13.03.2025
Walter Salles’ Filmdrama »Für immer hier« porträtiert eine Familie in den Fängen der brasilianischen Militärdiktatur

Gruppenbild mit einem Verschwundenen

Der brasilianische Regisseur Walter Salles erzählt in »Für immer hier« die Geschichte des von der Militärjunta ermordeten Politikers Rubens Paiva aus Sicht seiner Familie. Der Film überzeugt vor allem als Porträt einer Menschenrechtlerin.

Rio de Janeiro, Anfang der siebziger Jahre. Das Leben des Architekten Rubens Paiva und seiner Ehefrau Eunice mitsamt ihren fünf Kindern spielt sich am weiten Strand, in dem großzügigen Haus im Grünen und inmitten des progressiven Freundeskreises ab. Man geht liebevoll miteinander um, hat Hauspersonal und führt ein Leben im Wohlstand. Die Brutalität der Militärdiktatur unter Präsident Emílio Garrastazu Médici scheint weit weg von allem.

Bilder in satten Farben von Meer und Vegetation, hippiesker Garderobe und Interieurs unterlegen das Geschehen. Gezeigt werden Partys, Beachvolleyball-Spiele, schnittige Coupés und leuchtend gelbe VW-Käfer in den verwaschenen Farben der Super-8-Kamera, mit der die älteste Tochter Vera (Valentina Herszage) die Modernität und Leichtigkeit von Familien- und Studentenleben festhält. Gern wird die gesamte Familie zusammengerufen, um gutgelaunt für eine Gruppenbild zu posieren.

Der Flug eines Militärhubschraubers übers Meer, ein bedrohliches Bild, das auf die Praktiken des Verschwindenlassens in lateinamerikanischen Diktaturen verweist, stimmt das Publikum auf das kommende Unheil ein. Eines Tages stehen bewaffnete Männer im Wohnzimmer der Familie und nehmen Rubens (Selton Mello) mit, weil er, wie es heißt, eine Aussage machen soll. Er wird nie wieder auftauchen.

»Das Verschwinden Rubens’ war ein Schock, er war der erste Vater im Freundeskreis, der verschwand.« Walter Salles

Der Film »Für immer hier« des brasilianischen Regisseurs Walter Salles basiert auf dem autobiographischen Roman »Ainda estou aqui« (so auch der Originaltitel des Films, im internationalen Vertrieb »I’m Still Here«) von Marcelo Rubens Paiva, dem Sohn des vom Militär gefolterten und ermordeten Bauingenieurs und linken Politikers Rubens Beyrodt Paiva und seiner Frau Eunice.

Salles’ persönliche Verbindung zu der Familie und deren Geschichte prägt den Film: »Das Verschwinden Rubens’ war ein Schock, er war der erste Vater im Freundeskreis, der verschwand«, erzählt der Regisseur in dem den Presseunterlagen beigegebenen Interview. »Mir wurde mit der Zeit klar, dass die Geschichte der Familie Paiva die Geschichte einer zerrütteten Sehnsucht nach einem Land war. In ihrem Haus konnte man die Energie der Ideale der frühen sechziger Jahre in Brasilien spüren – Ideale, die im Wesentlichen auf Freiheit und Inklusion beruhten, wie sie zu dieser Zeit in vielen Teilen der Welt aufkamen, aber formuliert entsprechend unserer eigenen brasilianischen Identität.«

Wandlung von der liebenden Frau und Mutter zur unbeirrbaren Menschenrechtlerin

Mit der Verhaftung konzentriert sich die Filmhandlung ganz auf die von Fernanda Torres verkörperte Eunice und ihre Wandlung von der liebenden Frau und Mutter zur unbeirrbaren Menschenrechtlerin. Die Schergen des Regimes sind nicht nur gekommen, um ihren Ehemann mitzunehmen, fürs Erste quartieren sich die Agenten in ihrem Haus ein. Im Bestreben, die Kinder nicht zu ängstigen, wächst Eunice in dieser Situation über sich selbst hinaus.

Mit jeder Geste bemüht sie sich, so zu tun, als ob alles seinen gewohnten Gang gehe. Sie spricht freundlich mit dem Feind in den eigenen vier Wänden und bewahrt selbst dann noch die Contenance, als sie und ihre zweitälteste Tochter zur Vernehmung abgeholt werden. Es folgen Autofahrten unter blickdichten Kapuzen, Verhöre, die zunächst noch förmlich beginnen, dann aber immer feindseliger werden, einsame Tage der Isolationshaft in einer fensterlosen Zelle, in der sich jedes Zeitgefühl aufzulösen scheint.

Tochter und Mutter haben vergleichsweise Glück und werden wieder nach Hause entlassen. Aber die Erinnerungen an die Stimmen und Schreie im Gefängnis lassen sich nicht so einfach abschütteln. Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es für die Mutter, die Notlügen über den Verbleib des Vaters gegenüber den Kindern durchzuhalten.

Oscar für die beste internationale Produktion

Die große Stärke des gerade mit dem Oscar für die beste internationale Produktion ausgezeichneten Films ist die unaufgeregte, fast schon dokumentarische Erzählweise, die den Schrecken der Diktatur allmählich in die Normalität der fortschrittlichen brasilianischen Oberklasse einsickern lässt. Trotz seiner Blicke aufs Meer und in den Himmel mutet der Film in weiten Teilen wie ein Kammerspiel an, das von einer erzwungenen Politisierung seiner Protagonistin handelt.

Rubens hatte stets versucht, seine Ehefrau aus seinen politischen Aktivitäten herauszuhalten, von der er den vier Töchtern und dem Sohn vorschwärmt, sie sei »die schönste Frau der Welt«. Und sie hat ihrerseits nicht gefragt. Auf Anraten von Freunden wird Vera zum Studium nach London geschickt und alle tun so, als habe das nichts mit der Gefahr zu tun, in der die junge Frau als Tochter eines Dissidenten schwebt, sondern mit den Vorzügen der Metropole der Popkultur.

Torres verkörpert Eunice und ihren Bewusstwerdungsprozess, der sie schließlich noch spät Jura studieren lässt, um sich wirkungsvoll für die Rechte politisch Verfolgter und benachteiligter Gruppen in Brasilien einsetzen zu können, nuancenreich und eindrücklich. Sie spielt eine Frau, die sich trotz aller Härten, die sie erleidet, bis zum Schluss nicht entmutigen lässt und an der Größe ihrer Aufgaben wächst.

Tausende von »desaparecidos«, die verhaftet oder entführt, gefoltert und ermordet wurden

Die Familie und ihren Zusammenhalt wird sie niemals aus den Augen verlieren. Auch nach Rubens’ Verschwinden sorgt sie dafür, dass regelmäßig Gruppenbilder mit allen Familienmitgliedern aufgenommen werden. Bei diesen Versuchen, die Gegenwart und ihr Glück festzuhalten, besteht sie stets darauf, dass alle Beteiligten lächeln, auch wenn die Leerstelle im Gruppenfoto vom erlittenen und nie wirklich abgeschlossenen Verlust erzählt. Denn Rubens bleibt verschwunden, wie Tausende von anderen desaparecidos, die verhaftet oder entführt, gefoltert und ermordet wurden.

Für ihre darstellerische Leistung war Torres für einen Oscar nominiert. Sie hätte die Würdigung tatsächlich verdient gehabt. Die Auszeichnung als bester ausländischer Film scheint dagegen fragwürdig. Auch wenn der Verzicht auf Spektakel und Drastik zunächst überzeugt, verfängt die differenzierte Erzählweise auf Dauer nicht.

Salles’  Film erhellt das dunkelste Kapitel der brasilianischen Geschichte im vergangenen Jahrhundert kaum.

Bei allen erschreckenden Parallelen zu heutigen Machtergreifungen und den viel zu lang währenden Versuchen, ihre Auswirkungen zu verdrängen, bleibt Salles’ Erzählung letztlich zu sehr in ruhigem Ästhetizismus gefangen. Sie erzeugt Empathie mit den Handelnden, erhellt das dunkelste Kapitel der brasilianischen Geschichte im vergangenen Jahrhundert aber kaum.

Wie schon in früheren Filmen – insbesondere »Die Reise des jungen Che« (2004) über die Erfahrungen, die Ernesto Guevara bei seiner Erkundung des südamerikanischen Kontinents machte, oder der Jack-Kerouac-Verfilmung »On the Road – Unterwegs« (2012) – gewinnt die Kamera dem Elend und der Ungleichheit auch noch dekorative Bilder ab. Und an keiner Stelle fragt der Film, woraus sich das Böse in der Politik speist.

Für immer hier (Brasilien/Frankreich 2024). Buch: Murilo Hauser, Heitor Lorega. Regie: Walter Salles. Darsteller: Fernanda Torres, Selton Mello, Valentina Herszage. Filmstart: 13. März