Die Stadt umarmen
Oleh Shpudeiko dreht den Regler etwas auf, zupft an den bunten Kabeln seines modularen Synthesizers. Es ertönen langgezogene, wummernde Töne, ein sonores Rauschen, das schließlich in eine mittelalterliche Melodie übergeht. Der Synthesizer liegt vor ihm auf einem Tisch beim Auftritt im »Silent Green« Ende Januar in Berlin. Ihm gegenüber steht die Sängerin Andriana-Yaroslava »Yasia« Saienko, sie singt im Sopran, variiert mühelos die Stimmlagen; die Intonation erinnert an osteuropäischen, auch an arabischen Gesang, doch die Texte sind auf Latein. Es sind mittelalterliche Gesänge Hildegard von Bingens, die das ukrainische Künstlerduo hier mit Folk-Musik aus ihrem Land verbindet. Wuchtig, tief, fast liturgisch klingt das.
Das Projekt »Гільдеґарда« (Hildegard) ist eine weitere Arbeit des Kiewer Musikers und Komponisten Shpudeiko, Künstlername Heinali. Er ist in der Welt der experimentellen Musik genauso zu Hause wie in der der Alten Musik; oft nutzt er Synthesizer, um mittelalterliche und frühneuzeitliche Musik neu zu interpretieren, zum Beispiel auf dem Album »Madrigals« von 2020. Zuletzt hat er mit dem Track »Aves Rubrae« die polyphonen Organa-Klänge der Notre-Dame-Schule mit dem Synthesizer wiederbelebt. Er tritt bei den weltweit wichtigsten Festivals der Experimentalmusik auf, so fand auch das Konzert Ende Januar im Rahmen des Berliner CTM-Festivals statt. Shpudeiko lebte lange in Kiew, ging nach dem Beginn des russischen Großangriffs 2022 nach Lwiw und hält sich seit einem Stipendium in Köln 2023 in Deutschland auf.
»Die Kunst, die mich nach dem 24. Februar 2022 am meisten angesprochen hat, war religiöse Kunst aus dem Mittelalter und der Renaissance.« Oleh Shpudeiko
»Hildegard« ist ein für ihn typisches Werk, insofern es alte Klänge in die (politische) Gegenwart katapultiert. Es geht Shpudeiko auch darum, ukrainische Vokalmusik in Kontexten zu präsentieren, in denen man sie vielleicht nicht erwartet. »Der traditionelle ukrainische Gesang und spezifisch ukrainische Musiken sind eigentlich nach der Unabhängigkeit erst wieder richtig aufgetaucht«, sagt er nach dem Konzert im Gespräch mit der Jungle World; neben ihm im Backstagebereich sitzt Yasia Saienko. Lange habe das Sowjetregime versucht, der Ukraine eine vermeintlich volkstümliche Kultur zu oktroyieren – ländlich, kitschig, ohne jegliche Widersprüche. »Erst seit 1991 gab es eine Art Renaissance dieser authentischen Gesangskultur.« Einige der wiederentdeckten Stücke sind dabei über die Grenzen der Ukraine hinaus bekannt geworden, zum Beispiel das alte Klagelied »Plywe katscha po Tyssyni«, das zur Hymne der Getöteten vom Maidan 2014 wurde.
Shpudeiko setzt sich für sein Land ein, er unterstützt die Aktion »Musicians Defend Ukraine«, 2022 sammelte er Geld für die Initiative, als er ein Set aus einem Bunker in Lwiw via Livestream übertrug. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte er das Album »Kyiv Eternal« als Hommage an seine Heimatstadt. Ambient- und Drone-Klänge kommen darauf mit Field Recordings zusammen, die er über viele Jahre in der ukrainischen Hauptstadt gesammelt hat.
Man hört Straßenbahnansagen, Vogelgezwitscher im Botanischen Garten, das Treiben auf den Plätzen der Stadt. Die Angriffe auf Kiew seien ihm sehr nah gegangen, er habe die Stadt mit diesen Stücken umarmen wollen. »Das Album erzählt von einer Vergangenheit, die wir verloren haben, und zugleich von einer Zukunft, die wir in der Vergangenheit verloren haben«, sagt er. Inzwischen hadert er allerdings ein wenig mit »Kyiv Eternal«. Er glaubt, das Album funktioniere als musikalisches Denkmal für die Stadt vielleicht in der Diaspora, nicht aber für die Menschen in der Ukraine, die den Schmerz des Verlusts unmittelbar spüren.
Sein politisches Engagement sieht Shpudeiko losgelöst von seiner Ästhetik. »Natürlich bin ich ein politischer Mensch, und ich beziehe mich als Künstler auf das Politische«, sagt er, »andernfalls würde ich als Clown enden.« Und doch will er keine allzu plakative oder gar propagandistische Kunst machen, das stoße ihn ab. »Ich mag Dinge, die nuanciert sind, die subtil sind, die dem Betrachter nicht direkt ins Auge springen.«
Bei ihm hat der umfassende russische Angriffskrieg, dessen Beginn sich bald zum dritten Mal jährt, zu einer weiteren Hinwendung zur Kunst früherer Jahrhunderte geführt, die zeitgenössische Kunst interessiere ihn seither weniger. »Die Kunst, die mich nach dem 24. Februar 2022 am meisten angesprochen hat, war religiöse Kunst aus dem Mittelalter und der Renaissance.«
Shpudeiko erzählt begeistert von einem Konzerterlebnis beim Early Music Festival Utrecht im Jahr 2022. Das von Björn Schmelzer geleitete Ensemble Graindelavoix sei dort aufgetreten und habe Klagelieder des Renaissance-Komponisten Josquin Desprez auf die Bühne gebracht. »Das war die schrecklichste und schönste Erfahrung in meinem ganzen Leben.« Die Musik eines Komponisten, der vor 600 Jahren gelebt hat, habe all die traumatischen Erfahrungen der Ukraine der Gegenwart angesprochen. Mit den »Hildegard«-Werken verhalte es sich ähnlich, sagt Shpudeiko: »Wir haben Hildegard von Bingens Musik wie einen fernen Spiegel der Geschichte benutzt, um unsere Kriegserfahrungen zu reflektieren.«
Britische Avantgarde der achtziger Jahre
Oleh Shpudeiko hat seit seinem Debüt 2010 am meisten mit dem Musiker und Komponisten Alexey Shmurak zusammengearbeitet, beide betreiben zusammen auch einen Musik-Podcast (auf Ukrainisch) und haben kürzlich zusammen das Album »Liebestod« veröffentlicht. Während Shpudeiko sich das Komponieren mit Synthesizern autodidaktisch angeeignet hat und der elektronischen Musik nahesteht, kommt Shmurak aus dem akademischen Bereich. Von ihm habe er, Shpudeiko, unter anderem die Technik der »structured improvisation«, also das regelbasierte und angeleitete Improvisieren, erlernt.
Beide stehen dafür, altes Material neu zu arrangieren und gegenwärtig klingen lassen. »Alte Musik als museale Praxis interessiert mich nicht. Da denke ich sofort an die Idee eines goldenen Zeitalters, in dem formvollendete und unantastbare Musik komponiert wurde. Für mich ist das Bullshit«, sagt Shpudeiko. Jede Musik trage Widersprüche in sich, die man nicht negieren könne; man dürfe die alten Stücke nicht als starre, feststehende Form betrachten. »Ich fände es interessanter, wenn mehr Künstler:innen die Alte Musik nähmen, um damit zeitgenössische Zusammenhänge oder Themen abzubilden.«
David Lynch sei ein gutes Beispiel, wie es gelingen könne, Kunstgeschichte zu remixen und gleichzeitige Grenzen zu überschreiten.
Entsprechend passt es, dass seine größten Einflüsse auch aus den britischen Avantgarden der achtziger Jahre kommen. Die Gruppen Coil, Current 93 und Death in June nennt der 39jährige als wichtige Inspiration, auch im Bereich der Literatur habe ihn die transgressive Kunst am meisten beeinflusst, als Teenager habe er William S. Burroughs, Pierre Guyotat und Gabrielle Wittkop gelesen. Dieser Geist fehle ihm manchmal in der zeitgenössischen Musik. David Lynch sei ein gutes Beispiel, wie es gelingen könne, Kunstgeschichte zu remixen und gleichzeitige Grenzen zu überschreiten. »Ihm ist es gelungen, Tiefe auf seine eigene Art und Weise zu kreieren«, sagt Shpudeiko.
Während Yasia Saienkos Stimme an diesem Januarabend in Berlin in verschiedenen hohen Tonlagen durch den Raum schwebt, lässt Oleh Shpudeiko den Synthesizer mal wie ein Cembalo, mal wie einen verzerrten Gitarrenton, mal wie ein Störgeräusch erklingen. Shpudeiko bekommt ihn irgendwie hin, den Brückenschlag von Lynch bis Liturgie, von Klassik zu Club, von Ancient bis Ambient.