20.03.2025
In Italien wird die Erinnerung an den Ausbruch der Covid-19-Pandemie verdrängt

Kollektives Verdrängen

Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Italien sind Impfgegnerschaft und Wissenschaftsfeindlichkeit erstarkt. An die hohen Todeszahlen im Jahr 2020 wollen viele nicht mehr denken.

Wer will sich daran noch erinnern? Am 20. Februar 2020 traf im Krankenhaus der Kleinstadt Codogno in der Lombardei das Ergebnis des Abstrichs eines jungen Patienten namens Mattia Maestri ein. Er war positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden – Italien hatte seinen »Patienten eins«. Vor dem Krankenhaus der norditalienischen Kleinstadt drängten sich Journalisten. Wenige Stunden später wurde Codogno zum ersten »Corona-Hotspot« in Italien erklärt – der erste bekannte Covid-19-­Infektionsherd in Europa.

In den folgenden Tagen wurde die Region um Codogno abgeriegelt: Italiens damaliger Ministerpräsident Giuseppe Conte erklärte sie zur »roten Zone« mit strengen Ausgangsbeschränkungen, die Polizei sperrte die Zufahrtsstraßen. Rund 50.000 Menschen durften das Gebiet nicht verlassen.

Innerhalb von drei Wochen stieg die Zahl der Infektionen in der Lombardei trotz der Abriegelung rapide, ebenso die der Todesfälle. Die Nachrichten berichteten von überfüllten Krankenhäusern und zahlreichen Erkrankungen unter Ärzten und Pflegekräften.

Ihren Erfolg bei den Wahlen 2022 verdankte Giorgia Meloni nicht zuletzt ihrer Kritik an den Pandemie­maßnahmen als unverhältnismäßig und verfassungswidrig.

Am 10. März verhängte Ministerpräsident Conte im Fernsehen den »Lockdown« über das ganze Land: Bars, Re­staurants und Schulen mussten schließen, öffentliche Versammlungen wurden verboten. Es war die erste Maßnahme dieser Art in Europa. Doch die Lage blieb dramatisch. Die Stadt Bergamo wurde zum Symbol der Katastrophe. Die Leichenhallen waren überfüllt, Särge stapelten sich. Die Armee fuhr mit Militärtransportern die Särge aus der Stadt. Die Bilder gingen um die Welt und prägten die Pandemiepolitik vieler Länder. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel appellierte an die deutsche Bevölkerung: »Es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst.«

Fünf Jahre, rund 200.000 Tote und drei Regierungskoalitionen später: Wie hat dieses kollektive Trauma Italien verändert? In den Rückblicken der vergangenen Wochen taucht ein Begriff häufig auf: »kollektives Verdrängen«.

Neuer Pandemieplan vorgestellt

Die italienische Regierung hat Anfang 2025 einen neuen Pandemieplan vorgestellt, der die Fehler der damaligen Krisenbewältigung aufarbeiten soll. Die umstrittenen Dekrete, mit denen die damalige Regierung unter Conte zahlreiche Notfallmaßnahmen per Verordnung beschlossen hatte, sollen künftig nur noch in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen. Statt­dessen sollen Lockdowns und ähnliche Maßnahmen durch das Parlament ­legitimiert werden.

Gleichzeitig sieht der neue Pandemieplan Maßnahmen vor, die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre Partei Fratelli d’Italia früher selbst kritisierten. Impfungen gelten weiter als effektivste Präventionsmaßnahme, und im Ernstfall sind wieder Einschränkungen des öffentlichen Lebens vorgesehen. Besonders umstritten ist die Empfehlung zur Einführung lokaler Lockdowns, faktisch wie die »roten Zonen« aus dem Jahr 2020, die Meloni damals »Schikane« nannte.

Meloni war eine scharfe Gegnerin der damaligen Pandemiepolitik. Ihren Erfolg bei den Wahlen 2022 verdankte sie nicht zuletzt ihrer Kritik an den Maßnahmen als unverhältnismäßig und verfassungswidrig. In einer politisch aufgeladenen Stimmung mobilisierte sie erfolgreich die Unzufrie­denen, darunter auch Unternehmer, Gastronomen und wirtschaftlich bedrohte Bürger.

Konfrontation mit der Realität der Krisenvorsorge

Nun, als Regierungschefin, sieht sich Meloni mit der Realität der Krisenvorsorge konfrontiert. Die von ihr verurteilten Maßnahmen finden sich in teilweise abgemilderter Form im neuen Pandemieplan wieder – ein Eingeständnis, dass es in Krisenzeiten kaum wirksame Alternativen gibt.

Meloni präsentiert diesen Kurs als pragmatisch, wobei ihr hilft, dass die Pandemie aus der öffentlichen Debatte weitgehend verschwunden ist. Gleichzeitig habe der Erfolg der populistischen Rechten dazu beigetragen, dass sich antiwissenschaftliche Positionen weiter verbreitet haben, analysiert die Tageszeitung Corriere della Sera. So finde etwa die Behauptung viel Zustimmung: »Nicht das Virus habe unser Leben ruiniert, sondern die Reaktion darauf.« Auch Impfablehnung breite sich wieder aus.

Wissenschaftler bestätigen diese Tendenz. »Es ist entmutigend zu sehen, dass antiwissenschaftliche Theorien wie die unbegründete Korrelation zwischen Impfstoffen und Autismus wiederaufleben«, sagt der Immunologe Alberto Mantovani von der Humanitas-Stiftung.

Die kollektive Angst ist einer kollektiven Verdrängung gewichen. Dadurch verbreiten sich noch leichter Verschwörungserzählungen, die auf der Leugnung der realen Gefahr beruhen.

Aktuelle Impfkampagnen zeigen: Die Italiener sind »impfmüde« geworden, insbesondere bei Covid-19-Impfungen. Lediglich 2,2 Millionen Italiener (3,75 Prozent der Gesamtbevölkerung) hatten sich im Winter 2023/2024 noch impfen lassen oder ihre Impfung aufgefrischt, darunter nur 1,885 Millionen über 60 Jahren, für die wegen dem höheren Todesrisiko eine regelmäßige Auffrischung nach wie vor empfohlen wird. Der Rest der neun Millionen angeschafften Impfdosen blieb ungenutzt.

Die kollektive Angst, die in Codogno ihren Anfang nahm, ist einer kollektiven Verdrängung gewichen. Dadurch verbreiten sich noch leichter Verschwörungserzählungen, die auf der Leugnung der realen Gefahr durch die Covid-19-Pandemie beruhen. Diese zu bekämpfen, müsste Priorität bei der Vorbereitung auf die nächste schwere Pandemie haben.