Der Problempatient
Regelmäßig sortiert der Hausarzt seine Patienten in eine persönliche Statistik. Sind alle Mehr- und Minderheiten vertreten? Haben sich Veränderungen ergeben? Und unterscheidet sich die soziale Mischung bei seinen Patienten von der, die in der Umgebung seiner Praxis zu finden ist? Wie kann er Werbung und Kundenansprache optimieren? So sehr er sich auch bemüht, so viel er auch an Empathie und pädagogischem Geschick investiert, bei einer Patientengruppe blickt er auf eine lange Geschichte des Scheiterns: Ältere und alte Männer wollen einfach nicht zu ihm kommen.
Es macht ihn traurig, hoffnungslos, ja auch wütend. Ausgerechnet die Gruppe, bei der er seine hausärztliche Kunst am besten unter Beweis stellen könnte, zieht es anscheinend vor, mit erhöhtem Blutdruck, Bratwurst und Bier auf dem Sofa zu sitzen, statt sich in seine vertrauensvolle fachliche Fürsorge zu begeben. Wovor haben sie Angst?
»Meine Frau schickt mich«
Verirrt sich doch einmal ein seltenes Exemplar dieser von Herzinfarkt und Schlaganfall bedrohten Gattung in seine Praxis, ereignen sich so oder so ähnlich folgende Dialoge: »Guten Tag, Herr M., was führt Sie zu mir?« – »Meine Frau schickt mich.« – »Und warum schickt Sie ihre Frau?« – »Weil sie sich Sorgen macht.«
Der Leser dieser Kolumne kann also erahnen, vor welchen Schwierigkeiten der Hausarzt angesichts des Verhaltens dieser Problemgruppe steht und welche kommunikativen Höchstleistungen von ihm verlangt werden.
Ein wenig hilft es dem Hausarzt, das Phänomen des allgemeinmedizinischen Männerabsentismus sozial- und gesundheitspolitisch zu betrachten. Denn nicht nur bei ihm sind Männer eine besonders sensible Kundengruppe. Studien zeigen, alte Männer gehen selten zum Arzt und bilden in den Praxen eine Minderheit, obwohl sie durchschnittlich schwerer krank sind und ein höheres Sterberisiko haben als Frauen ihres Alters.
Ab ins Kloster
Diese Tatsache scheint derartig unabänderlich, dass einige Wissenschaftler die Spezies Mann schon komplett abgeschrieben haben. Der Genetiker Steve Jones gibt Männern nur noch 125.000 Jahre bis zu ihrem molekularbiologisch bedingten Aussterben! Aber Männer können etwas tun, um ihre Lebenserwartung deutlich zu erhöhen und der von Frauen anzugleichen: nämlich früh im Leben in ein Kloster eintreten und dort möglichst bis zum Tod bleiben.
Das wiederum könnte der Lebenserwartung von Frauen zugute kommen. Denn andere Untersuchungen zeigen, dass verheiratete Frauen kürzer leben als unverheiratete – im Gegensatz zu verheirateten Männern. Auch gesellschaftlich sieht der Hausarzt nur Vorteile: weniger Gewalt gegen Frauen und andere Männer, weniger Krankenhausaufenthalte, die Kosten reduziert, die Gesellschaft gerettet!
Was aber macht das Klosterleben so gesund? Der geregelte Tagesablauf, der Verzicht auf Nikotin und Alkohol, die sozialen Kontakte, guter Schlaf, wenig Stress? Ist Beten gesund? Vermutlich ist es eine Mischung aus all dem. Jedenfalls scheint ausgerechnet das Kloster heutzutage der Ort, wo Männer am besten abgeschirmt werden vor den Gefahren, die Männlichkeit nun einmal so mit sich bringt: Gewalt, Autos und Überstunden.
Junge Männer verhalten sich weniger riskant. Zu danken ist das wohl der Schwulen- und LGBT-Bewegung der vergangenen Jahrzehnte, die auch heterosexuellen Männern die Vorzüge eines weniger machistischen Verhaltens beibrachte.
Zum Glück haben sich die Zukunftsaussichten auch ohne Masseneintritte ins Kloster gebessert. Junge Männer verhalten sich weniger riskant. Zu danken ist das wohl der Schwulen- und LGBT-Bewegung der vergangenen Jahrzehnte, die auch heterosexuellen Männern die Vorzüge eines weniger machistischen Verhaltens beibrachte. Hält der Trend an, könnten sich jüngere Männer auch außerhalb der Klostermauern zukünftig an einem längeren Leben erfreuen.
Der Hausarzt aber wird skeptisch, ja es läuft ihm bei solchen Erwägungen ein kalter Schauer den Rücken hinunter, altert er selbst der männlichen Risikogruppe jeden Tag ein wenig mehr entgegen. Für einen Klostereintritt ist es viel zu spät. Auch für Salat und Yogi-Tee bleibt keine Zeit mehr. Was hat er seinem Körper angetan über die Jahre?
Er will gar nicht daran denken. Ihn wird schon nichts umwerfen. Einen ärztlichen Kollegen aufzusuchen, ist jedenfalls keine gute Idee, da ist er sich sicher. Man ist schließlich so lange gesund, wie man nicht zum Arzt geht. Wer weiß denn, was dort herauskommt und ob man dann überhaupt noch was machen kann.