Bedenken second
Wissenschaftler empfehlen dies, Wissenschaftler empfehlen das – diese Masche ist äußerst beliebt, um Leuten Überzeugungen, Verhaltensweisen und Shampoo gegen Haarausfall aufzuschwatzen. Auch im Wahlkampf kommt sie zum Einsatz: »Darum wählen Wissenschaftler*innen ›Die Linke‹« lautet der Titel eines kürzlich veröffentlichten und mittlerweile von knapp 1.800 Personen unterschriebenen Aufrufs. Dessen Anliegen resümiert der Unterzeichner Stephan Lessenich, der heutzutage Max Horkheimers einstiges Amt am Frankfurter Institut für Sozialforschung bekleidet: »Jetzt, wo der Faschismus wieder salonfähig geworden ist, gilt es, ›Die Linke‹ zu wählen. Bedenken second.«
Antifa heißt, das Kreuzchen bei der Linkspartei zu machen, scheint die Parole der Stunde zu sein, die auch in den sozialen Medien erklingt. Häufig erfolgen Wahlempfehlungen mit einem Verweis auf die sozialen Forderungen der Partei: Steuersenkungen für die Mehrheit und -erhöhungen für diejenigen, die es ganz dick haben; höhere Löhne und bezahlbarer Wohnraum; nicht nur eine Preisgrenze für Glühwein (höchstens 3,50 Euro für einen Becher forderte »Die Linke« im Dezember), sondern eine generelle Senkung der Lebenshaltungskosten.
Was zählt, sind die Beschlüsse der Partei: keine Waffenlieferungen an Israel und die Ukraine. Wie das bei den Wählern ankommt, wird sich zeigen. Gefallen dürfte der Beschluss Wladimir Putin, den Mullahs, den Houthis, der Hizbollah und der Hamas.
Die Linkspartei vertritt damit allerdings lediglich sozialdemokratische Forderungen, die vor einigen Jahrzehnten noch zum Programm der SPD gehörten und nicht im Verdacht stehen, an den Grundfesten des politischen und wirtschaftlichen Systems zu rütteln. Die bevorzugten Worthülsen der Partei wie »soziale Sicherheit«, »soziale Gerechtigkeit« und »Anerkennung für Arbeit« könnten den staatstragenden Texten der Bundeszentrale für politische Bildung entlehnt sein. Dass die Partei dennoch derzeit als Hoffnungsträgerin gilt und Linke in Zweckoptimismus und Bedenken mindernden Korpsgeist verfallen lässt, ist ein weiteres Zeichen dafür, welch reaktionäre gesellschaftliche Stimmung herrscht.
Der Mangel an radikaler Gesellschaftskritik ließe sich vielleicht verkraften, wenn dafür künftig wenigstens einige Abgeordnete in einem Bundestag, in dem es hauptsächlich um Abschiebungen, die Gängelung von Erwerbslosen und Maßnahmen zulasten der Lohnbeschäftigten gehen dürfte, gelegentlich die Möglichkeit eines Preisdeckels für Mieten in Erinnerung rufen würden.
Ein bisschen gegen Antisemitismus, ein bisschen dafür
Allerdings könnten sich solche gewählte Vertreter ja auch noch zu anderen Dingen äußern. Manche Zirkel in der Linkspartei liefen etwa nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zu ganz großer Form auf, um dem Antisemitismus in seiner derzeit virulenten Form, dem Hass auf den jüdischen Staat und dessen Einwohner, innerparteilich und auf der Straße zu Geltung zu verhelfen.
Wahlwillige mögen sich damit beruhigen, dass die Partei im Dezember den antizionistischen Agitator Ramsis Kilani ausschloss, woraufhin dessen trotzkistische Gruppe »Sozialismus von unten« samt der altbackenen Antiimperialistin Christine Buchholz »Die Linke« verließ. Zuvor waren allerdings bereits etliche Israel nicht feindlich gesinnte Funktionärinnen und Funktionäre aus der Partei ausgetreten, wegen deren mangelnder Abgrenzung zum linken Antisemitismus. So herrscht zurzeit also wieder Parität: ein bisschen gegen Antisemitismus, ein bisschen dafür.
Ähnlich scheinen es auch die der Linkspartei gewogenen Wissenschaftler zu halten. »Dass Auschwitz, Verfolgungen, Folter und Völkermorde sich nicht wiederholen«, beschreiben sie in ihrem Aufruf einen der »Imperative« der Partei. Welche Völkermorde gemeint sind, die da in einem Satz mit der Shoah genannt werden, könnte vielleicht der Direktkandidat der Linkspartei für Neukölln, Ferat Koçak, beantworten. In der vergangenen Woche veröffentlichte er auf dem Portal theleftberlin.com eine Stellungnahme mit dem Titel »Stop The Genocide! Break The Silence!« Er verbreitet darin die zurzeit gern von Linken mit revanchistischer Genugtuung gegen den jüdischen Staat vorgebrachte Lüge, dieser begehe einen Völkermord an den Palästinensern.
Schönsaufen hilft nicht
Politiker wie Koçak reden und schreiben viel. Was zählt, sind die Beschlüsse der Partei: keine Waffenlieferungen an Israel und die Ukraine. Wie das bei den Wählern ankommt, wird sich zeigen. Gefallen dürfte der aus naivem Pazifismus, verstaubtem Antiimperialismus und freidrehendem Postkolonialismus gespeiste Beschluss Wladimir Putin, den Mullahs, den Houthis, der Hizbollah und der Hamas.
Mag die Linkspartei also wählen, wer will, ob mit Bedenken oder ohne. Vorerst sind die Wahlen ja noch frei, gleich und geheim. Doch auch mit der größten Menge günstigen Glühweins lässt sich »Die Linke« nicht schönsaufen.