Wut auf die Tugendpächter
Für die revolutionäre Theorie stellen die Gruppen jenseits von Bourgeoisie und Proletariat ein beständiges Ärgernis dar. Weil sie nicht wirklich über Kapital verfügen, aber doch über mehr als nur ihre Arbeitskraft, passten sie nie so recht ins Schema, und politisch standen sie zu allem Überfluss fast stets auf der falschen Seite.
Selbst auf die Frage, wie das Ding heißen soll, mit dem man es da zu tun hat, gibt es keine wirklich befriedigende Antwort, und so spricht man mal von »Mittelschichten« und mal von »Kleinbürgertum«, mal von »Selbständigen und Angestellten«, mal von »White-Collar-Arbeitern« und mal, ganz brechtisch-keck, von »Kopflangern«. Kein Wunder, dass in den einschlägigen Veröffentlichungen – von Marx bis Siegfried Kracauer, von Lenin bis C. Wright Mills – der Ton meist ein wenig gereizt klingt.
Als Agent der gesellschaftlichen Reproduktion fungiert die »professional-managerial class« zugleich als Sündenbock für die, die dabei zu kurz kommen.
Professional-managerial class (PMC) lautet der jüngste Versuch, dem Ärgernis einen Namen zu geben. Der Begriff bezeichnet dasjenige Segment der Mittelschicht, das im wahrsten Sinne des Wortes das Sagen hat: die hauptamtlichen Verwalter und Interpreten der gesellschaftlichen Verhältnisse, von den Juristen und Professoren bis zu den Personalentwicklern und IT-Kräften. Im deutschen Sprachraum fand der Terminus bislang wenig Verbreitung, wohl auch, weil er sich so schlecht übersetzen lässt: Das deutsche Wort, das dem englischen professional am nächsten kommt, wäre wohl das etwas altertümliche »Freiberufler«, das jedoch deutlich enger gefasst ist; professionals meint zwar auch Anwälte und Ärzte, aber darüber hinaus alle technisch-wissenschaftlichen Berufe, die von akademisch ausgebildeten Spezialisten ausgeübt werden.
In Teilen der Linken in den angelsächsischen Ländern gilt die Existenz der PMC als Schlüssel zur Diagnose der derzeitigen politischen Malaise, die von der Heraufkunft des Neoliberalismus bis zum Wahlsieg Donald Trumps praktisch jedes Ereignis der vergangenen 50 Jahre erklärt. Die Kritik an der PMC vertritt insbesondere jener Flügel, der sich die Rückbesinnung auf die Arbeiterklasse auf die Fahne geschrieben hat und dem darum jeder allzu störrische Rekurs auf Fragen von sex und race als »Identitätspolitik« gilt. Identitätspolitik sei gerade das Metier eben jener PMC, die das gesamte progressive Establishment – die Demokratische Partei und die Labour Party, die NGOs, Universitäten und linksliberalen Medien – dominiere und deren Hauptgeschäft seither die Leugnung des Klassenwiderspruchs sei.
Sozialistische Klassiker gegen das Kleinbürgertum
Geradezu mustergültig findet sich dieser Anti-PMC-Diskurs in der Kampfschrift »Die Tugendpächter – Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät« (2021) von der kalifornischen Filmprofessorin Catherine Liu. Die Autorin versammelt nahezu jede Invektive, die die sozialistischen Klassiker gegen das Kleinbürgertum erhoben haben – feige, bigott und korrupt, snobistisch, undiszipliniert und zu keiner kollektiven Aktion fähig –, und ergänzt sie um einige zeitgenössische.
Schuld ist die PMC an allem, was Liu nicht in den Kram passt: am duckmäuserischen Technokratentum der Clintons wie an den exaltiert-anarchischen Versammlungen der Occupy-Bewegung, mit denen man den kleinen Mann verschreckt habe. Mit Veröffentlichungen wie dem »1619 Project« der New York Times, das an die Landung des ersten Sklavenschiffs in Nordamerika erinnerte, betreibe die PMC die Spaltung der Arbeiterklasse, deren weißen Mitglieder sie als unheilbar rassistisch verleumde. Kein Wunder, dass die Proleten irgendwann die Schnauze voll hatten: In der Wahl Trumps will Liu eine gesunde Portion Klasseninstinkt derjenigen erkennen, die nicht länger von bildungsbürgerlichen Moralaposteln bevormundet werden wollten.
In die gleiche Kerbe schlägt die linke Publizistin und Podcasterin Amber A’Lee Frost: In einem breit rezipierten Aufsatz für das US-amerikanische Querfrontorgan American Affairs über den »charakterlosen Opportunismus der Management-Klasse« beschreibt sie, wie identitätspolitisch orientierte Mitarbeiter von IT-Firmen bei einem ihrer Vorträge für die Democratic Socialists of America (DSA) die Diversitätsinitiativen der Personalabteilungen ihrer Arbeitgeber gepriesen hätten. Anwesende »weiße Cis-Het-Männer« hätten hingegen genug »Klassenbewusstsein« besessen, darin die Machenschaften des Klassenfeinds zu erkennen.
Das Kleinbürgertum als Pufferzone
Wer von der PMC spricht, meint also meist nicht mehr als das, was die Punkband Slime einmal, etwas griffiger, »linke Spießer« nannte (»Ihr seid Lehrer und Beamte / seid Gelehrte sogenannte / ihr seid viel in Funk und Fernsehen / und ihr glaubt, dass wir euch gern sehen«). Das war freilich nicht immer so. Als der Begriff PMC Mitte der Siebziger ersonnen wurde, diente er nicht zur Denunziation, sondern als Instrument der Selbstbesinnung. Barbara und John Ehrenreich, die ihn prägten, wollten verstehen, warum, wenn doch das Proletariat der Marx’schen Lehre zufolge die revolutionäre Klasse sei, so viele der Revolutionäre der Neuen Linken nicht der Arbeiterklasse entstammten, sondern der (kleinen und großen) Bourgeoisie. Worauf sie stießen, waren die Metamorphosen der Mittelschicht.
Anders als im »Kommunistischen Manifest« vorausgesagt (aber von Marx in seinen späteren Schriften durchaus antizipiert), führte die Entfaltung der großen Industrie nicht etwa zum Verschwinden des Kleinbürgertums. Statt zwischen Kapital und Arbeit zerrieben zu werden, fungierte es als Pufferzone. An die Stelle des selbständigen Bauern oder Handwerkers, der über seine eigenen Subsistenzmittel verfügt, trat die Gestalt des Angestellten, der für den Kapitalisten die Anwendung der Produktionsinstrumente vermittelt – wozu schließlich auch die Anwendung der Lohnabhängigen selbst gehörte. Die tayloristische Rationalisierung des Produktionsprozesses erforderte ganze Legionen an Fachleuten.
So entstand eine neue Schicht von wissenschaftlich gebildeten Vermittlungsagenten, die weder so richtig zu den Beherrschten noch auch so richtig zu den Herrschenden gehörte – und die beiden gegenüber, das ist der Clou der Ehrenreichs, die Sache der Gesellschaft und ihrer Reproduktion vertritt. Deren untersten Rang bilden die Lehrer und Sozialpädagogen, den obersten das mittlere Management (die Spitzenmanager, die Massenentlassungen anordnen können, vermitteln nicht, sondern sind unmittelbar Teil der Herrschaft). Weil die Angehörigen dieser Schicht aber das Ganze der Verhältnisse im Blick behalten müssten, setzten sie sich beständig in Widerspruch nicht bloß zum Proletariat, sondern auch zur Bourgeoisie, deren Borniertheit und Ignoranz stets Gefahr läuft, den Laden an die Wand zu fahren.
Bündnis von Mob und Elite
Ob das die Entstehung der Neuen Linken klassenanalytisch zu erklären vermag, sei dahingestellt. Die Erfahrung, die darin festgehalten wird, lässt sich jedoch kaum bestreiten. Wo früher die kleinen Handwerker und Bauern, in Abgrenzung von den liederlichen Proleten wie den ruchlosen Kapitalisten, sich stolz im Glanz der von ihnen verkörperten Bürgertugenden sonnten, braucht es heutzutage ein ganzes Heer an Experten, die theoretisch wie praktisch Ideologie produzieren; die Ehrenreichs sprachen in einem späteren Aufsatz für die nuller Jahre von 35 Prozent der Berufstätigen. Was einst Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit waren, sind nun eben Diversität, Chancengerechtigkeit und Meritokratie.
Als Agent der gesellschaftlichen Reproduktion fungiert die PMC dabei zugleich als Sündenbock für die, die dabei zu kurz kommen. So viel ist wahr an Lius These, dass die Wahl Trumps auch eine Rache der Ohnmächtigen an den Personalchefs, Gesundheitsexperten, Journalisten, Sozialarbeitern, Ernährungsberatern und Werbefuzzis darstellte, die ihnen gegenüber die gesellschaftliche Macht vertreten. Nur dass es sich bei dieser Entscheidung nicht um einen Befreiungsschlag handelt, sondern darum, dass Mob und Elite im ganz klassischen Sinn ein Bündnis eingehen.
Weil sie die Macht, die sie vertreten, eben nur vertreten, nicht aber wirklich besitzen, werden die Angehörigen der PMC von denen da oben wie denen da unten als weibisch und schwach verachtet. So entsteht das obszöne Schauspiel eines Multimilliardärs, der die Leute feuert, die dafür sorgen, dass die Abläufe, auf die man – ob als Twitter-User oder Staatsbürger – angewiesen ist, auch funktionieren, und dafür von denen, die jetzt mit einer schlechteren Dienstleistung vorlieb nehmen müssen, auch noch als »einer von uns« gefeiert wird: Dafür, dass einer wie Elon Musk den blasierten Besserwissern mal zeigt, was eine Harke ist, bringt man gerne Opfer.
Formbeziehungen der gesellschaftlichen Reproduktion
Macht dieses Schicksal die PMC nun gleich zu einer eigenen Klasse? Da sind Zweifel angebracht. Zwar verfügen die, die von Berufs wegen Klassenwidersprüche leugnen müssen, über einen erstaunlichen Gruppeninstinkt: Angehörige der akademischen Mittelschicht zeugen meist nur mit ihresgleichen Nachkommen.
Aber an der Nachkommenschaft zeigen sich auch die Grenzen des Klassenbegriffs. Anders als Arbeiter oder Kapitalisten vererben sie das, was sie zur Klasse macht – das Eigentum oder die Mittellosigkeit –, gerade nicht automatisch. Jedes Kind muss sich den Aufstieg in die PMC neu verdienen. Daher das panische Triezen der Gören mit Geige und Ballett, Sport und Debattierclub (eine Panik, die, nebenbei gesagt, ganz und gar nicht gegenstandslos ist – wo vor 100 Jahren der wissenschaftlich-technische Fortschritt die Entqualifizierung der körperlichen Arbeit vorantrieb, so nun, mittels Algorithmisierung und KI, die der geistigen).
Mag die PMC eine Klasse sein oder nicht, eines ist sie gewiss: ein Symptom des Zerfransens des Klassenbegriffs, ein Rätselbild der Verhältnisse.
Vielleicht gehen derlei Überlegungen aber auch am Kern der Sache vorbei. Klassenanalyse klingt immer, als würden jetzt die Ärmel aufgekrempelt und es gehe ans Eingemachte. Aber in Wahrheit übersieht selbst die beste, etwa bei Erik Olin Wright in dessen 2023 auf Deutsch erschienenem klassentheoretischemn Werk »Warum Klasse zählt«, vor lauter soziologischen Grenzziehungen das Wesentliche: die Formbeziehungen der gesellschaftlichen Reproduktion.
Mag die PMC eine Klasse sein oder nicht, eines ist sie gewiss: ein Symptom des Zerfransens des Klassenbegriffs, ein Rätselbild der Verhältnisse. Arbeit und Kapital haben ihr Ureigenstes an die PMC delegiert, die Produktionsmittel die einen, das Können und Wissen über deren Anwendung die anderen – und keiner der daran Beteiligten wüsste zu sagen, wozu. Denn die Einzigen, deren Aufgabe es ist, nach dem Wozu zu fragen, ziehen aus der Nichtbeantwortung genau dieser Frage ihre Existenzberechtigung.