Streik und Massenprotest
Über hunderttausend Demonstranten kamen allein auf dem bekannten Syntagma-Platz in Athen am Morgen des 28. Februar zusammen. Aber nicht nur dort sind Menschen auf die Straße gegangen. In 346 Städten in ganz Griechenland, darunter Thessaloniki, Ioannina und Patras, versammelten sich dem öffentlich-rechtlichen Sender ERT zufolge insgesamt Millionen Demonstranten unter Protestparolen wie »Verbrechen von Tempi«, »Vertuschung von Tempi« oder »Euer Gewinn oder unser Leben«.
Vereinzelt kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, die mit Tränengas- und Blendgranaten gegen die Demonstranten vorging. Im gesamten Verkehrswesen kam es zu Arbeitsniederlegungen, Nachtclubs, Lebensmittelgroßmärkte und Schulen blieben geschlossen; Taxifahrer versprachen, die Menschen kostenlos zu öffentlichen Versammlungen zu bringen. Auch in anderen europäischen Städten wie Brüssel, Rom und London kam es zu Protesten.
Der Untersuchungsbericht bestätigt, das wichtiges Beweismaterial verloren ging, weil die Unfallstelle nicht abgesperrt wurde.
Damit zählen die Demonstrationen zu den größten in der Geschichte Griechenlands seit der Rückkehr zur Demokratie 1974. Zum ersten Jahrestag des Aufstands vom 17. November 1973 an der Polytechnischen Universität in Athen, der den Sturz der Militärdiktatur einleitete, demonstrierten schätzungsweise eine Million Menschen. Die älteren Demonstranten erinnern sich zudem an die »1-1-4-Kundgebungen« in den sechziger Jahren, als die Menschen in Berufung auf den Schlussartikel der Verfassung für die Demokratie demonstrierten. Nicht einmal die Finanzkrise und die Austeritätspolitik Anfang der zehner Jahre löste derartige Massenproteste aus. Wahrscheinlich gab es nur 1944 während der spontanen Demonstrationen zur Feier der Befreiung Griechenlands von der deutschen Besatzung mehr Menschen auf den Straßen.
Warum also gingen am Freitag vergangener Woche so viele auf die Straße? Am 28. Februar 2023 stieß im nordgriechischen Tempi der Intercity-Personenzug IC-62 mit einem auf demselben Gleis entgegenkommenden Güterzug frontal zusammen. Bei dem Unfall starben 57 Menschen – vorwiegend junge Studenten. Bis heute sind die Umstände des Zugunglück sehr unübersichtlich geblieben. Demonstriert wurde gegen die Regierung, das privatisierte Eisenbahnunternehmen Hellenic Train, das den IC-62 betrieb, und eine ineffektive Justiz, die die Aufarbeitung des Vorfalls nur schleppend vorantreibt.
Just am Vorabend des Jahrestags veröffentlichte die staatliche Untersuchungsbehörde für Unfälle in der Luft- und Schienenfahrt ihren lange erwarteten Untersuchungsbericht des Zugunglücks. Die Gutachter kommen in ihrem 178seitigen Schreiben zum Schluss, dass »alles falsch gelaufen« sei. Sie weisen auf Personalmangel, schlechte Ausbildung und fehlende Sicherheitskontrollen hin.
Chronische Unterfinanzierung des Eisenbahnsystems seit 2010
In ihrem Bericht konstatieren die Gutachter eine chronische Unterfinanzierung des Eisenbahnsystems seit 2010. Nach dem Staatsbankrott von 2010 hatte die sogenannte Troika der Kreditgeber, bestehend aus IWF, EU und EZB, der griechischen Regierung einen radikalen Sparkurs verordnet. Dazu gehörte die massenhafte Entlassung von fachkundigem Personal, das nun überall fehlt.
2014 war ein von der EU kofinanzierter Vertrag, bekannt unter dem Namen »Vertrag 717«, abgeschlossen worden, der vorsieht, dass das in Aufbau befindliche einheitliche europäische Zugbeeinflussungssystem ERTMS auch in Griechenland etabliert wird. Dieses hätte eigentlich schon 2016 unter der damaligen Regierung von Alexis Tsipras – einer Koalition aus der linken Partei Syriza und der rechtspopulistischen Anel – fertiggestellt werden sollen, allerdings kam es immer wieder zu Verzögerungen. Das System, das über ein integriertes automatisches Bremssystem verfügt und so womöglich das Zugunglück hätte verhindern können, ist immer noch nicht in Betrieb, stattdessen wird das Schienenleitsystem weiterhin manuell betrieben.
Hinzu kommen die Stellenkürzungen, so dass an dem Unglücksabend im kurz vor Tempi gelegenen Stellwerk von Larissa nicht wie vor 2010 zwei erfahrene Fahrdienstleiter im Dienst waren, sondern lediglich ein unerfahrener und unzureichend geschulter Kollege. Diesem hatte die konservative Regierung von Kyriakos Mitsotakis zunächst die Alleinschuld am Unglück zugeschrieben.
Niemand will die Verantwortung übernehmen
Noch am selben Tag begann man mit der Einebnung des Unglücksorts und der systematischen Zerstörung von Beweismaterial. Bis heute will niemand die Verantwortung dafür übernehmen. Erdreich samt menschlicher Überreste wurde abgetragen und zu Müllkippen gebracht. Danach wurde der Krater am Unglücksort mit Schüttmaterial gefüllt. Mit Asphalt und Beton wurde versiegelt, was noch zugänglich war. Der Untersuchungsbericht bestätigt, das wichtiges Beweismaterial verloren ging, weil die Unfallstelle nicht abgesperrt wurde.
Zu den vernichteten Beweismitteln gehören auch die Spuren einer Explosion, die es nach dem Zusammenstoß gab und die einen Feuerball erzeugte; dieser verursachte die meisten der Todesfälle. »Ich bekomme keinen Sauerstoff mehr«, sind die letzten Worte einer Studentin, die sie ins Telefon ruft, um die Rettungskräfte zu alarmieren. Viele Demonstranten tragen T-Shirts mit dieser Aufschrift.
Angehörige der Getöteten vermuteten, dass der Güterzug womöglich geschmuggelten Explosivstoff transportierte. In dem Untersuchungsbericht heißt es, es sei unmöglich, die genaue Ursache des Feuerballs zu bestimmen, Simulationen und Expertenberichte deuteten aber auf das Vorhandensein eines bisher unbekannten Explosivstoffs hin.
In Umfragen verliert die Regierung stark an Zustimmung, die sozialdemokratische Opposition hat für die kommende Woche einen Misstrauensantrag angekündigt.
Die Regierung hatte in den vergangenen zwei Jahren all jene, die von nichtdeklarierten Explosivstoffen im Güterzug sprachen, als »Chemtrail-Schwurbler« diskreditiert. »Wer von Schüttmaterial spricht, gehört auf die Müllhalde«, tönte Justizminister Georgios Floridis, konfrontiert mit dem Vorwurf der Vertuschung, im Parlament.
Nun wankt die Regierung. In Umfragen verliert sie stark an Zustimmung, die sozialdemokratische Opposition hat für die kommende Woche einen Misstrauensantrag angekündigt. Die Unzufriedenheit und die jetzigen Massenproteste rühren nicht nur vom Umgang mit dem Zugunglück her. Griechenland steht in puncto Wirtschaftswachstum und Abbau der Staatsschulden mittlerweile gut da, aber die meisten Griechen leiden nach wie vor stark unter den Folgen der Finanzkrise. Die Realeinkommen lagen 2024 noch immer 23,7 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Was die Kaufkraft anbelangt, belegte Griechenland 2023 im EU-Vergleich den vorletzten Platz – gefolgt vom Schlusslicht Bulgarien.