13.03.2025
In Frankreich wird Premierminister François Bayrous Verwicklung in einen Missbrauchsskandal untersucht

Nicht verjährter Missbrauch

In Frankreich wird Premierminister François Bayrou vorgeworfen, Misshandlungen und sexuelle Übergriffe an einer Privatschule nicht angezeigt zu haben, als er Bildungsminister war.

Paris. Ein Untersuchungskomitee der seltenen Art konstituierte sich am Montag in der französischen Nationalversammlung: Deren Ausschuss für kulturelle und bildungspolitische Angelegenheit sprach sich selbst die Kompetenzen einer Enquête-Kommission zu, um zu ermitteln. In ihr soll es nun darum gehen, herauszufinden, welches Ausmaß die Missstände an der katholischen Privatschule Notre-Dame de Bétharram annahmen – und welche Rolle der heutige Premierminister François Bayrou dabei spielte. Und falls der christdemokratische Politiker »uns mehrfach belogen hat«, gemeint ist das gesamte Parlament, »dann muss er gehen«, sagte die sozialdemokratische Parlamentarierin Fatiha Keloua-Hachi.

Notre-Dame de Bétharram wurde 1837 als konfessionelle Grundschule gegründet und später um weiterführende Schulzweige sowie ein Internat erweitert. Es erwies sich zwischen den späten fünfziger Jahren und den zweitausendzehner Jahren als Gefängnis für die Schüler, in dem Schläge, Misshandlungen, nächtliches Aussperren und sexuelle Übergriffe durch Wach- und Lehrpersonal an der Tagesordnung waren. Als einen »Gulag in den Pyrenäen« bezeichneten ehemalige Schüler in der Tageszeitung Le Parisien die Einrichtung. Zu Jahresanfang hatten bereits 112 von ihnen Anzeige erstattet, doch erst am kommenden Montag will das Bildungsministerium eine Untersuchungsgruppe in das katholische Internat schicken.

Ein erstes Strafverfahren verlief in den späten neunziger Jahren im Sand, doch beging der Hauptbeschuldigte, Pater Silviet-Carricart, im Februar 2000 im Vatikan Selbstmord.

Den Stein ins Rollen gebracht hatte Anfang Februar ein Hintergrundartikel im Investigativportal Mediapart über die Rolle von Bayrou, der von 1993 bis 1997 Bildungsminister war und demnach mitverantwortlich für das jahrelange Verschleppen von Ermittlungen. 1996 wurde eine erste Strafanzeige behandelt: Ein Schüler war infolge von erlittenen Schlägen auf einem Ohr taub geworden. Zur selben Zeit hatte Bayrou in Bétharram mehrere seiner sechs Kinder eingeschult und seine Ehefrau Élisabeth Bayrou unterrichtete dort den Katechismus.

Das Paar will von nichts gewusst haben. Ende Februar bezeugte eine frühere Mathematiklehrerin in Bétharram, Françoise Gullung, bei einem von ihr in der Schule mit Élisabeth Bayrou geführten Gespräch sei hörbar gewesen, wie ein Schüler geschlagen wurde. Ein erstes Strafverfahren verlief in den späten neunziger Jahren im Sande, doch beging der wegen Vergewaltigung von Minderjährigen beschuldigte Pater Pierre Silviet-Carricart, von 1987 bis 1993 Direktor in Bétharram, im Februar 2000 im Vatikan Selbstmord. Die jüngste Berichterstattung wirbelte nun genügend Staub auf, dass sich auch die Justiz ernsthaft für die Umtriebe in der Einrichtung interessiert. Drei Beschuldigte, Jahrgänge 1931 bis 1965, wurden vorübergehend festgenommen und verhört. Alle drei räumten einen Teil der Vorwürfe wie Schläge ein und bestritten andere Beschuldigungen wie schwere sexuelle Übergriffe.

74 Anzeigen unter anderem wegen Vergewaltigung

Der Staatsanwaltschaft von Pau zufolge sind die Tatvorwürfe gegen zwei von ihnen verjährt. Als nicht verjährt gelten die Vorwürfe gegen Damien S., gegen den 74 Anzeigen vorliegen, unter anderem wegen Vergewaltigung. Er beendete seine Karriere vor der Rente 2018 im zentralfranzösischen Châteauroux als stellvertretender Leiter einer katholischen Schule. Mittlerweile stieg die Zahl der Strafanzeigen auf 152, und das Klägerkollektiv will das Verjährungsproblem lösen, indem es Ermittlungen nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen die Einrichtung als juristische Person und die Bildung eines Gesamttatbestands über die fraglichen Zeiträume hinweg fordert.

Rund 17 Prozent einer Jahrgangsstufe der französischen Schülerinnen und Schüler besuchen derzeit Privatschulen. Es gibt Privatschulen »unter Vertrag«, deren Abitur vom allgemeinen Schul- und Hochschulwesen anerkannt wird, mit 2,2 Millionen Schülerinnen und Schülern, und solche »außer Vertrag« mit 130.000. Letztere dürfen zwar unterrichten, doch müssen sie sich vollständig durch Elternbeiträge finanzieren und die Schüler müssen ein externes Abitur in einer anderen Lehranstalt ablegen. Dagegen werden die per Vertragsschluss mit dem Bildungsministerium anerkannten Privatschulen sowohl durch private Schulgebühren als auch durch öffentliche Zuschüsse finanziert; dazu zählt auch Bétharram.

Im Frühjahr 1984 versuchte die damalige Regierungskoalition, der unter anderem der Parti socialiste (PS) und der Parti communiste français (PCF) angehörten, die öffentlichen Mittelzuwendungen für das Privatschulwesen zu begrenzen. Dagegen demonstrieren damals über eine Million Menschen aus allen Teilen der politischen Rechten und der katholischen Kirche. Der erste größere Erfolg des Rassemblement national (RN), der damals noch Front national hieß, bei landesweiten Wahlen ging damit einher. Der Gesetzentwurf der linken Regierung musste zurückgezogen werden. Umgekehrt demonstrierten eine Million Menschen im Januar 1994 in Paris gegen ein Gesetzesvorhaben von François Bayrou, das die Privilegien der konfessionellen Privatschulen noch ausweiten sollte und sowohl am Protest als auch am Verfassungsgericht scheiterte. Seitdem hielten alle Regierenden sich bei dem, was man als »Schulkrieg« bezeichnete, eher zurück.

Katholische Internatsschule mit Geschlechtertrennung

96 Prozent der Privatschulen in Frankreich verwaltet die katholische Kirche, daneben gibt es einen jüdischen Privatschulzweig sowie nichtkonfessionelle Einrichtungen mit besonderen Lehrmethoden wie die Montessori-Schulen. Viel schwerer hat es im Vergleich dazu das muslimische Privatschulwesen: Es umfasst derzeit circa 1.900 Schülerinnen und Schüler, doch seinen zwei wichtigsten Einrichtungen, den Schulen Averroès in Lille und al-Kindi in Lyon, wurden Ende 2023 beziehungsweise Anfang 2025 die vertragliche Anerkennung und die öffentliche Kofinanzierung entzogen – es wurden Verdächtigungen islamistischer Radikalisierung gestreut.

Im September soll in der Sologne in der Nähe von Orléans erstmals wieder eine katholische Internatsschule mit Geschlechtertrennung öffnen – 1976 war die gemeinsame Schulerziehung von Jungen und Mädchen als gesetzliches Grundprinzip eingeführt worden. Finanziert wird das Projekt unter dem Namen Académie Saint-Louis von dem Milliardär und Kulturkämpfer Pierre-Édouard Stérin, einem der Finanziers des RN. Mehrere linke Parteien, Gewerkschaften und NGOs opponieren gegen die Eröffnung des Internats und bezeichnen dieses Le Monde zufolge als »rechtsextremes« Projekt.