20.02.2025
Der ukrainische Autor und Musiker Serhij Zhadan hält den Überlebenskampf seiner Landsleute fest

Poet im Grenzland

Der ukrainische Musiker, Schriftsteller und Lyriker Serhij Zhadan hält in Postings und Gedichten den Überlebenskampf seiner ­Landsleute fest.

»50 und 1 Gedicht« enthält der neue Band »Chronik des eigenen Atems« des ukrainischen Lyrikers Serhij Zhadan, wie der Untertitel ankündigt. Das 2023 in der Ukraine erschienene, mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegende Buch versammelt Gedichte aus den Monaten vor und nach dem Beginn der russischen Invasion. Zwischen den beiden Teilen klafft ein Abstand von vier Monaten. Es ist die Zeit unmittelbar nach Kriegsbeginn, in der Zhadan seine Arbeit an dem Band unterbrochen hatte, weil an Poesie nicht zu denken war.

Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren, studierte Germanistik und promovierte über den ukrainischen Futurismus. Er ist nicht nur Lyriker und Erzähler, sondern auch Punkmusiker und Übersetzer und gehört zur Kulturszene seiner Wahlheimat Charkiw.

Dem Nationalismus, den es in der Ukraine genauso gibt wie in jedem anderen Staat, gilt nicht Zhadans Sorge, sein Augenmerk liegt auf der neuen solidarischen Erfahrung als einer Sprache der Zuwendung – zu den Lebenden wie zu den Getöteten.

Nach dem Überfall half er dort als sogenannter Volontär (ziviler Freiwilliger) bei der Verteidigung der von russischen Truppen belagerten ­Metropole. Er sammelte Spenden, ermittelte Hilfsbedarfe, organisierte Ausrüstung und Verpflegung, fuhr kreuz und quer durch die beschossene Stadt und machte Mut mit Konzerten und Lesungen. Auf Facebook und Twitter/X dokumentierte er die Ereignisse. Sein 2022 (nur auf Deutsch) erschienenes Buch »Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg« enthält eine Auswahl seiner Posts aus dieser Zeit.

Es ist ungemein erhellend, die einander zeitlich ergänzenden, formal jedoch sehr unterschiedlichen Chroniken zusammen zu lesen. Die Aufzeichnungen aus den ersten Kriegsmonaten liefern den Kontext für die Verse des Gedichtbands und helfen dabei, dessen konkrete Sprachbilder zu entschlüsseln.

»Brusttaschen des Lebens«

In einem am 15. Juni 2022 auf Facebook veröffentlichten Gedicht, das als einziges lyrisches Stück in den ansonsten nur aus Prosatexten bestehenden Band »Himmel über Charkiw« aufgenommen wurde, heißt es: »So viel ich auch von der leeren, wortlosen / Luft dieses Frühlings, der brennenden, sprachlosen / Luft des Sommers schlucke, // es zeigt sich, dass die Sprache stärker ist als die Angst des Schweigens, / sie soll mit sich die Brusttaschen des Lebens füllen, / sie soll die Orte umfangen, wo Menschen zusammenkommen, / wo sie so über sich reden müssen, / dass man sie von nun an immer / an der Stimme erkennt.«

Die »Brusttaschen des Lebens« sind ein eindrückliches Sprachbild für die schusssicheren Westen, die für viele Ukrainer:innen zum Alltag gehören. Zhadan beobachtet, dass sich die freiwilligen Helfer in Charkiw seit dem 24. Februar 2022 nur noch auf Ukrainisch verständigen, nicht selten in einem gebrochenen, aber gespickt mit dem Schibboleth des Charkiwer Regiolekts. Zhadan sieht darin keinen Konformismus, sondern den Ausdruck eines »Andersseins« – von enormer Bedeutung in der bis dahin größten russischsprachigen Stadt außerhalb Russlands, die in den ersten Tagen des Angriffs von Saboteuren infiltriert und mit Propaganda überflutet wurde, während sie unter starkem ­Artilleriebeschuss stand.

Die Gedichte seiner tagebuch­artigen »Chronik des eigenen Atems« stehen in einem Austausch nicht nur mit Überlieferungen – mit biblischen Psalmisten genauso wie mit ukrainischen Linguisten –, sondern immer auch mit anderen ­Versen und Gedichten des Bandes. Ein wiederkehrendes Motiv ist die dröhnende Sprachlosigkeit, die über Charkiw hereingebrochen ist. Wobei der Versuch ihrer Benennung ein neues, ganz zartes, tastendes und doch festes, mit Gewicht versehenes Sprechen hervorbringt. Ein Sprechen, das zugleich offenherzig und taktvoll ist, gegenwärtig und eingedenkend, den Nächsten zugewandt, aber auch der drohenden Vernichtung, der es täglich abgetrotzt werden muss im ukrainischen »Grenzland«.

Der Gegenwart des Kriegs eine Sprache des Lebens entgegensetzen

Die Aufgabe, vor die sich Zhadan gestellt sieht – seine Verse formulieren sie in immer neuen Anläufen –, ist keine geringere als die, der Gegenwart des Kriegs eine Sprache des Lebens und der Fülle entgegenzusetzen. Dem Nationalismus, den es in der Ukraine genauso gibt wie in jedem anderen Staat, gilt nicht Zhadans Sorge, sein Augenmerk liegt auf der neuen solidarischen Erfahrung als einer Sprache der Zuwendung – zu den Lebenden wie zu den Getöteten. »Vielleicht sollte ich genau jetzt beginnen. // Sosehr ich mir auch sage, dass nicht die Zeit ist, / dass ich Worte nicht unbedacht aussprechen sollte, / die nicht richtig in der Stimme liegen, / die nicht in den Büchern des vergangenen Lebens stehen.«

Es ist ergreifend und aufschlussreich zu lesen, wie Zhadan sich dieser Aufgabe annimmt: als Fragender, Probierender, Lernender – ohne jeglichen literarischen Aktivismus, ohne Avantgarde- oder Pressesprecherpose. Doch kaum aufgenommen, sah sich Zhadan genötigt, diesen Teil seiner Freiwilligenarbeit bis auf Weiteres und vielleicht für immer zurückzustellen: Im Frühling vergangenen Jahres meldete sich der im August 50 Jahre alt gewordene Dichter, wie zuvor schon viele seiner Freunde und Kollegen, zur ukrainischen Armee. Nach durchlaufener Grundausbildung betreibt er einen Radiosender an der Front, der der Verständigung von ukrainischen Sol­dat:innen und Zivilist:innen dienen soll. Die Verständigung mit Zivilist:in­nen im westlichen Ausland hält der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 2022 mittlerweile für ziemlich aussichtslos.


Buchcover Chronik des eigenen Atems

Serhij Zhadan: Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Suhrkamp, Berlin 2024, 124 Seiten, 20 Euro


Buchcover Himmel über Charkiw

Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Juri Durkot und Claudia Dathe. ­Suhrkamp, Berlin 2022, 239 Seiten, 20 Euro