schönen Worten nichts versprechen können, sondern eher etwas zu befürchten haben, während sie mit der sich täglich verschärfenden Hetze gegen Bürgergeldempfänger:innen und all die übrigen Habenichtse konfrontiert sind. Zu diesem Ergebnis kommt beispielsweise die 2024 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) veröffentlichte Studie »Wählen macht doch (k)einen Unterschied – Klassenförmige De- und Remobilisierung bei Nichtwähler:innen«, die mit Haustürgesprächen in sogenannten Problemvierteln verschiedener Städte die Motive für die (Nicht-)Wahlentscheidungen der Bewohner:innen untersuchte.
Mit dem Aufstieg des neoliberalen Faschismus ist ein Umschlagpunkt erreicht
Betrachtet man die Sache so simpel wie in den schönen Erzählungen aus dem Gemeinschaftskundeunterricht, dann fehlte also bloß eine sozialdemokratische Kraft, die diesen Namen verdient (was ja stimmt, aber zu kurz greift), beziehungsweise, um im Bild vom Nahverkehr zu bleiben, eine durch Unternehmens- und Vermögenssteuern finanzierte Buslinie, die die vernachlässigten Stadtteile wieder anfährt. Auch die Linkspartei wird von den Abgehängten übrigens kaum als ein solches Korrektiv wahrgenommen, wie die RLS-Studie ebenfalls aufzeigt.
Tatsächlich aber lebte man auch vor dem Abriss der Pappmaché-Brandmauer nicht in der Bilderbuchgeschichte von der Demokratie als ÖPNV, sondern in einem System, das ganz auf den motorisierten Individualverkehr zugeschnitten ist – auch das wieder ganz wie im echten Leben – und auch nicht in erster Linie dazu dient, dass Menschen von A nach B kommen, sondern dem Selbstzweck der Mehrwertproduktion (plus der Bereicherung der Automanager). Wer sich keinen PKW leisten kann oder will, darf sehen, wo er oder sie bleibt; öffentliche Transportmittel werden – zähneknirschend – nur insoweit finanziert, wie sie dazu dienen, das Humankapital an den Arbeitsplatz zu befördern. Und rechts hat natürlich grundsätzlich Vorfahrt.
Neu ist das alles nicht. Mit dem derzeitigen Aufstieg des neoliberalen Faschismus ist jedoch ein Umschlagpunkt erreicht, an dem nicht nur die vollständige Abschaffung des ÖPNV, sondern auch gleich noch der Straßenverkehrsordnung auf dem Programm steht und nurmehr das Gesetz des Stärkeren gilt. Fußgänger:innen und Radfahrer:innen werden zu Freiwild.
Ganze Viertel in Flammen, während andere absaufen
Und damit nicht genug: In unserem Metaphernstädtchen gäbe es dann ja nicht nur keine Jugendhilfe, keine Integrationskurse für Zugewanderte, keine psychosoziale Betreuung und keine öffentlichen Freizeiteinrichtungen mehr – es stehen ganze Viertel in Flammen, während andere absaufen. Mit der sich zuspitzenden Klimakrise hat der Kapitalismus in den »Rette (und bereichere) sich, wer kann«-Modus geschaltet, und da ist der Umweg über die Legitimationsinstanz der parlamentarischen Demokratie nur lästig, auch wenn ein Großteil der Verlierer:innen des Systems sich ohnehin damit zufrieden gibt, dass es anderen noch schlechter geht.
Sie stehen zwar meckernd an der Haltestelle, weil der Bus nicht kommt – aber Hauptsache, der bringt jetzt diejenigen außer Landes, »die uns immer die Sitzplätze wegnehmen«, es gibt keine linksgrünwoken Radwege und am Wartehäuschen bettelt oder säuft niemand und erinnert daran, wie schnell der Absturz auch eine:n selbst treffen kann.
Wieso Leute, selbst zum eigenen Schaden, lieber den Arschlochmodus wählen, statt nach solidarischen Lösungen zu suchen, haben andere besser erklärt. Nach wie vor gilt aber Max Horkheimers Diktum: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« Und die Kapitalist:innen kennen sich ebenfalls bestens mit der Massenpsychologie des Faschismus aus und reizen deren Klaviatur mit geballter wirtschaftlicher, politischer und (sozial)medialer Macht aus.
Die Mitfahrenden mit ihren Pali-Feudeln
Klar, es gibt auch noch all diejenigen, die über die Rechtsentwicklung entsetzt sind und derzeit wieder massenhaft dagegen auf die Straße gehen. Die aber wollen zumeist das K-Wort nicht in den Mund nehmen (ja nicht einmal darauf hinweisen, dass die sogenannte Schuldenbremse ein Konjunkturprogramm für Nazis darstellt) und belächeln die paar, die es dennoch tun, als linke Spinner:innen.
Eigentlich wollen sie doch nur zurück auf den guten alten Spielteppich mit dem bunten Autobus, der längst in der Mottenkiste gelandet ist – während ihnen die angeblich linksliberalen Parteien in der Realität Abschiebebusse mit Elektroantrieb anbieten und versprechen, dass wenigstens diejenigen bleiben dürfen, die der Wirtschaft nutzen. Warum die verbliebenen nominaldemokratischen Kräfte es allerdings nicht einmal aus Selbsterhaltungswillen geschafft haben, auch nur einen AfD-Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht einzureichen, wird dereinst eine heiß diskutierte Frage der Geschichtswissenschaft sein.
So kaputt der ganze Parlamentarismus auch ist, gewählt werden muss diesmal – solange das noch möglich ist. Müsste die Autorin eine Wahlempfehlung abgeben, bliebe damit nur die Linkspartei übrig. Der Bus ist zwar so klapprig, dass man fürchten muss, er könnte an der nächsten Ecke liegenbleiben, die Luft riecht ein bisschen muffig und so manche Mitfahrende sind einem mit ihren Pali-Feudeln und Friedenstauben reichlich suspekt – aber die schlimmsten Gestalten sind gerade ausgestiegen und die allgemeine Richtung stimmt halbwegs. Auch wenn man nicht sicher sein kann, ob dem Gefährt nach der nächsten Wahl nicht die Betriebserlaubnis entzogen und Linksabbiegen generell verboten wird.