13.03.2025
J. D. Vances Rhetorik über freie Meinungsäußerung zeugt von Ahnungslosigkeit

Free Speech Elegy

Die Behauptung, in Europa sei die Meinungsfreiheit bedroht, gehört seit einigen Wochen zu den zentralen Behauptungen von US-Außenpolitikern. Dass es mit der »free speech« in den USA immer so weit her gewesen sei, ist ein Mythos, den J. D. Vance und andere pflegen, solange er der äußersten Rechten nutzt.

Die neue US-Regierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Europa neu zu definieren. Wie weit sie dabei gehen wird, darüber kann man nur spekulieren. Von Präsident Donald Trumps sidekick Elon Musk lässt sich zumindest sagen, dass der Oligarch eine internationale Kampagne zur Unterstützung für Rechtsaußenparteien führt. In deren Interesse mischt er sich pausenlos und unverblümt in die Belange und Wahlen anderer Länder ein. Auffällig ist dabei, dass er immer wieder damit argumentiert, die Meinungsfreiheit in Europa sei bedroht. In seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar hat US-Vizepräsident J. D. Vance diese Ansicht nicht nur übernommen, sondern sie zum entscheidenden Kriterium für die US-amerikanische Europapolitik gemacht.

Apologeten der Rede wie etwa die liberale Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter wollen die Aufregung nicht verstehen. Man reagiere weinerlich auf Kritik, aber im Kern liege Vance ja durchaus richtig, heißt es. Und überhaupt verstünden die US-Amerikaner bei Meinungs- und Redefreiheit halt keinen Spaß. So löst man das vermeintliche Kernargument aus dem Zusammenhang, in dem es Vance präsentiert hat. Denn mit der Stilisierung des Problems zu einer größeren Bedrohung als Russland oder China, ja zu einer Zäsur in der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft, stellt sich immerhin die Frage: Weiß Vance überhaupt, wovon er spricht? Denn ob es hier kleinere oder größere Defizite bei der Meinungsfreiheit gibt oder aber derart gravierende Probleme vorliegen, dass ein Bruch in den transatlantischen Beziehungen her müsse, das sind eben völlig unterschiedliche Sachverhalte.

Jüngere Eingriffe insbesondere in die Debatten in den sozialen Medien kann man durchaus kritisch sehen. Aber im Vergleich zur Repression, die Linke lange zu ertragen hatten, nimmt sich das eher harmlos aus.

Dabei ist der Kernpunkt von Vance, der als Autor des Romans »Hillbilly Elegy« von manchen zum Intellektuellen verklärt wurde, eher schlicht. Dass man hier keinen guten Umgang mit der digitalen Öffentlichkeit gefunden hat, wenn Hausdurchsuchungen wegen Memes veranstaltet werden, sollte auch Linken auffallen. Ebenso darf und sollte man den Einfluss des staatlich-zivilgesellschaftlichen Interventionswesens hinterfragen. Derlei Praktiken werden nicht zu Unrecht kritisiert. Aber reicht das für den dramatischen Befund, die Demokratie sei in Gefahr? Die hat ja bekanntlich mehreren Komponenten, wie etwa bei handelsüblichen Demokratie-Indices zu sehen. Am bekanntesten ist der democracy index der britischen Zeitschrift The Economist. Dort rangiert Deutschland stets klar vor den USA. Dasselbe gilt auch speziell für den Bereich der Pressefreiheit.

Und auch im Kernpunkt fehlt Vance offenbar das Wissen über die eigene, die US-amerikanische Geschichte. Denn nach dem von Vance angelegten Maßstab wäre die US-amerikanische Demokratie schon mehrfach untergegangen. Dafür muss man nicht bis zum Genozid an den Ureinwohnern oder in die Zeiten des Bürgerkriegs und der Sklaverei zurückgehen, wo das freie Wort gewiss nicht oberste Maxime war. Allein das 20. Jahrhundert der USA kennt mehrere Wellen von free speech fights, so im Kontext der Arbeiterbewegung um 1910 und während der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren. Auch wurden im »Krieg gegen den Terror« ab 2001 bestimmte Kritik als »unpatriotisch« gegängelt. Der Patriot Act weitete hierfür die Befugnisse der Regierung und ihrer Dienste aus.

Mythos der uneingeschränkten Meinungsfreiheit

Genaugenommen fiel das Vorgehen gegen abweichende Meinungen in den USA schärfer aus als in anderen Demokratien. Hatte die frühe Arbeiterbewegung schon hart einstecken müssen – durch Militär und Pinkertons (zumeist von Großunternehmen angeheuerte Privatagenten) –, hatten es Dissidenten im vorigen Jahrhundert mit einer schlagkräftigen politischen Polizei zu tun: dem FBI. Dessen Vorgängerorganisation, das Bureau of Investigation, trieb unter Federführung des späteren FBI-Direktors J. Edgar Hoover nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Tausende Aktivisten zusammen, die man irgendwie für links hielt, und deportierte Hunderte nach Sowjetrussland, ungeachtet ihrer Herkunft. Diese »Red Scare« fand ihre Fortsetzung in der McCarthy-Ära, als nach dem Zweiten Weltkrieg Andersdenkende für ihre »unamerikanischen« Ansichten verfolgt wurden. Nicht zuletzt verfolgte das FBI mit Cointelpro von 1956 bis 1971 ein Repressionsprogramm unter anderem gegen Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung sowie die Neue Linke. Man wolle, so Hoover, solche Gruppen daran hindern, »ihre Philosophie öffentlich oder über die Kommunikationsmedien zu verbreiten«.

Der Mythos der uneingeschränkten Meinungsfreiheit ist weitverbreitet in den USA, geschichtlich gesehen zählt das Land aber nicht als Klassenprimus. Am wenigsten kann man das vom rechten Lager sagen, von dem die Repression meist ausging; free speech fights wurden von links geführt. Jüngere Eingriffe insbesondere in die Debatten in den sozialen Medien, die vor allem Musk anprangert, kann man durchaus kritisch sehen. Aber im Vergleich zur Repression, die Linke lange zu ertragen hatten, nimmt sich das eher harmlos aus. Das gilt auch hier im Land des KPD-Verbots (1956) und der Jagd auf angebliche Sympathisanten der RAF im Deutschen Herbst 1977; lange Zeit kamen die Klagen über lügende Medien und mangelnde Meinungsfreiheit von links.

Hinter der Vance’schen free speech elegy zeigt sich so insgesamt ein instrumentelles Verhältnis zur Geschichte. Ob in bewusstem Widerspruch zu den historischen Fakten oder aus Unkenntnis, ist die Frage. Schaut man sich weitere US-Regierungsmitglieder an, die sich am Klagegesang beteiligen, ist Letzteres wahrscheinlich. So wurde Außenminister Marco Rubio anlässlich von Vances Rede in einem Interview des Senders CBS darauf angesprochen, dass der Vizepräsident »das in einem Land gesagt hat, wo Meinungsfreiheit zur Waffe gemacht wurde, um einen Genozid durchzuführen«. Daraufhin belehrte Rubio die Moderatorin, dass es unter den Nazis ganz sicher keine Meinungsfreiheit gegeben habe. Der Clip ging schnell viral im rechten Lager; die Moderatorin wurde dafür verhöhnt, dass sie so etwas nicht wisse.

Verrohung, Emotionalisierung, Propaganda und Polarisierung

Dabei ist es Rubio, der hier Unwissen demonstriert. Denn gemeint war natürlich nicht die Nazi-Zeit, sondern der Aufstieg der Nazis in der Weimarer Republik, die deren Freiheiten nutzten, um ihre (antisemitischen) Ideen zu verbreiten. Das Konzept der Volksverhetzung, wie es das deutsche Strafrecht definiert und das dem US-Rechtssystem fremd ist, geht auf diese Erfahrung zurück. Zu den Kronzeugen der Gefahren schrankenloser Meinungsfreiheit zählt Joseph Goebbels selbst. Der schrieb 1928, dass man sich »im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen« gedenke. Und noch 1935 sagte er in einer Rede: »Wenn unsere Gegner sagen: Ja, wir haben euch doch früher die Freiheit der Meinung zugebilligt – Ja, ihr uns, das ist doch kein Beweis, dass wir das euch auch tun sollen! Dass ihr das uns gegeben habt, das ist ja ein Beweis dafür, wie dumm ihr seid!«

Wie man damit umgeht, dass Freiheiten ausgenutzt und gegen das demokratische Gemeinwesen gekehrt werden können, ist eine urdemokratische Frage. Der kontroverse Punkt ist lediglich, wo beim Schutz die Grenzen zu ziehen sind. Und dank Digitalisierung ist das Problem in den vergangenen Jahrzehnten komplizierter geworden: Verrohung, Emotionalisierung, Propaganda und Polarisierung sind reale Probleme. Dass viele Antworten darauf fragwürdig sind, macht die Vorstellung, Meinungsfreiheit müsse grenzenlos sein, nicht weniger einfältig. Dafür muss man sich nur besondere Krisensituationen vor Augen halten. So haben Demokratien in Kriegen oft die Meinungs- und Pressefreiheit beschnitten. Krieg ist eben auch immer Informationskrieg. Wer ihn nicht führt, wird leicht destabilisiert. Auch den Kalten Krieg gewann der Westen nicht, weil er alle Informationen frei kursieren ließ. Umso bigotter wirken daher die Töne aus Washington, die der Ukraine demokratische Defizite in Kriegszeiten vorhalten.

Dass Vance in München den Europäern verkündete, dass man unterschiedlicher Meinung sein mag, »wir aber dafür kämpfen werden, dass ihr sie auf der öffentlichen Bühne vorbringen könnt«, auch das ist bigott. Denn nur wenige Tage später drohte er Selenskyj in einem Gespräch mit der konservativen Nachrichtenplattform The National Pulse, er solle öffentliche Kritik an den USA unterlassen. Es folgte darauf Selenskyjs Bloßstellung im Oval Office, der es gewagt hatte, dort seine Meinung vorzutragen. »Respektlos« sei es, so Vance, »diesen Streit vor den amerikanischen Medien auszutragen«. Dazu passt, dass Trump und Musk immer offener Ideen äußern, wie man kritischer Presse oder auch unliebsamer Berichtigungen von Falschaussagen in sozialen Medien Herr werden könne. Das Trump’sche Gesellschaftsmodell zielt gewiss nicht auf Meinungsfreiheit. Es fordert vielmehr die Unterwerfung unter die Launen eines Präsidenten, der aus seiner Affinität für autoritäre Systeme keinen Hehl macht.