27.02.2025
Hanns Zischler und Hans-Jörg Rheinberger, Übersetzer, im Gespräch über Jacques Derridas »Grammatologie«

»Die Schrift ist kein Schatten der Sprache«

Jacques Derridas »De la grammatologie« von 1967 gilt als Grundlagenwerk des Poststrukturalismus. 50 Jahre nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe verfolgen deren Übersetzer Hanns Zischler (78) und Hans-Jörg Rheinberger (79) im Gespräch mit der Autorin und Performance-Künstlerin Olga Hohmann (32) und dem Journalisten Fritz von Klinggräff (65) Denkwege eines Buchs, das gerade im Nachmai für Erschütterungen sorgte, die bis heute nachbeben.

Derrida entwirft in »De la grammatologie« das Modell der Schrift, das Paradox der »ursprünglichen« Spur, als Medium einer postlogozentrischen Philosophie.
In der Bundesrepublik ist das Buch erst mit mehrjähriger Verspätung angekommen. Es liegt am 22. November 1974 druckfrisch im Briefkasten von Hans-Jörg Rheinberger, der es gemeinsam mit Hanns Zischler übersetzt hat. Sein deutscher Titel: »Grammatologie«.
Im Sommer 1975 rezensiert Lothar Baier »Grammatologie« in der »SZ« als den »aufregenden Versuch zeitgenössischer französischer Theorie, allgemein akzeptierte Wissenschaftspositionen« grundsätzlich in Frage zu stellen.
Knapp fünf Jahre hatte die fertige Übersetzung bei zwei Verlagen gelegen. Ihre beiden Übersetzer hatten sich inzwischen neuen Themen zugewandt: Zischler dem Theater, Rheinberger der Biologie.

*

Olga Hohmann (OH): Wir unterscheiden uns: Der Poststrukturalismus, über den wir hier nachdenken, ist etwas, das mich im Gegensatz zu Ihnen nur noch vermittelt prägte und prägt. Anekdotisch kann man dies vielleicht zusammenzufassen in einer Szene, in der ich als Zehnjährige aus der Schule komme und berichte: »Meine Lehrerin hat gesagt, man soll sich immer selbst treu bleiben.« Woraufhin mein Vater sagt: »Was meint sie mit ›sich selbst‹?« Am nächsten Tag verkünde ich also in der Schule: »Mein Papa hat gesagt: Da geht gar nicht mit dem Sich-selbst-treu-Bleiben, weil es das Selbst nicht gibt.« So viel zur Omnipräsenz des Poststrukturalismus, die ich auch als Fluch oder zumindest Hindernis erlebte. Ich verspüre hier also eine Distanz, die mich geprägt hat. Trotzdem bleibt die Frage: Wie sehr ist Derrida – intergenerationell – auch Teil meiner Sprache geworden, der Sprache meiner Generation?
Hanns Zischler (HZ): Darauf kann ich natürlich auch nur aus der Distanz antworten: Die »Lebenswelt« der siebziger Jahren war zumindest an der Universität anders als heute. Man hat die Leute gehört. Das war etwas sehr Prägendes. Dass ich jemanden hören will und wie ich jemanden hören will, musste dabei überhaupt nicht kongruent sein mit dem, was diese Person schrieb. Und auch diese Differenz ist in der Form verschwunden.
Hans-Jörg Rheinberger (HJR): Keine Frage, diese Differenz gab es. In ­Tübingen, 1966, hörte man den Philosophen Walter Schulz. Er las vor einem vollen Auditorium maximum. Man sprach nicht mit ihm. In Berlin war das genauso. Man hörte Klaus Heinrich, vielleicht noch Wilhelm Weischedel und Peter Szondi. Aber parallel dazu begann 1968 die selbstorganisierte Lektüre in den unabhängigen studentischen Arbeitskreisen. Das war eine ganz andere, völlig neue Arbeitsweise.

Fritz v. Klinggräff (FK): Das Hören wurde dadurch verdrängt?
HJR: Für mich schon. Ich hatte den Eindruck: Da habe ich jetzt mehr davon, da ist man involviert. Obwohl das Hören irre intensiv war. In Tübingen saß ich bei einem Heidegger-Epigonen in der Vorlesung und der hatte den Jargon zu hundert Prozent drauf. Der sprach eine Stunde lang ohne Unterbrechung, wie Heidegger geschrieben hatte.
HZ: Mit den dazugehörigen Personen ist das verschwunden. Der Berliner Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, der 2020 gestorben ist, war ein Überlebender dieser Generation. Ein anderer, Peter Szondi, der damalige Leiter des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, AVL, hat uns damals durch seinen Freitod früh verlassen.

 »Diese Fähigkeit Derridas, in die Wörtlichkeit der Wörter und das ganze Panorama ihrer Metaphorik vorzudringen: Das war einfach unerhört!« Hanns Zischler

Hinsichtlich der Grammatologie und ihrer Übersetzung durch uns aber möchte ich hier noch einen anderen Punkt erwähnen. Während Hans-Jörg Rheinberger schon damals sein Doppelstudium als Naturwissenschaftler und Philosoph betrieb, kam ich ja aus einer verlotterten, den Literaturwissenschaften affinen Hörertradition und war dann schon, bevor unsere Übersetzung überhaupt erschien, als Dramaturg an der Schaubühne gelandet. Das war 1972 bei Dieter Sturm. Mir gab Derrida für meine neue Arbeit den entscheidenden Impuls, dass man neue Formen des Erzählens finden kann. Derrida hatte eine Form gefunden, in den Kern der Sprache einzudringen und die Sprache in einer Weise fluid zu machen, wie es für mich bis dahin undenkbar war. Bei dem Dichter Francis Ponge habe ich so was später nochmal entdeckt. Diese Fähigkeit Derridas, in die Wörtlichkeit der Wörter und das ganze Panorama ihrer Metaphorik vorzudringen: Das war einfach unerhört! Er hat die Sprache auskultiert: So wie man das Herz abhört. Also fing man an, sich auch selbst beim Sprechen – und dann auch beim Schreiben – abzuhören. Das schärft in jeder Hinsicht die Wahrnehmung und verlässt einen nicht mehr. Hoffentlich.

OH: Vor zehn Jahren, beim Übersetzer-Workshop mit Marcel Beyer im Berliner HKW, betonten Sie: Derrida ist verlässlich, weil er einen nicht verlässt.
HJR: Derrida hat zu diesem Gestus des Lesens und des Schreibens in den sechziger Jahren gefunden – unter anderem mit der »Grammatologie«. In den folgenden Jahrzehnten hat er ihn perfektioniert. Dann hatte man manchmal das Gefühl: Gib ihm ein Wort und er redet zwei Stunden darüber, wie man dieses Wort von hinten oder von vorne lesen soll.

FK: In der »Grammatologie« aber betont er zugleich noch mit großer Geste: Ich ziele auf eine kommende Wissenschaft der Schrift. Auf eine Wissenschaft! Also Unterwanderung und Kritik an Saussure: ja. Aber noch mit dem Gestus des Wissenschaftlers. Das close reading des späten Derrida, in dem er sich mit Haut und Haaren einzelnen Begriffen oder Texten verschreibt, ist in seinem Sound fast leichter zu erfassen als die »Grammato­logie«, die einerseits harte philologische Wissenschaft ist und andererseits schon in weiten Teilen der Suchform folgt, die Hanns Zischler gerade beschrieben hat.
HJR: Das Programmatische einer harten Schriftwissenschaft hatte aber schon in der »Grammatologie« seine Risse. Im Vordergrund stand die Kritik. Nicht nur die der Linguisten seiner Zeit, sondern natürlich auch die kritische Lektüre des »Ursprungs der Sprachen« von Rousseau – die immerhin ein Drittel des Buches ausmacht – und die Dekon­struktion der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss. Prolegomena gewissermaßen, bei denen es bleiben musste.
HZ: Rousseaus »Ursprung der Sprachen« war 1970 übrigens noch nicht ins Deutsche übersetzt. Den mussten wir damals gleich noch mit übersetzen!

FK: Nein!
HZ: Doch. Eine völlig absurde Geschichte. In der deutschen Rezeptionsgeschichte Rousseaus kam der Text quasi nicht vor. Mit unserer Übersetzung mussten wir diese rund 200 Jahre lange Lücke noch schnell mitausfüllen. Das deutschsprachige Publikum durfte Rousseaus Thesen zum Ursprung der Sprachen gleichzeitig mit ihrer Dekonstruktion kennenlernen. Die Arbeit für uns aber begann schon bei dem verführerischen Titel »De la grammatologie«: Bei unserer Übersetzung haben wir lange über diesem »De la« gebrütet.
HJR: »Über Grammatologie« oder »Zur Grammatologie«: Beides klingt ja einfach nur falsch.

FK: »Zur Grammatologie« – warum nicht?!
HZ: Damals ging das gar nicht.
HJR: Man würde die Grammatologie mit einem »Zur« schon voraussetzen. Genau dies war ja nicht gemeint. Die Botschaft war doch: »Grammatologie« ist etwas, was erst noch zu entwerfen wäre.

FK: Damit sind wir jetzt endgültig da, wo wir hinwollten: bei Ihrer Übersetzung von »De la gramma­tologie«. Wie verlief Ihr Weg vom Lesen dieses französischsprachigen Buchs hin zu seiner Übersetzung? Und damit verbunden gleich eine zweite Frage: Wie sehr hat diese Übersetzungsarbeit Ihre so unterschiedlichen Karrieren ­vorgeprägt?
HJR: Die Übersetzungsarbeit war einfach eine unglaublich intensive Art des Lesens: eine Bewegung, die dem Leseakt einen haptischen Charakter gab. Denn Erkenntnis läuft nicht zuletzt über die Finger. Das ist etwas, was ich in den Naturwissenschaften wiedergefunden habe: Das Experimentieren hat diese Dimension des Mit-den-Händen-Denkens auch. Da fallen einem einfach andere Sachen ein. Wenn man vor der Schreibmaschine sitzt und seinen Satz nach einigem Überlegen in die Tasten klappert, dann hat das eine ganz andere Dynamik, als wenn man stundenlang vor dem Buch sitzt und liest und nachdenkt.
HZ: Wir saßen also gemeinsam hier in der Knesebeckstraße, im Haus nebenan, in der Nummer 16, vor einer Schreibmaschine und schrieben unsere Übersetzung direkt auf das eingespannte Papier. »Eingespannt« – schon dieses Wort existiert heute nicht mehr. Ich kann nicht mehr rekonstruieren, wieso wir uns dabei so gut verständigten, wieso wir Satz für Satz einen Konsens fanden. Bei über 120 Seiten, also beim ganzen theoretischen Teil des Buches. Erst später teilten wir die Arbeit auf. Aber ich will nochmal daran erinnern, dass es Rodolphe Gasché war, der uns zu diesem Abenteuer angespitzt hat. Die Kreise damals waren klein. Gasché war bei Jacob Taubes. Sam Weber, der uns damals auch bei unserem Vorhaben unterstützte, war bei Peter Szondi und dann später Assistent bei Derrida, glaube ich.

FK: Das alles entspricht in gewisser Weise meinen eigenen Erinnerungen als Student in den frühen achtziger Jahren – also zehn Jahre später –, in denen Werner Hamacher sozusagen die Rolle Derridas am AVL-Institut in Berlin-Dahlem übernommen hatte. Man saß in seinen Seminaren und hörte seinem Denken zu. Als Student war man zugleich fasziniert und beim Schreiben unglaublich blockiert. Werner Hamacher hat ja gewissermaßen mit Derrida eine Genera­tion am Schreiben gehindert.
HZ (lachend): Bei Klaus Heinrich war das nicht anders. So verschieden die beiden auch waren. Bei Heinrich war es seine die ganze Welt umschließende Rede und der dazugehörige Gang, ein peripatetischer Denker. Das Hören wurde hier zu einem Problem der Autorität und zur Frage, wie man sich davon lösen kann. Sehr schön findet sich dieser Sprechgestus Werner Hamachers übrigens in meinem Kafka-Film von 1978 wieder, in dem er auf meinem Balkon in der Grunewaldstraße über das »K« des Kehlkopfverschlusslauts im Celan-Gedicht »Frankfurt, September« phantasiert. Seine weitgehend freie Rede führt ihn da über eine unglaubliche Schleife zum Bestimmungswort »Nekro-« und zum »K« im Namen »Kafka«. In diesem Filmausschnitt aus »Amerika vor Augen« ist er wirklich ein deutscher Derrida.
HJR: Um 1970 gehörte Hamacher auch schon zum engeren Kreis um Peter Szondi.
HZ: Und natürlich war auch bei uns die Überforderung – damals nicht durch Werner, aber durch Derrida – offenkundig. Und dann gab es tatsächlich – überfordert oder nicht – dieses Phänomen des Einfachlosmarschierens. Als Kind bin ich einmal ins Eis eingebrochen und bin nicht zurückgegangen.

FK: Wie: »nicht zurückgegangen«?
HZ: Ich ging einfach immer weiter. Das Phänomen gibt es. Man vergisst zurückzugehen. Oder auszusteigen. Man geht weiter, weil man denkt, man könne sich durchs Weiterlaufen retten, auf der Oberfläche bleiben.
HJR: Nach vorne stolpern.
HZ: Wir ließen uns auf etwas ein, dessen Umfang, Ausmaß und Schwierigkeit wir nicht abschätzen konnten.
HJR: Wir hatten das Buch nicht einmal vollständig gelesen, als wir loslegten.

FK: Wie bitte!?
HZ: Man fängt damit an und …

FK: … stolpert weiter.
HZ: Das setzte sich dann ja später in gewisser Weise genauso fort, als es ums Verlegen ging. Das Buch war nämlich eigentlich nicht für Suhrkamp gedacht. Den Auftrag hatten wir vom Metzler-Verlag. Bernd Lutz, der zuvor bei Hanser ein verdienstvoller Herausgeber von Klassikern gewesen war, hatte das 1970 angenommen. Dann zog sich’s in die Länge, Lutz ging wieder und so war niemand mehr im Verlag, der daran Interesse hatte. Also blieb es zwei Jahre liegen, bis jemand dafür sorgte, dass das Buch an Suhrkamp weitergereicht wurde, wo es dann 1974/75 rauskam.

FK: Interessierten Sie sich denn auch nicht mehr dafür?
HJR: Hanns war inzwischen beim Theater und ich bei den Naturwissenschaften. Wir hatten andere Ziele.

OH: Mich verfolgt noch immer das Bild vom kleinen Hanns Zischler auf dem Eis, das ja nicht zufällig auch eine Formel für Derridas Spracharbeit sein könnte. Man versucht sich auf dem und durch das Material – das brechende Eis, die Sprache – zu retten: durch eine Sprache, die einen eigentlich verlässt. Man folgt ihr trotzdem – aber nicht obwohl sie nachgibt, sondern weil sie nachgibt. Ist es so, dass die Sprache – oder die Formel oder das Innehalten, bevor eine Formel daraus wird – einen bei Derrida nicht verlässt? Welche Form der Heimsuchung wäre das?
HJR: Man muss da natürlich aufpassen, nicht metaphysisch zu werden. Sonst ist man gleich beim »Haus des Seins« angelangt. Aber da gab es bei Derrida so was wie einen Widerhaken. Und dieser Widerhaken war, dass er ja eigentlich über die Schrift spricht. Diese Spannung war das Neue, das uns damals auch besonders faszinierte.

»Als Student war man zugleich fasziniert und beim Schreiben unglaublich blockiert. Werner Hamacher hat ja gewissermaßen mit Derrida eine ganze Generation am Schreiben gehindert.« Fritz von Klinggräff

HZ: Die philosophische Skepsis Derridas ist etwas Belebendes. Was mich immer begleitet hat, ist der shifting ground. Eine feste Basis, die man sich erarbeitet hat und von der aus man Schritt für Schritt weitergeht, gibt es bei ihm nicht. Die Navigation mit ihm ist gleichermaßen schwierig wie lehrreich. Sie befeuert einen in der eigenen Vorsicht.
HJR: Dieser Bewegung hat er dann mit »Dekonstruktion« ihren Namen gegeben …
HZ: … einen Namen, der heute inflationär gebraucht wird und nur noch selten etwas mit dem zu tun hat, worum es ihm ging.

FK: Noch Anfang der achtziger Jahre, als ich es wagte, den Begriff gegenüber einem Soziologen zu verwenden, korrigierte er mich: Das heiße »Rekonstruktion«.
HZ: Genau! Oder »Destruktion«. Zu Unrecht, denn die dekonstruktive Lektüre will nicht destruktiv sein, sondern den Text in jener bestimmten ausgedehnten Lektüreform, die Derrida entwickelt hat, immer zugleich in Frage stellen und tragen. Aber so ein Wort kann eben nur aus einem lateinischen Geist kommen. Unsere größten und längsten Zweifel hatten wir damals bei der Übersetzung von Derridas Neologismus »différance« – mit einem »a«. Was konnten wir tun, als wir mit dem extrem lateinisch geprägten, philosophischen Wort différence (bei Derrida dann différance) in den germanischen Wortschatz eintauchen mussten?

FK: Später haben Sie ja einen sehr »germanischen« Übersetzungsvorschlag gemacht.
HZ: Aber nicht für différance.

FK: Ich meine Ihren Übersetzungsvorschlag »Bewägung« (statt: »Bewegung«). Warum haben Sie sich letztlich doch für das Sternchenwort »*Differenz« entschieden?
HZ: »Bewägung«, stimmt! (beide lachen). Das wäre nicht durchsetzbar gewesen.
HJR: Niemals. Es hätte auch zu weit vom lateinischen Wortsinn – scheiden, schieben … – weggeführt.

FK: Andere Begriffe aus Ihrer Übersetzung, wie die »Spur« oder eben auch Ihre Integration der »Dekonstruktion« in die deutsche »Grammatologie« sind hingegen in den deutschen Wortschatz eingegangen, sowohl in den philosophischen als auch teilweise in die Alltagssprache. Ist die »Grammatologie« also in der deutschen Sprache angekommen? Wo wäre sie dann heute zwischen den po­litisch-philosophischen Polen der Gegenwart, beispielsweise zwischen woken Identitären hier und einer universalistischen Fortschrittsphilosophie da, zu finden? Denken Sie darüber manchmal nach?
HZ: Die Fernwirkung der Grammatologie ist sehr unterschiedlich zu bewerten. Festhalten möchte ich, dass zumindest eine Art von Lektüre bis heute ihre Wirkung zeitigt. Diese Lektüreform Derridas war und bleibt ein neues Gravitationszentrum.

OH: Ich bin mir nicht sicher, ob Derrida nicht sehr viel weitergehend auch an den heutigen Diskussionen seinen Anteil hat. Ist er nicht – und sei es unbewusst – in vielen der politischen Sprechakte anwesend? Einerseits, wenn er als »westlicher Denker‘« rezipiert wird. Andererseits aber ist seine Nichtlinearität von Zeit – also die Unterminierung von Lehrgebäuden, die man üblicherweise auch dem westlichen Denken zuordnet – zugleich Teil identitätspolitischer Kritik und ästhetischer Strategien. Ich denke beispielsweise an Fred Motens Überlegungen zur Improvisation in »In the Break«, einem Beitrag zu den Black Studies: Improvisation wird hier zwar einerseits als ein community building verstanden, aber eben auch als ein spezifischer Umgang mit Zeit. Beim Improvisieren beginnt das Stück längst, bevor der erste Ton gespielt wird. Das Murmeln des Publikums, das man hört, bevor und nachdem die Zeitlichkeit der ersten und der letzten Töne anklingt, ist Teil der Komposition.
FK: Jetzt bei der Re-Lektüre hat mich zudem ein nahezu revolutionärer Gestus in der »Grammatologie« überrascht, an den ich mich so nicht erinnert hatte: Ich, Derrida, schreibe hier die Geschichte des Logozentrismus von Parmenides bis heute – und es wird eine Zeit geben, in der alles anders sein wird.
HJR: So apodiktisch wird das nirgendwo gesagt.
HZ: Bei Derrida findet sich immer ein Vorbehalt, das, was Hans-Jörg einen Widerhaken nennt. Er kann ­pathetische Imitationen herstellen, aber er ist kein Pathetiker!
HJR: An den entscheidenden Stellen, an denen man Pathos vermutet, steht im Satz dazwischen dann ein »vielleicht«. Ein Moment des Zögerns in der ganzen Waghalsigkeit. Vielleicht ist genau das das genuin Wissenschaftliche an ihr. Auch deswegen ist die Grammatologie letztlich – und das war uns damals, als wir uns auf das Abenteuer ihrer Übersetzung einließen, nicht klar – ein Jahrhundertbuch. Immer wieder wird auf es zurückgegriffen, und das wird in Zukunft nicht anders sein.

FK: Anders als Foucault aber war es wohl nicht schulbildend.
HJR: Es hat keine Wissenschaft begründet und diese Intention hatte es auch gar nicht, wenn ich das richtig sehe. Selbst wenn der Derrida der siebziger Jahre in Amerika massiv gewirkt hat. Aber nicht so wie Foucault, genau. Sein Duktus hat das offensiv verhindert.
HZ: Es ging und geht bei Derrida um Schrift! Er zeigt in seiner Umkehrbewegung: Die Schrift ist kein Schatten der Sprache. Sie ist etwas, was, statt Schule zu bilden, neue Fragestellungen provoziert. Immer schon. Schrift ist eben kein x-beliebiger Begriff, sondern etwas, bei dem die Hand im Spiel ist, die agieren muss, dabei scheinbar der Sprache dient und letztlich merkt man: Es geht darin nicht auf, es geht andersherum.
HJR: Man wäre vielleicht versucht zu sagen, dieses Moment der Entäußerung ist irgendwie Magie, aber natürlich ist das der falsche Ausdruck hier. Der Inbegriff dieser Bewegung ist die Spur, wohl der zentrale Begriff der Grammatologie. Die Spur, das gramma, ist etwas, was man auch als anthropologisch vorgängig betrachten kann: Nicht zufällig bezieht sich Derrida hier auf »Le geste et la parole« (1965) des Paläoanthropologen André Leroi-Gourhan. Die Spur ist eine Hinterlassenschaft und zugleich eine Herausforderung. Der Begriff der Spur fasst auf den ersten hundert Seiten der »Grammatologie« das gesamte Programm Derridas in einem Wort zusammen.

FK: Das war Ihnen auch im Prozess Ihrer Übersetzung klar?
HZ: Ja, schon. In dem Maße der Einlassung auf den Text wird man ja selbst zum Mitschreibenden. Das Übersetzungsproblem tauchte an dieser Stelle nochmal ganz anders auf. Es ging darum, bei etwas mitzugehen, was der Text als etwas Zukünftiges entwirft. Weil es direkt ums Schreiben geht, schlägt es auf den Übersetzer zurück und fordert ihn ganz anders heraus. Das merkten wir damals­z ­natürlich erst beim Übersetzen. Man war gegenüber einer solchen Art von Texten noch von einer großen Naivität geprägt.

OH: In einem Akt des learning by learning, wie Sie einmal sagten. Es gab kein Lehrgebäude.
HZ: Und andererseits sind das, was Derrida heranzieht, liest und ausbreitet, lauter klassische Lehrgebäude. Die ganze Historie der Linguistik beispielsweise. Oder das, was bisher über Rousseau gelehrt wurde. Er selbst geht damit in seinen Vorträgen, Seminaren und Schriften mit einer provozierenden Offenheit um.

OH: Sie waren mit Ihrer naiven Hartnäckigkeit als recht ungleiches Duo an der Schreibmaschine vielleicht genau die Richtigen für diese Aufgabe. Die Übersetzung war, so wie Sie Ihre Arbeit beschreiben, genauso unerhört wie das Projekt selbst.
HJR: Prägend war es auf jeden Fall. Ich kann mich zumindest noch an erstaunlich vieles aus dieser Zeit erinnern. Oft saßen wir bis morgens früh um 2 Uhr, und wenn es gar nicht weiterging, gingen wir Billard spielen. Über ein halbes Jahr. Das hat dann dazu geführt, dass wir uns die Arbeit nach den ersten hundert Seiten aufteilen konnten.

FK: Weil Sie sich inzwischen ­gnadenlos zerstritten hatten?
HZ: Nein, im Gegenteil! Die gemeinsame Navigation trug das Projekt ­inzwischen.
HJR: Es gab in der »Grammatologie« bei aller Verschiedenheit der Teile doch etwas Durchlaufendes, auch Rekursives, so dass wir das Gefühl hatten, jetzt kann jeder von uns beiden allein weitermachen. Sonst hätte das Projekt ja sieben Jahre gedauert. Ich war dann einen Sommer lang in Paris und habe dort übersetzt, in Rodolphe Gaschés Mansarde nahe der Place de la Contrescarpe.

»Vielleicht liegt hier in diesem roten Ordner mit seinen Hunderten von Schreib­maschinenseiten die Nichtlinearität der ›Grammatologie‹ performativ materialisiert vor unseren Augen.« Olga Hohmann

HZ: Ich kenne das auch aus meiner Arbeit als Dramaturg. Wenn man einen Text sehr genau durchgeht – die Rollen, die Regieanweisung –, gibt es einen Punkt, wo der Text in dir angekommen ist, gewissermaßen inkorporiert. Man geht mit diesem Text durch den Alltag. Bei Derrida war es so, dass diese Art von Vorgabe oder Angebot so stark war, dass es den Charakter eines Suchtmittels hatte. Natürlich auch im Sinne des Suchens. Das betrifft natürlich nicht nur Derrida, ihn aber im besonderen Maße.

OH: Ist Derrida eigentlich damals, um 1970, schon als Medientheoretiker verstanden worden?
HJR: Von der Sache her ja. Die Schrift ist als Kulturtechnik nun mal ein sehr frühes Medium. Außerdem gab es ja schon Marshall McLuhan mit seiner Gutenberg-Galaxis, der in den sechziger Jahren auch in Deutschland publik wurde. In der »Gramma­tologie« aber spielt er keine Rolle.
(Hanns Zischler muss sich verabschieden. Hans-Jörg Rheinberger holt den roten Leitz-Ordner mit dem Schreibmaschinen-Manuskript der »Grammatologie« aus dem Nebenzimmer.)
HJR: Die Zufälle des Lebens haben dafür gesorgt, dass das Manuskript immer noch erhalten ist. Inklusive der Überschreibungen und nachträglich hineingeklebten Passagen, die später beim zweiten und dritten Durchgang entstanden sind.

FK: Sie haben immer wieder über eine Neuübersetzung nachgedacht, haben sie Suhrkamp in den neunziger Jahren sogar angeboten. Suhrkamp lehnte ab. Hätten Sie noch immer Lust dazu?
HJR: Der Aufwand wäre uns inzwischen wohl zu groß.

OH: Ich las kürzlich einen Text über Paul de Man, in dem es um Narration und Erinnerung geht: die Erinnerung als eine Technik, die linear einfach nicht funktioniert. Und die Narration demgegenüber als oft genutzter hegemonialer Gestus. Vielleicht liegt hier in diesem roten Ordner mit seinen Hunderten von Schreibmaschinenseiten die Nichtlinearität der »Grammatologie« performativ materialisiert vor unseren Augen.
HJR: Nicht nur die Narration, auch das Schreiben hat ja einen Zug zum Linearen. Es muss in der Zeit passieren, ein Wort nach dem anderen – immer wieder neu von links nach rechts. Aber dass das nicht reicht und nur ein erster Eindruck ist, zeigen diese Manuskriptseiten, auf ­denen die Reduktion immer wieder durchbrochen und zurückgenommen wird.

OH: Natürlich liegt die Frage nahe: Was hat dieses Schriftdenken noch mit meiner Generation zu tun? Haben wir wirklich noch das Bedürfnis, so tief in die Sprache einzudringen? Oder umgekehrt: Ist es richtig, dass wir die Sprache heute lieber als Bild oder als Sprechakt nutzen, statt sie noch in ihren Schichtungen zu verfolgen?
HJR: Im Laufe der letzten 50 Jahre hat der Wechsel der Medien natürlich auch die Reichweite des Mediums Buch verändert: Es ist nur noch in einem eingeschränkten Sinne das, was es einmal war. Gleichzeitig aber bleiben wir der Schrift doch letztlich treu, nicht nur im Beschreiben der Tablet-Oberflächen etwa, einer neuen und doch wieder alten Form der Graphizität. Überhaupt ist der Raum des Digitalen ein Schriftraum. All das wäre Wasser auf Derridas Mühlen. Denn das sind ja alles keine genuinen Sprachprodukte, sondern Einschreibungen und Inskriptionen, die gewiss auf unsere Wahrnehmung dessen zurückwirken, was wir tun, wenn wir sprechen.

»Man kann die ›Grammatologie‹ auch als ein Traktat über die Zeit lesen. Das ist sicherlich ein Echo auf Derridas jahrzehntelange Beschäftigung mit den Krisis-Arbeiten von Edmund Husserl aus den dreißiger Jahren.« Hans-Jörg Rheinberger

FK: In Ihrer dritten Karriere als Wissenschaftshistoriker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte haben Sie sich ja auch die Idee der »Aufschreibesysteme« des Literatur- und späteren Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler zu eigen gemacht. Sehen Sie Derrida hier mit im Spiel?
HJR: Mir wurde erst spät bewusst, dass man auch das Experimentieren mit Derrida neu denken kann. Im Experiment geht es um die Erzeugung materieller Spuren, eine Exteriorisierung, die man in ihrer subversiven Bewegungsform auch in den Naturwissenschaften nicht unterschätzen darf. Derrida ging es um die Materialität der Schrift. Die Schrift ist – wie das Experiment – nicht ohne Materialisierung zu denken und zu haben. Und diese Bewegung »­unterläuft«, um Hanns Zischler zu zitieren, jede einfache zielorientierte Logik.

FK: Mich hat bei der Lektüre Ihrer eigenen Texte überzeugt, dass auch naturwissenschaftliche Forschungsprojekte in Ihrer Ziel­definition nicht restlos aufgehen, sondern aus der Eigenlogik des Experiments – wenn man dafür wach bleibt – unerwartete Ergebnisse generieren: Wie das berühmte World Wide Web im Genfer Cern, wo man eigentlich nach ­etwas ganz anderem suchte. Hier sehe ich Ihren Derridaismus.
HJR: Einverstanden. Auch im Experiment schichtet sich eines auf das andere und generiert dabei Rekursionen, Rückkopplungen und weitere unerwartete Effekte.

FK: Derrida beginnt seine »Gramma­tologie« ja mit Fragen nach der Kybernetik, der Mole­kularbiologie, der Arbeit des Algorithmus, also nach »einer wissenschaftlichen Praxis«, wie er schreibt, die das anthropozentrische Weltbild aushebeln könnte, weil sie sich »immer stärker auf die nicht-phonetische Schrift« ­besinnt: lauter Fragen nach einer neuen, wie Sie sagen, Graphizität. Die Aktualität gerade dieser ersten Seiten der »Grammatologie« ist verblüffend.
HJR: Man sieht hier, dass Derrida sich, obwohl er es nie in den Vordergrund schob, intensiv mit den Naturwissenschaften beschäftigt hat. Das hörte mit der »Grammatologie« übrigens nicht auf. Erst kürzlich hat man aus seinem Manuskriptenachlass ein Seminar herausgegeben, »La Vie la mort. Séminaire 1975–1976«, das großenteils über François Jacobs molekulargenetisches Grundlagenwerk »Die Logik des Lebens« handelt. Eine durchaus selbstbewusste Dekon­struktion des Textes von Jacob! Hier wird übrigens, um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen, die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Vorlesung« sinnfällig. Derrida schrieb seine Texte, bevor er sie sprach.

OH: Wir Millennials haben dazu wahrscheinlich einen etwas anderen Zeitbezug. Zur »Grammatologie« sowieso. Hat Derrida auch in diesem Sinne Zeit als etwas Nichtlineares betrachtet? Im Begriff der »Spur«, in dem sich Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart gewissermaßen erfinden und gleichzeitig aufheben, scheint mir dies zumindest drinzustecken.
HJR: Ich sehe die »Spur« als einen eminent historischen Begriff, der das Unternehmen der »Grammatologie« letztlich auf den Punkt bringt. Sie haben recht: Man kann die »Grammatologie« auch als ein Traktat über die Zeit lesen. Das ist sicherlich ein Echo auf Derridas jahrzehntelange Beschäftigung mit den Krisis-Arbeiten von Edmund Husserl aus den dreißiger Jahren. Es gibt in der »Grammatologie« den Begriff der »Historialität«, mit dem er versucht, Geschichte zu entlinearisieren. In meinen Jahren als Wissenschaftshistoriker war das ein eminent wichtiger Punkt. Der Begriff der »historischen Epistemologie« ist dafür vielleicht eine etwas profanere Bezeichnung. Aber er ist letztlich auch nur eine andere Art, sich mit Zeitlichkeit und den Zeiten der Wissenschaften auseinanderzusetzen. Dies führt uns übrigens immer wieder zu Gaston Bachelard, bei dem das alles angelegt ist und der in der »Grammatologie« präsent ist – wenn auch nur zwischen den Zeilen.

FK: Was meinen Sie mit den »Zeiten der Wissenschaften« – im Plural?
HJR: In der Forschung greifen immer mehrere Zeiten ineinander: Man sollte versuchen, sie aufzudröseln. Sie hängen nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Materialitäten zusammen, die in das wissenschaftliche Arbeiten eingehen. Die Zeit der Forschungsinstrumente beispielsweise läuft nicht notwendig synchron mit der Zeit der Forschungsgegenstände, und einzelne Forschungs­felder unterliegen ihren je eigenen Dynamiken. Weder gibt es diachron regelmäßige Phasenverläufe, noch synchron alles bestimmende Resonanzen. Wir haben es mit Interferenzen zu tun, mit Vorläufen, Rekursionen. Das ergibt ein sehr viel differenzierteres Bild von dem, was wir normalerweise Geschichte oder Entwicklung nennen. Für den Bereich der Kunstgeschichte hat das George Kubler in »The Shape of Time« (1962) exemplarisch dargestellt. Eigentlich müsste der Titel im Plural stehen.