Empathie in der Kurve
Eigentlich wäre Julian am Samstag im Stadion gewesen. Der SV Werder Bremen empfing in der Fußball-Bundesliga den VfL Wolfsburg. Als Mitarbeiter des örtlichen Fanprojekts hätte sich Julian wie stets um jugendliche Anhänger gekümmert, die Anliegen der aktiven Fan-Gruppen betreut oder bei Konflikten vermittelt. Doch er lag den ganzen Tag im Bett. Wie schon am Spieltag zuvor. Und in all den Wochen zuvor.
Genauer gesagt: Als Julian sich im vergangenen September zum dritten Mal mit Covid-19 infizierte, war sein gewohntes Leben vorbei. Nach offenbar überstandener Infektion wollte er wieder arbeiten gehen, doch schon beim ersten beruflichen Termin zeigte sich, dass das nicht mehr geht. Ihm wurde schwindelig, plötzlich konnte er auf einem Auge nichts mehr sehen. Er hatte sich überbelastet. Seitdem verbringt er den Großteil seiner Zeit im Bett.
In der Fankurve im Stadion von Eintracht Frankfurt hing schon 2019 ein Spruchband mit der Aufschrift: »Gesundheitsministerium: Tut endlich was! ME/CFS-Forschung jetzt!«
Inzwischen ist klar: Julian leidet – wie schätzungsweise rund 620.000 andere Menschen allein in Deutschland – unter ME/CFS (MyalgischeEnzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom), einer chronischen Multisystemerkrankung. Zu den Symptomen zählen unter anderem ausgeprägte Entkräftung, Schmerzempfinden, heftige Schlafstörungen, starke Krankheitserscheinungen sowie neurokognitive Problematiken wie Konzentrations-, Merk- und Wortfindungsstörungen. Charakteristisch ist insbesondere eine starke Verschlechterung des Befindens schon nach geringer Belastung, so dass die Betroffenen zum Nichtstun geradezu verdammt sind. Mehr als 60 Prozent der Patienten und Patientinnen sind arbeitsunfähig, viele nicht in der Lage, das Haus zu verlassen. Schwerstbetroffene sind vollständig von Unterstützung und Pflege abhängig.
Die Zahl der an ME/CFS Erkrankten steigt seit geraumer Zeit. Wie auch in Julians Fall tritt die Krankheit häufig als Folge einer Covid-19-Infektion auf. Insbesondere diejenigen, die unter Long Covid leiden, laufen Gefahr, dass ihre Symptomatik chronisch wird. Nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer erfüllt rund die Hälfte der Long-Covid-Patienten und -Patientinnen die Kriterien für eine ME/CFS-Diagnose. Angesichts dessen, dass sich weiterhin Menschen mit Covid-19 infizieren, ist davon auszugehen, dass das Ende dieser Entwicklung noch nicht erreicht ist – zumal Fehldiagnosen dazu führen, dass die tatsächliche Zahl der Erkrankten schon jetzt mutmaßlich unterschätzt wird.
Aufmerksamkeit für die Krankheit und die Schicksale dahinter schaffen
Bis zum vergangenen September unterschied sich Julians Leben nicht wesentlich von dem anderer 30jähriger. Er machte mehrmals die Woche Sport, traf Freunde, verreiste gerne. Die Stelle beim Bremer Fanprojekt fügte sich in seine Biographie ein. Er ist Sozialarbeiter und seit Kindestagen fußballbegeistert, in der Bremer Fanszene hat er viele Freunde.
Sein Herzensverein allerdings ist der 1. SC Göttingen 05. Der Sechstligist aus Südniedersachsen hat eine linksalternative Anhängerschaft, in der Julian viele Jahre zu Hause war. Ein Fußballspiel im Stadion hat Julian allerdings schon lange nicht mehr gesehen. Sein Tagesablauf besteht aus banalsten Tätigkeiten – duschen, essen, fernsehen, ausruhen. Wenn es gut läuft, schafft er es einmal in der Woche, ein paar Minuten spazieren zu gehen. Dabei geht es ihm noch vergleichsweise gut, Fußball kann er zumindest sporadisch am Fernseher oder per Live-Ticker verfolgen. Für manche Erkrankte ist selbst das zu anstrengend.
Trotz dieser Einschränkungen hat sich Julian mit anderen betroffenen Fans zusammengetan und eine Kampagne gegründet. Unter dem Namen »Empty Stands« wollen sie in erster Linie Aufmerksamkeit für die Krankheit und die Schicksale dahinter schaffen. Etwa 70 Menschen aus ganz Deutschland und darüber hinaus haben sich bisher angeschlossen. Sie sind ebenfalls an ME/CFS erkrankt, viele als Folge einer Covid-19-Infektion. Sie eint, dass ihnen mit dem unbeschwerten Stadionbesuch ein Ort verloren gegangen ist, »wo man Ich sein kann«, wie Julian sagt. Der Austausch darüber und das geteilte Leid helfe. Unterstützung erhält der Zusammenschluss von der ME/CFS Research Foundation. Schließlich ist vielen Betroffenen kaum mehr Aktivität als ein gemeinsamer Gruppenchat möglich.
Forschung bisher chronisch unterfinanziert
Die Beteiligung der ME/CFS Research Foundation hat aber noch einen anderen Grund. Gemeinsam soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Krankheit noch kaum erforscht ist und dringender Handlungsbedarf besteht. So findet die Diagnose häufig nur über den Ausschluss anderer Krankheiten statt.
Mangelnde ärztliche Ausbildung und Unkenntnis über die spezifischen Bedingungen von ME/CFS führen mitunter dazu, dass die Krankheit verkannt wird und falsche Behandlungsansätze die Symptomatik deutlich verschlimmern. Insbesondere fehlt es bisher an erfolgreichen Therapiekonzepten. Den Betroffenen bleibt meist nur die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird. Die entsprechende Forschung ist bisher chronisch unterfinanziert.
Für Julian und andere bietet der Fußball auch deshalb eine Stütze. Engagierte Anhänger und Anhängerinnen und einige Vereine unterstützen die Kampagne »Empty Stands« bei ihrem Vorhaben. Kürzlich bauten etwa der Regionalligist SV Meppen und der Zweitligist 1. FC Kaiserslautern Hinweise zur Krankheit in ihr Spieltagsprogramm ein. Auf Julian wirkt es, als hätten die »Vereine mehr Empathie als das Gesundheitssystem«.
Hashtag #LemonChallengeMECFS
Am verlässlichsten zeigen sich aber einmal mehr die aktiven Fans. In einigen Kurven ist die Krankheit bereits seit einigen Jahren Thema. Die Gruppa Süd, Ultras von Hertha BSC, riefen schon 2021 dazu auf, eine Petition zur Unterstützung ME/CFS-Erkrankter zu unterzeichnen. In der Fankurve im Stadion von Eintracht Frankfurt hing sogar 2019 schon ein Spruchband mit der Aufschrift: »Gesundheitsministerium: Tut endlich was! ME/CFS-Forschung jetzt!« Auch in Nürnberg, zuletzt in Kaiserslautern und andernorts wurde mittels Spruchbändern Aufmerksamkeit geschaffen und Unterstützung für Betroffene signalisiert.
So bekommt das Thema immer mehr Öffentlichkeit. Unter dem Hashtag #LemonChallengeMECFS wurde in den sozialen Medien eine Plattform ins Leben gerufen, auf der Menschen in kurzen Videos in eine Zitrone beißen, was einen sauren Schockmoment symbolisieren soll. Beteiligt haben sich bisher unter anderem Robert Habeck (Grüne) und Heidi Reichinnek (Linkspartei).
Für die an ME/CFS Erkrankten ist der Fußball wichtig, weil sie dort persönlichen Rückhalt finden. Julian sagt, ihm habe es sehr geholfen, dass ihm seine Freunde und Freundinnen geglaubt und ihn nicht alleingelassen hätten. Noch wichtiger als Aufmerksamkeit und Geld für die Kampagne »Empty Stands« sei ihm, »dass keiner auf der Strecke bleibt«. Er hofft, dass sich seine Freunde und Freundinnen »selber schützen«, damit ihnen ein ähnliches Schicksal erspart bleibt. Um dafür zu werben und den Einsatz der »Empty Stands« zu unterstützen, soll es in Bremen bald einen Aktionsspieltag rund um ME/CFS geben. Wenn er diesen Tag auch nur aus der Distanz verfolgen kann, ein wenig näher dürfte sich Julian dann seinem Fußball wieder fühlen.