06.03.2025
Denys Gorbach, Sozialwissenschaftler, im Gespräch über die ukrainische Arbeiterklasse im Krieg

»Die meisten denken ans Überleben«

In der südukrainischen Industriestadt Krywyj Rih wird mehrheitlich Russisch gesprochen, jahrelang wählte die Mehrheit oft als »prorussisch« bezeichnete Parteien. Dennoch gab es 2022 starken Widerstand gegen die russische Invasion. Die »Jungle World« sprach mit dem Sozialwissenschaftler Denys Gorbach über die ukrainische Arbeiterklasse im Krieg.

Geht es um die Ukraine, spricht man selten über die ukrainische Klassengesellschaft oder darüber, dass die Ukraine ein armes Land an der Peripherie der Weltwirtschaft ist. Warum ist das so?
Derzeit steht eben alles im Kontext des Kriegs, dem ordnet man andere Themen unter. Das hat oft fast etwas von Selbstzensur. Aber wem kann man es verübeln? Äußert man sich etwas kritischer zur ukrainischen Gesellschaft, wird man schnell von Leuten vereinnahmt, die die Ukraine als außergewöhnlich korrupt, undemokratisch oder ein Land voller Nazis darstellen wollen. Für solche Diskussionen fehlt mir dieser Tage die Kraft.

Sie sind – wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj – in Krywyj Rih aufgewachsen und haben dort in den Jahren vor der russischen Vollinvasion Feldforschung über Industriearbeiter betrieben. Was ist das für eine Stadt?
Es ist eine große, größtenteils in der Sowjetzeit entstandene Industriestadt. Die Industrie bildet das Zentrum des sozialen und städtischen Lebens. Bis heute gibt es große Kombinate, die mehrere Fabriken und Bergwerke umfassen und deren alte, paternalistische Strukturen zur Versorgung der Arbeiterschaft in verkümmerter Form fortbestehen. Kontrolliert werden sie von einer meist als Oligarchie bezeichneten Klasse, die wenig in die veralteten Fa­briken investiert.

Was ist mit kleineren Betrieben?
Kleinere oder mittlere Fabriken funktionieren ganz anders als die großen Kombinate. Ich habe selbst in so einem Betrieb gearbeitet. Dort wurden die Arbeiter flexibel angestellt oder entlassen, zum größten Teil arbeiteten sie schwarz und die Arbeit wurde nach Stückzahl bezahlt, der Arbeitsschutz war extrem lax, Anspruch auf bezahlte Kranken- oder Urlaubstage gab es nicht. Diese beiden Arbeitsregime existieren in Städten wie Krywyj Rih nebeneinander.

Die letztere Form ist in der Ukraine insgesamt verbreiteter, oder?
Ja, dieses extrem Unregulierte ist in vielen Wirtschaftszweigen die Norm. Oft wird das von der ukrainischen IIntelligenzija als progressiver und unternehmerisch gepriesen und der Gegensatz zur paternalistischen Kultur der großen Industriebetriebe aufgemacht, die eine typisch sowjetische, passive Mentalität am Leben erhalte. Da schwingt ein gewisser Chauvinismus mit, der sich gegen die Bewohner der vornehmlich russischsprachigen Industriegebiete im Osten und Südosten richtet.

»Die Ukraine droht in eine Grauzone abzurutschen, in der es keine Kapitalinvestitionen gibt, kein Wachstum, aber dafür eine Menge traumatisierter und bewaffneter Männer.«

Was macht die sogenannten Oligarchen aus?
Heutzutage ist es Mode, alle möglichen Kapitalisten gleich Oligarchen zu nennen. Aber für die Ukraine ist der Begriff nach wie vor sinnvoll. Gemeint sind Kapitalisten, die auch über politische Macht verfügen, Medien und Parteien kontrollieren und für ihre Geschäfte auch darauf angewiesen sind. In Krywyj Rih fielen die meisten Industriebetriebe nach der Privatisierung ab 2000 in die Hände von Oligarchen, die mit der Partei der Regionen verbunden waren, der Partei des 2005 mit der sogenannten Orangenen Revolution abgewählten Ministerpräsidenten Wiktor Janukowytsch. Der wurde 2010 Präsident, um dann 2014 vom Euromaidan gestürzt zu werden. In Krywyj Rih war als Eigentümer am wichtigsten der Oligarch Rinat Achmetow, der seine Machtbasis früher im ostukrainischen Donbass-Gebiet hatte. Mit alldem einher ging die Dominanz von sogenannter prorussischer Politik, auch nach 2014.

In Ihrem Buch sprechen Sie von »ostslawischer« Identitätspolitik. Diese habe viele Jahre lang in der ukrainischen Öffentlichkeit mit »ethnisch-ukrainischen« Positionen konkurriert. Was kennzeichnete die »ostslawische« Politik?
Zentral sind eine starke Bezugnahme auf die russische Sprache, die Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, eine zumindest nicht antisowjetische Geschichtspolitik, die den Sieg der Roten Armee über die Nazis in den Mittelpunkt rückt, sowie das Eintreten für bessere Beziehungen zu Russland.

Und warum wollen Sie das nicht »prorussisch« nennen?
Das ist ein polemischer Begriff, der der Sache meist nicht gerecht wird. Wiktor Janukowytschs Partei der Regionen war vor 2014 zum Beispiel gegen eine wirtschaftliche Integration mit Russland. Die Oligarchen hatten Angst, von den stärkeren russischen Oligarchen dominiert zu werden. Janukowytsch hat sich als Präsident dem Drängen Russlands, Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion zu werden, widersetzt und stattdessen jahrelang auf das Assoziationsabkommen mit der EU hingearbeitet. Deshalb war es ja so ein Schock, als er im November 2013 auf russischen Druck hin plötzlich die Verhandlungen mit der EU abbrach, was die Maidan-Proteste auslöste. Ohnehin habe ich beobachtet, dass die meisten Unterstützer dieser Parteien sich deren Ideologie nie wirklich aneigneten, sondern sie eher wie eine Art normalen common sense betrachten. Eine »antipolitische« Haltung ist zum Beispiel in der Ukraine viel weiter verbreitet als die Parteinahme für ein bestimmtes politisches Lager. Wolodymyr Selenskyj erhielt mit seiner populistischen Kritik am korrupten Politikbetrieb und seiner Distanzierung von diesen Identitätskonflikten 2019 über 70 Prozent der Stimmen.

Also sind diese beiden entgegengesetzten Identitäten vor allem eine Erfindung populistischer Politiker, die sich damit eine Wählerbasis schaffen wollten?
Sie sind jedenfalls sehr viel konstruierter und im sozialen Leben uneindeutiger, als es sich Essentialisten vorstellen.

Wie war das nach 2014, als von der neuen Regierung in Kiew eine »ethnisch-ukrainische« Politik propagiert wurde?
Auf nationaler Ebene war die »ostslawische Identität« marginalisiert, die ukrai­nische Sprache wurde gefördert und eine nationalistische, antisowjetische Geschichtspolitik propagiert. Auf lokaler Ebene in Krywyj Rih war die »ostslawische Identität« immer noch hegemonial. So konnten sich in Krywyj Rih Vertreter beider Seiten unterdrückt fühlen, was solchen Leuten ja immer wichtig ist (lacht).

Und wie reagierten diese Leute auf den russischen Einmarsch von 2022?
Es war ein Schock für sie. Die sogenannten prorussischen Parteien hatten die Gefahr einer russischen Invasion geleugnet, ihre Anhänger waren darauf völlig unvorbereitet.

Wie haben die Bewohner Krywyj Rihs reagiert?
Mit Gegenwehr. In dem »ostslawischen« Teil der Bevölkerung gab es nach der Invasion eine ebenso große Mobilisierung gegen die Invasion wie überall im Land: Leute meldeten sich zur Armee oder unterstützten anderweitig den Kampf. In dieser stets als passiv bezeichneten Bevölkerung gibt es genauso Unterstützernetzwerke für die Armee wie in anderen Teilen der Bevölkerung.

Wie ist das zu erklären?
Nicht damit, dass sich plötzlich alle mit der hegemonialen Form des ukrainischen Patriotismus identifizieren würden. Die Invasion zeigte allerdings deutlich, dass für sie, anders als für viele Russen, die Grenze zwischen den zwei Ländern in den 30 Jahren der Unabhängigkeit gedanklich real geworden war. Entscheidender war aber, dass sie die Frage der Verteidigung gegen die Invasion gar nicht als politisch empfanden, sondern schlicht als Verteidigung ihrer Lebenswelt gegen einen externen Aggressor.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, die ukrainische Gesellschaft sei mehrheitlich apolitisch?
Der Mythos, dass die Ukraine eine besonders aktivistische Gesellschaft sei, hat sich nach dem Euromaidan entwickelt, aber tatsächlich aktiv war stets nur eine Minderheit, oft aus der urbanen Mittelschicht. Die Wahl von Wolodymyr Selenskyj hat gezeigt, über wie wenig politische Autorität die patriotische Intelligenzija verfügte: Die große Mehrheit stimmte für einen »antipolitischen« Außenseiterkandidaten, der dazu noch Frieden mit Russland versprach.

Wie würden Sie diese »antipolitische« Haltung charakterisieren?
Es gibt eine weitverbreitete Skepsis gegen Politiker und Ideologien, die mit einer gewissen politischen Passivität verbunden ist. Denn es geht dabei um ein Gefühl der Machtlosigkeit, der Unmöglichkeit, selbst etwas zu ändern. Das war nicht immer so: Das Ende der Sowjetunion ging mit einer enormen Politisierung der Arbeiterschaft und großen Streiks einher. Darauf folgte die extreme ökonomische und soziale Krise der Neunziger. Die Reaktion war ein Rückzug ins Private, gerade bei Arbeitern.

Wie sieht es mit Gewerkschaften aus?
Wie schon zu Sowjetzeiten sind die großen Industriegewerkschaften so etwas wie die rechte Hand des Managements. Für die Arbeiter sind sie aber trotzdem wichtig, weil sie Sozialleistungen verteilen. Daneben gibt es unabhängige Gewerkschaften, die durchaus kämpferisch sein wollen, aber marginal sind.

Wie hat sich das mit der Vollinvasion verändert?
Die Regierung hat 2022 die arbeiter- und gewerkschaftsfeindlichsten Gesetze in der Geschichte der Ukraine erlassen. Die Regierung nutzte die Chance, das durchzudrücken, oder vielleicht sah sie es angesichts des Kriegs für notwendig an.

Gab es keine Gegenwehr?
Die großen Gewerkschaften erklärten ihren Widerspruch, aber blieben passiv. Unter dem Kriegsrecht war es nicht möglich, Proteste zu organisieren. Und die meisten Arbeiter hatten andere Sorgen. Zudem hat der drastische Wirtschaftseinbruch von 2022 die Position von Arbeitern geschwächt. Die Lage ist so schlecht, dass gilt, was die Ökonomin Joan Robinson einmal schrieb: Das Elend, von Kapitalisten ausgebeutet zu werden, ist nichts im Vergleich zum Elend, gar nicht ausgebeutet zu werden. Es erinnert an die Krise der Neunziger, als viele weiterarbeiteten, obwohl sie keine Löhne mehr bekamen, weil sie so zumindest noch Zugang zu gewissen Gütern und Wohlfahrtsleistungen ihres Betriebs hatten.

In der Hoffnung darauf, dass sich die Lage wieder bessern könnte?
Ja, die große Frage ist: Wie sieht die Zukunft aus? Wenn der Krieg mit einem Waffenstillstand enden sollte, bleibt das Problem der Wirtschaft. Es gab bereits verfrühte Konferenzen über den Wiederaufbau der Ukraine. Dabei wurde klar, dass dieser sich im Westen des Landes konzentrieren würde. Wer will auch in Frontnähe investieren, gerade, wenn der Frieden nur fragil ist? Der Niedergang dieser Gebiete voller alter Industrie aus der Sowjetzeit, die ohnehin den Umweltauflagen der EU nicht genügen, scheint programmiert.

Droht nicht vielmehr ein Ausverkauf der Ukraine an westliches Kapital?
Das Problem ist genau andersherum. Osteuropäische Staaten wie Tschechien oder Ungarn haben sich nach 1989 vor allem vom deutschen Kapital kolonisieren lassen. Heute ist es um einiges angenehmer, dort zu leben, als in der Ukrai­ne. Für die meisten Ukrainer wäre es schon ein enormer ökonomischer Aufstieg, würde sie zu einem peripheren EU-Staat. Aber ob die Ukraine für westliche Investoren noch attraktiv ist, bleibt fraglich. Das Land droht in eine Grauzone abzurutschen, in der es keine Kapitalinvestitionen gibt, kein Wachstum, aber dafür eine Menge traumatisierter und bewaffneter Männer. Dieses Szenario ist für viele Ukrainer viel bedrohlicher als eine Abhängigkeit von der EU. Die würden sie eher als Rettung betrachten.

Ist wirtschaftliche Entwicklung also eine wichtigere Motivation für die sehr hohe Zustimmung zu einem EU-Beitritt in der Bevölkerung als Freiheit und Demokratie?
Das kann man so nicht trennen, Freiheit und Demokratie sind wichtig. Aber die Ukraine braucht wirtschaftliche Inte­gration. Und da bleibt nur die EU, denn spätestens seit 2014 sind die ökonomischen Verbindungen nach Russland zerstört. Dass sich die Ukraine außerhalb des EU-Blocks besser entwickeln könnte, mit einer vermeintlich souveränen Wirtschaftspolitik ähnlich der Phase der Importsubstitution in den siebziger Jahren, halte ich für eine Illusion.

Wie blicken Ihre Gesprächspartner in Krywyj Rih derzeit auf den Krieg?
Sie sind sehr besorgt darüber, dass die Front sich auf ihre Stadt zubewegt. Alle haben das Schicksal von Mariupol vor Augen, eine Stadt, die Krywyj Rih sehr ähnelte und zu der es viele persönliche Verbindungen gab. Das heißt allerdings nicht, dass alle bereit wären, zur Armee zu gehen.

Seit über einem Jahr wird immer mehr mit Zwang zur Armee mobilisiert. Wie ist es in Krywyj Rih?
Dort wurde schon seit 2014 überproportional viel für das Militär rekrutiert. Männer aus großen Industriebetrieben sind in der Armee überrepräsentiert, weil sie von den Behörden leichter über ihren Arbeitsplatz aufzufinden sind als Leute, die informell irgendwo arbeiten. Das gleiche gilt für Männer vom Dorf, wo die soziale Kontrolle stärker ist.

Wie läuft die Mobilmachung am Arbeitsplatz ab?
Lange kooperierten die Unternehmen mit den Behörden, aber es kam wegen des Arbeitskräftemangels vermehrt zu Konflikten. Es gab Geschichten, wo die Rekrutierer unangekündigt in Fabriken auftauchten und das Gelände durchsuchten. Mittlerweile ist zumindest ein Teil der Belegschaft von für kriegsrelevant erklärten Betrieben – beispielsweise in der Schwerindustrie, beim Bergbau und der Eisenbahn – von der Re­krutierung ausgenommen.

»Ich wüsste nicht, inwiefern die Forderung nach Sicherheit vor einem erneuten russischen Angriff nicht auch ein Interesse der Arbeiterklasse wäre.«

Viele Linke hierzulande argumentieren, die Arbeiterklasse müsse erkennen, dass sie in diesem Krieg nichts zu gewinnen habe. Was denken Sie darüber?
Selbst im Zweiten Weltkrieg gab es Aufrufe, nicht den Krieg bürgerlicher Staaten gegen den Faschismus zu unterstützen, etwa von den anarchistischen Plattformisten. Ich will die Legitimität solcher Positionen an sich nicht in Frage stellen. Aber ich denke, ist es keine gute Idee, a priori davon auszugehen, dass die Leute dumm sind und aufgrund ihres falschen Bewusstseins ihre eigenen Interessen nicht verstehen. Bevor man zu einem Urteil kommt, was zum Beispiel ukrainische Arbeiter tun oder lassen sollten, sollte man mit ihnen sprechen oder versuchen, ihre Situation zu verstehen. Beim Blick auf den Krieg haben wohl einige nur ein Schema aus dem Ersten Weltkrieg im Kopf. Ich sehe meine Aufgabe nicht dar­in, für einen nationalen Verteidigungskampf zu plädieren. Aber ich plädiere für eine echte Analyse der Verhältnisse.

Wie fällt die aus?
Ukrainische Arbeiter sind nicht getäuscht von nationalistischer Propaganda. Sie denken ziemlich pragmatisch. Es sind Umstände außerhalb ihrer Kontrolle, die sie dazu zwingen, in diesem Krieg zu kämpfen, den sie hassen. Gäbe es morgen einen Waffenstillstand, wären die meisten wohl erleichtert. Einige hatten Hoffnungen auf Trump gesetzt. Aber sein Verhalten der vergangenen Wochen und die Bedingungen, die er stellt, hat viele Leute in Krywyj Rih schockiert, weil das nicht der Frieden ist, den sie wollen.

Und was folgt daraus?
Ich sehe mich nicht in der Lage, anderen zu sagen, was die korrekte Position ist, ich weiß es selbst nicht. Einerseits wollen alle, dass der Krieg aufhört, niemand will sterben oder seine Nächsten verlieren. Aber allen ist auch klar, dass ein instabiler Waffenstillstand die Fortsetzung des Kriegs in näherer Zukunft bedeuten kann, wie es schon in der Vergangenheit war. Die Forderung nach Sicherheit vor einem erneuten russischen Angriff ist keine Forderung der ukrainischen Bourgeoisie oder einer tyrannischen Selenskyj-Regierung. Ich wüsste nicht, inwiefern das nicht auch ein Interesse der Arbeiterklasse wäre.

Was wünschen sich die Arbeiter?
Die meisten wünschen sich politische und wirtschaftliche Stabilität. Letztere untergräbt die Regierung mit ihrer eigenen Wirtschaftspolitik. Sie folgt einer technokratischen Herangehensweise: Sie denkt vor allem daran, welche Ressourcen von ihr extrahiert werden müssen, weniger daran, wie das von der Gesellschaft aufgenommen wird. Ähnlich ist es mit der teilweise gesetzlosen Art und Weise, wie die Verschärfung der Mobilmachung seit vergangenem Jahr abläuft.

Es gibt sogar Berichte über Gewalt gegen Rekrutierungsbeamte. Drückt sich darin aus, dass die ukrainische Regierung ihre Legitimität verloren hat?
Meine Kollegin Daria Saburova, die 2023 Feldforschung in Krywyj Rih durchführte und jetzt auch wieder dort ist, argumentiert, dass es kaum erstaunlich sei, dass so viele Leute nicht zur Armee wollen. Erklärungsbedürftig sei vielmehr, dass die Mobilisierung nach drei Jahren immer noch weitergehen kann. Es gibt Frauen, die als Freiwillige Armeeeinheiten unterstützen und gleichzeitig ihre eigenen Männer verstecken. Solche Widersprüche sind sozialwissenschaftlich interessant, aber vor allem sind sie tragisch. Die meisten denken eben nicht in abstrakten Kategorien, sondern daran, irgendwie zu überleben, und verfolgen individuelle Strategien.

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Denys Gorbach

Denys Gorbach ist ukrainischer Sozialwissenschaftler und lehrt derzeit an der Universität Lund in Schweden. 2024 erschien sein Buch »The Making and Unmaking of the Ukrainian Working Class: Everyday Politics and Moral Economy in a Post-Soviet City«, das auf Feldforschung in seiner Herkunftsstadt Krywyj Rih basiert. Er gehört dem Redaktionskollektiv der ukrainischen Zeitschrift »Spilne« (Commons) an. 

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