Budapest, Zentrum des jüdischen Sports
Das vielleicht kürzeste Gesetz der ungarischen Geschichte wurde 1867 erlassen und bestand aus zwei einfachen Paragraphen. Der erste lautete: »Die israelitischen Einwohner des Landes werden für berechtigt erklärt, alle bürgerlichen und politischen Rechte gleichrangig mit den christlichen Einwohnern auszuüben.« Und der zweite: »Alle gegenteiligen Gesetze, Gewohnheiten und Vorschriften werden hiermit aufgehoben.«
Die legale Gleichstellung räumte nicht alle Hindernisse aus dem Weg, machte aber vielen Juden Hoffnung, sie könnten sich in Ungarn assimilieren. Unter anderem körperliche Kräftigung sollte dazu beitragen, zumal der Sport in dieser Zeit europaweit eine beispiellose Verbreitung erfuhr. So schrieb der jüdische Sportbefürworter Henrik Schuschny 1895: »Wenn der ungarische Jude neben Vaterlandsliebe und Bildung einen gesunden, gestählten Körper und Selbstvertrauen haben wird, dann wird ihn nur noch seine Religion von den anderen Patrioten unterscheiden.«
Infolge der antijüdischen Gesetzgebung ab 1938 wurden jüdische Vereine von nationalen Meisterschaften ausgeschlossen. Trotzdem trainierten ihre Athleten bis 1944 heimlich weiter, oft nachts.
Der in Budapest geborene Zionistenführer Max Nordau verkündete die Ideale des sportlichen »Muskeljuden« auf dem zweiten Kongress der zionistischen Bewegung 1898 in Basel. Seine Motivation war jedoch eine andere. Er sah die Notwendigkeit eines neuen Typus von Juden – mit körperlicher Kraft, sexueller Potenz und gesunder Moral – als Voraussetzung für die Verwirklichung der zionistischen nationalen Ziele: der Gründung eines eigenen Staates in Palästina.
Freilich traten zu dieser Zeit bereits viele jüdische Athleten in Wettkämpfen an. Zwei Jahre zuvor, 1896, hatten in Athen die ersten modernen Olympischen Spiele stattgefunden, bei denen jüdische Sportler aus Österreich, Ungarn und Deutschland insgesamt acht Goldmedaillen gewannen.
Das Faible für Sport teilten Nordau und Schuschny zwar, doch gab es einen grundlegenden weltanschaulichen Unterschied zwischen den beiden. Schuschny vertrat eine nur in Ungarn verbreitete moderne jüdische Glaubensrichtung, das sogenannte neologische Judentum, auch bekannt als ungarisches Reformjudentum. Neologische Juden wollten sich im Alltag so weit wie möglich an die Mehrheitsgesellschaft anpassen, sie trugen moderne Kleidung, schnitten ihre Bärte ab, magyarisierten ihre Familiennamen, ihre Synagogen ähnelten christlichen Kirchen.
Für die Zionisten hingegen war Assimilation nicht unbedingt erstrebenswert. Sie hielten stark an ihren Traditionen fest und hatten Alija, die Auswanderung nach Israel, zum Ziel.
Diese innerjüdischen Unterschiede spiegelten sich auch bei der Gründung jüdischer Sportvereine wider. Der schon 1888 gegründete Ungarische Kreis der Leibesübenden (MTK), der als erster jüdischer Sportverein der Welt gilt, hatte eine jüdische Ausrichtung, doch er bezeichnete sich nie als jüdischer Verein und er stand auch Nichtjuden offen. Das Streben nach Assimilation drückte sich auch in Äußerlichkeiten aus. Während die in ganz Europa entstehenden jüdischen Vereine den Davidstern auf ihren Trikots trugen und sich oft nach historischen jüdischen Helden benannten, wie zum Beispiel Bar Kochba Berlin, wählte man für MTK bewusst einen ungarisch klingenden Namen. Lediglich die Vereinsfarben Blau-Weiß wiesen auf den jüdischen Hintergrund hin.
Dem 1906 von zionistischen Universitätsstudenten gegründete Fecht- und Athletikclub (VAC) traten dagegen ausschließlich jüdische Sportler bei. Deshalb hatte VAC keine so breite Basis wie MTK. In einem Punkt war man jedoch vorsichtig: Der Davidstern wurde im VAC-Logo durch die Verkeilung der Buchstaben »V« und »A« gerade mal angedeutet.
Beide Vereine versuchten, möglichst viele Sportarten zu pflegen: Der neue, moderne Basketball stand ebenso auf dem Programm wie das traditionelle Turnen, die aristokratische Leichtathletik und das in der Arbeiterschaft beliebte Ringen. Zwischen den beiden Weltkriegen wuchs die Mitgliederzahl des VAC beträchtlich. Er bot jungen Juden die Möglichkeit, sich körperlich zu stärken und Selbstvertrauen zu gewinnen. Besonders herausragende Sportler hat VAC in seiner langen Geschichte aber nie hervorgebracht.
Blütezeit des jüdischen Sports nach dem Ersten Weltkrieg
In den folgenden Jahrzehnten trugen jüdische ungarische Sportler wesentlich zum Image des Landes bei. Bei den fünf Olympischen Spielen, die vor dem Ersten Weltkrieg stattfanden, gewann Ungarn insgesamt elf Goldmedaillen – fünf davon gewannen jüdische Athlethen. Der erste ungarische Olympiasieger war der jüdische Schwimmer Alfréd Hajós, der jedoch Mitglied des nichtjüdischen Ungarischen Schwimmvereins war.
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte der jüdische Sport seine Blütezeit. Doch ebenso erstarkte der Antisemitismus. Der Sport schien da umso wichtiger für Juden als ein Ort, wo sie sich ohne Angst und Diskriminierung zusammenfinden konnten. Andererseits versuchten Juden fast verzweifelt, durch sportliche Erfolge ihre Loyalität zum Vaterland zu beweisen.
Schuschnys Idee, die judenfeindlichen Stereotype durch Sport zu beseitigen, war allerdings nicht aufgegangen. Im Gegenteil: Die rechtsextreme Presse begann, neue negative Eigenschaften jüdischer Sportler zu erfinden. Einer der häufigsten Vorwürfe war eine angeblich rüde und unsportliche Spielweise, insbesondere auf dem Fußballplatz. Da viele Sportmäzene Juden waren, wurden sie als geldgierig und arrogant beschrieben – Eigenschaften, die man nichtjüdischen Sponsoren nicht nachsagte.
565.000 ungarische Juden wurden ermordet
Infolge der antijüdischen Gesetzgebung ab 1938 wurden jüdische Vereine von nationalen Meisterschaften ausgeschlossen. Trotzdem trainierten ihre Athleten bis 1944 heimlich weiter, oft nachts. Im März des Jahres marschierte die Wehrmacht in Ungarn ein und die SS begann mit Hilfe ihrer ungarischen Vasallen mit den Deportationen in die Vernichtungslager. Etwa 424.000 Juden wurden innerhalb von 56 Tagen deportiert. Insgesamt wurden etwa 565.000 ungarische Juden ermordet.
Nach Kriegsende machten sich die Überlebenden an den Wiederaufbau des Vereinslebens und suchten nach Unterstützern. Wichtigster Geldgeber wurde das American Jewish Joint Distribution Committee. Doch das währte nicht lange. Nach der Machtübernahme der Stalinisten 1948 betrachtete die religionsfeindliche Regierung die jüdischen Clubs mit wachsendem Misstrauen. Obwohl offiziell nicht aufgelöst, verschwand der zionistische VAC 1949. Seine Mitglieder meldeten sich gezwungenermaßen in anderen Vereinen an. In den fünfziger Jahren versuchte man, die Aktivitäten wiederaufzunehmen, doch das Regime verbot den VAC.
Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 wurde der Verein wiedergegründet, nennt sich seitdem Maccabi VAC und hat ein neues Logo, auf dem der Davidstern deutlich zu erkennen ist. Er bietet wieder viele sportliche Aktivitäten an, und nicht nur für Juden. Fechten und Leichtathletik gehören natürlich dazu, aber auch andere Sportarten wie Basketball, Schwimmen oder Tischtennis. Der Verein ist Mitglied im internationalen Dachverband jüdischer Sportvereine, der Maccabi World Union.
Erst nach dem Aufstand von 1956 konnte MTK seinen Namen und das ursprüngliche Blau-Weiß wieder annehmen.
MTK konnte nach 1945 einen sanfteren Weg einschlagen, aber auch seine Entwicklung unter der neuen Diktatur war nicht gerade reibungslos. 1950 wurde der Verein dem Textilarbeiterverband angegliedert und nannte sich fortan »Textiler«. Mit dem Jüdischsein hatte er zwangsläufig nichts mehr zu tun. Ein Jahr später wurden die Vereinsfarben in Rot-Weiß und der Name in »Budapester Bastion« geändert, um später als »Budapester Rote Fahne« wieder in den Textilverband eingegliedert zu werden. Erst nach dem Aufstand von 1956 konnten der Name MTK und das ursprüngliche Blau-Weiß wieder angenommen werden.
Wie auch immer der Verein hieß, er war und ist sehr erfolgreich und hat in vielen Sportarten zahlreiche nationale und internationale Meisterschaften gewonnen. Am bekanntesten ist die Fußballabteilung, von Anfang an war MTK Erstligist. Von den Spielern der Nationalmannschaft, der »Goldenen Elf« der fünfziger Jahre (die beim »Wunder von Bern«, dem WM-Finale 1954, von der BRD besiegt wurde, der ersten ungarischen Niederlage seit vier Jahren), waren acht MTKler. MTK-Athleten haben bisher 39 Gold-, 36 Silber- und 28 Bronzemedaillen bei Olympischen Spielen gewonnen.
Auf die Frage, ob es bei Sportveranstaltungen zu antisemitischen Vorfällen komme, antwortet Ádám Jusztin, Vorsitzender von Maccabi VAC, dass dies so gut wie nie der Fall sei. Anders sehe es aus, wenn MTK auf dem Fußballfeld stehe: Da kommt es regelmäßig zu üblen Zwischenrufen.