13.03.2025
Bei der russischen Polizei und der Justiz herrscht großer Personalmangel

Polizeistaat mit Personalproblem

Im russischen Polizeiapparat sind über hunderttausend Stellen unbesetzt – Tendenz steigend.

Russland als Polizeistaat zu bezeichnen, ist allein schon deshalb zutreffend, weil die Intention, Menschen zu kontrollieren und für vermeintliche Vergehen abzustrafen, allgegenwärtig ist. Das spiegelt sich auch in der Personalstärke wider: Russland zählt mit über 500 Polizeikräften pro 100.000 Einwohnern im weltweiten Vergleich zu den Ländern mit einer relativ hohen Polizeipräsenz.

Vor genau einem Jahrzehnt hatte Präsident Wladimir Putin aufgrund der Finanzkrise noch erhebliche Streichungen im Polizeiapparat vorgesehen, doch die Bedeutung der Ordnungskräfte insgesamt hat seither enorm zugenommen – bei all den im vergangenen Jahrzehnt eingeführten Verboten, Ordnungswidrigkeiten und Straftatbeständen braucht es Polizisten. 2022 verfügte Putin per Dekret eine Stellenaufstockung. Dem Plan zufolge hätte die Zahl der Polizeikräfte in den vergangenen Jahren schrittweise zunehmen und bis 2025 auf 938.000 ansteigen sollen; nicht eingerechnet ist hier die 2016 gegründete und direkt dem Präsidenten unterstellte Nationalgarde, die über 340.000 Angehörige verzeichnet.

Berufsanfänger im Streifendienst werden extrem schlecht bezahlt und fangen in der Provinz mit einem Monatsgehalt von umgerechnet rund 250 Euro an.

Allerdings hinkt die Realität dem Plan hinterher. Anfang März verkündete der russische Innenminister Wladimir Kolokolzew, der Polizeiapparat habe mit erheblichen Defiziten zu kämpfen, die es ihm erschwerten, seine Aufgaben zu erfüllen. Bei den dem Innenministerium unterstellten Behörden gebe es über 172.000 offene Stellen. Und die Zahl steigt: Während 2022 noch 90.000 Stellen im Polizeiapparat unbesetzt waren, waren es im Mai 2024 bereits 152.000. »Wir können nicht Geld drucken oder die Gehälter erhöhen«, verteidigte sich Kolokolzew damals. Denn der sich verschärfende Personalmangel rühre schlicht daher, dass das Einkommen zu gering sei.

Besonders kritisch sei die Situation bei der Streifenpolizei und den lokalen Polizeidienststellen. Dort verzeichne man auffallend viele Kündigungen. In Moskau würden gar drei Viertel des benötigten Personals fehlen. Insbesondere unter den älteren Mitarbeitern mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung sei die Kündigungsrate hoch. Dies habe, so Kolokolzew, innerhalb von rund sechs Jahren zu einer fast vollständigen Erneuerung des Personals geführt. Diese Tendenz sei besorgniserregend, da fundierte Orts- und Strukturkenntnisse über die den lokalen Dienststellen unterstellten Gebiete unerlässlich seien. Allein der Aufbau verlässlicher Kontakte in der Anwohnerschaft erfordere unter Umständen mehrere Jahre. Aber auch bei der Kriminalpolizei, der Drogenfahndung und anderen Spezialabteilungen sei ein akuter Mangel an qualifiziertem Personal zu beklagen.

Körperliche Misshandlungen bei Festnahmen sowie Folter von Häftlingen

Der Justizvollzug sieht sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Selbst Gerichte haben personalbedingt Schwierigkeiten, die erheblichen Massen an Verfahren zu bewältigen. Bei einer Plenarsitzung des Rats der Richter Anfang Dezember sprach der Generaldirektor der Justizabteilung am Obersten Gerichtshof, Wladislaw Iwanow, von 6.491 unbesetzten Richterstellen, was ungefähr einem Fünftel der Gesamtanzahl an erforderlichen Richtern entspricht. Betroffen davon seien alle Gerichtsarten und -ebenen. Als Gründe nannte auch er niedrige Gehälter, hohe Berufsanforderungen und wachsende Belastung.

Das unabhängige russische Rechercheprojekt Important Stories führte eine Reihe von Problemen und Gefahren für die russische Bevölkerung an, die direkt mit der Unterbesetzung im Polizeiapparat verbunden seien. In seinem Bericht zitiert es russische Menschenrechtler vom Antifolterteam (vormals Komitee gegen Folter), das warnt, hohe Belastung und Stress im Polizeiapparat begünstigten körperliche Misshandlungen bei Festnahmen sowie Folter von Häftlingen.

Herausgestellt wird ein Fall aus dem Jahr 2020 in Kemerowo, bei dem die Polizei nicht auf einen sieben Mal in Folge abgesetzten privaten Notruf reagiert hatte. Bewohner eines Mehrfamilienhauses hatten verdächtige Geräusche in der Nachbarwohnung gemeldet, die, wie sich später herausstellte, darauf zurückzuführen waren, dass die 23jährige Wera Pechtelewa von ihrem ehemaligen Lebensgefährten umgebracht worden war. Aus einer später von Journalisten ausgewerteten Audioaufnahme ging hervor, dass der diensthabende Polizist vergeblich Verstärkung aus anderen Wachen angefordert hatte.

Lieber an die Front

Berufsanfänger im Streifendienst werden extrem schlecht bezahlt und fangen in der Provinz mit einem Monatsgehalt von umgerechnet rund 250 Euro an. Auch bei anderen Einsatzbereichen im Polizeidienst liegen die Gehälter weit unter dem landesweiten Durchschnitt. Ein anonym aussagender Experte für die Arbeit des russischen Ordnungskräfte sagte Important Stories, dass die schlechte Bezahlung wohl für viele Polizisten, gerade aus abgelegeneren Regionen, der Grund sein dürfte, sich für den Fronteinsatz zu entscheiden.

Mit hohen Einmalzahlungen bis über 50.000 Euro, einem Sold von über 2.000 Euro und weiteren Vergünstigungen steht die Honorierung eines Fronteinsatzes in auffallendem Kontrast zu der des Polizeidiensts. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine belastet den Staatshaushalt so sehr, dass andere Aufgaben zurückstehen – sogar im Bereich innere Sicherheit.