Machtkampf in Israel
Tel Aviv. Seit über 18 Monaten befindet sich Israel im Gaza-Streifen im Krieg mit der palästinensischen Terrororganisation Hamas. Nach dem Auslaufen der Anfang des Jahres vereinbarten Waffenruhe hat Israel die Kämpfe im Gaza-Streifen wiederaufgenommen. An drei weiteren Fronten, im Libanon, dem Westjordanland und dem Jemen, dauern die Kämpfe gegen die Islamisten ebenfalls an.
Doch auch die innenpolitischen Konflikte, die aufgrund der äußeren Bedrohung über Monate mehr oder weniger zurückgestellt wurden, sind in neuer Intensität zurück und werfen existentielle Fragen zur Zukunft des jüdischen Staates auf. »Wir stehen am Rande einer Verfassungskrise, wenn wir nicht bereits in einer sind«, sagt Guy Lurie vom Israel Democracy Institute in Jerusalem im Gespräch mit der Jungle World.
Vergangene Woche hat die Knesset ein Gesetz verabschiedet, das den Abgeordneten mehr Kontrolle über die Auswahl der Richter am Obersten Gerichtshof verschaffen soll.
Jüngster Auslöser war die als »Katargate« – nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Korruptionsaffäre im Europaparlament – bezeichnete Enthüllung von Anfang Februar, der zufolge zwei enge Berater des Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, Yonatan Urich und Eli Feldstein, sich auf illegale Geschäfte mit Katar – einem wichtigen Finanzier der Hamas – eingelassen haben sollen. Unter anderem geht es um Kontakte zu einem prokatarischen Lobbyist und um Bestechungsgelder, die die beiden von der katarischen Regierung während der Geiselverhandlungen angenommen haben sollen, bei denen Katar als Vermittler fungiert hat. Auf Anweisung der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara leitete der Inlandsgeheimdienst Shin Bet Untersuchungen ein.
Es folgte die Entlassung des mit den Ermittlungen betrauten Shin-Bet-Direktors Ronen Bar durch Netanyahu Mitte März wegen »Mangels an Vertrauen« seit dem 7. Oktober. Bars Entlassung, die wiederum vom Obersten Gericht per einstweiliger Verfügung vorerst ausgesetzt wurde, löste erneut Massenproteste aus. Ein abschließendes Urteil wird für den 8. April erwartet. Ungeachtet dessen ernannte Netanyahu am Montag den ehemaligen Marinekommandanten Eli Sharvit zu Bars Nachfolger, um das am Dienstag aber wieder zurückzunehmen; Sharvit soll sich kritisch über US-Präsident Donald Trump geäußert haben.
Angriff der Regierung auf die Unabhängigkeit der Justiz
Kurz nach der Entlassung Bars kam der nächste Streich der Regierung. Am 23. März entschied das Kabinett einstimmig, dass auch die Generalstaatsanwältin entlassen werden soll. Damit ist zwar nur der erste Schritt eines längeren Verfahrens gemacht, allerdings eskaliert er den Angriff der Regierung auf die Unabhängigkeit der Justiz weiter. Baharav-Miara leitet seit vier Jahren das Korruptionsverfahren gegen Netanyahu und ist eine unerbittliche Kontrahentin des Ministerpräsidenten und seiner ultrareligiösen und -nationalistischen Verbündeten. Diese haben mittlerweile ihre Bemühungen wiederaufgenommen, die Regierungskontrolle über andere Verfassungsorgane auszuweiten. Vergangene Woche hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Abgeordneten mehr Kontrolle über die Auswahl der Richter am Obersten Gerichtshof verschaffen soll.
Michael Bar Josef, ein ehemaliger Rechtsberater des Likud, warnt: »Netanyahu ist bereit, alles für sein Überleben zu opfern, und wir sind einem Bürgerkrieg näher, als die Menschen glauben.« Der inzwischen 93jährige fühlt sich an die Kämpfe zwischen dem paramilitärischen Irgun und der Hagana, aus der die IDF wurden, während der Staatsgründung erinnert, die beinahe in einen Bürgerkrieg ausgeartet wären.
Nicht nur das innenpolitische Vorgehen Netanyahus treibt derzeit wieder Zehntausende Bürger auf die Straßen Israels. Auch die Entscheidung zur Fortsetzung des Kriegs gegen die Hamas im Gaza-Streifen hat den Ärger über die Regierung weiter angefacht, denn nach Ansicht vieler Israelis gefährdet sie die restlichen 59 Geiseln. 24 von ihnen sollen nach israelischer Einschätzung noch am Leben sein.
Zudem stellt Netanyahu damit die Geduld und Entschlossenheit Zehntausender erschöpfter Reservisten auf die Probe, die Israels längsten Waffengang durchstehen müssen. Dutzende Reservisten haben in einem Schreiben einen erneuten Einsatz mit der Begründung verweigert, die Ausweitung des Kriegs sei »jenseits aller Vernunft«.
Pläne eines autoritären Staatsumbaus
Der öffentliche Ärger wird durch den Eindruck verstärkt, Netanyahu profitiere politisch von der Rückkehr zum Krieg, da sie dazu beigetragen hat, seine fragile Koalitionsregierung zu einen. Die rechtsextreme Fraktion unter Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, die aus Protest gegen das Waffenstillstandsabkommen im Januar ausgetreten war, kehrte mit der Wiederaufnahme der Kämpfe in die Regierung zurück.
»Ben-Gvir ist einer der stärksten Befürworter der Entlassung des Shin-Bet-Direktors und der Generalstaatsanwältin«, sagt Nadav Shtrauchler, der 2019 Netanyahus Wahlkampf leitete. Netanyahus Vorstöße, den Obersten Gerichtshofs zu entmachten, der in Israel als wichtigste Bastion der liberalen Demokratie gilt, mögen vorrangig aus Gründen des persönlichen Machterhalts erfolgen. Die rechtsextremen Koalitionspartner aber verfolgen mit der Schwächung der Unabhängigkeit der Justiz Pläne eines autoritären Staatsumbaus und treiben Netanyahu an.
Manche vermuten oder hegen die Hoffnung, Netanyahus Abhängigkeit von Ben-Gvir könnte sich nach der am 25. März erfolgten Abstimmung über den Haushalt für 2025 verringern. Die Verabschiedung, die mit den Stimmen der Rechtsextremen gelang, erfolgte mit erheblicher Verzögerung kurz vor Ablauf der Frist zur Verabschiedung des Haushalts und verhinderte so gerade noch den Zusammenbruch der Regierung. Dass Netanyahu nun weniger vehement gegen unliebsame Staatsbeamte vorgeht, darf allerdings bezweifelt werden. Er hat bereits angedeutet, die für den 8. April erwartete Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Rechtmäßigkeit der Entlassung Ronen Bars gegebenenfalls zu ignorieren.
»Der Schaden ist irreparabel«
»Netanyahus Aktionen wären in Israel bis vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen«, sagt Shtrauchler und zieht zum Vergleich die Ermittlungen gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud Olmert heran. Auch gegen ihn wurde während seiner Amtszeit wegen Korruption ermittelt. Olmert erklärte 2008, noch bevor der Fall vor Gericht kam, seinen Rücktritt. Seine Regierung, so Shtrauchler, habe nie versucht, den Generalstaatsanwalt zu entlassen, der die Ermittlungen leitete. Netanyahu aber »hat bereits so viele Normen verletzt, dass – selbst wenn er heute zurücktreten sollte – der Schaden irreparabel ist«.
Noch wacht das Oberste Gericht in Jerusalem über Israels Demokratie und urteilt über die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der Exekutive. Doch die Regierungskoalition kontrolliert die einzige gesetzgebende Kammer des Landes, die Knesset. In Ermangelung einer formellen Verfassung regeln die 13 Grundgesetze (basic laws), die das Parlament im Laufe der Jahre verabschiedet hat, die Beziehungen zwischen den Gewalten. Diesem Rahmen fehlt die Klarheit und Stabilität einer Verfassung.
Tiefe politische, ethnische und religiöse Differenzen, die die israelische Gesellschaft von Beginn an prägen, hatten die Gesetzgeber dazu veranlasst, nach und nach Grundgesetze zu beschließen und deren Rechtsstatus schrittweise erhöhen. Jedenfalls ist die Regierung nach geltendem Recht befugt, den Direktor des Inlandsgeheimdiensts zu ernennen und zu entlassen. Das Oberste Gericht muss nun feststellen, ob die Entlassung rechtmäßig ist oder ob Netanyahu aufgrund von Interessenkonflikten im Zusammenhang mit der Katar betreffenden Korruptionsaffäre Bar nicht entlassen kann.
In Ermangelung einer formellen Verfassung regeln die 13 Grundgesetze (basic laws), die das Parlament im Laufe der Jahre verabschiedet hat, die Beziehungen zwischen den Gewalten. Diesem Rahmen fehlt die Klarheit und Stabilität einer Verfassung.
Diese Möglichkeit der juristischen Überprüfung und gegebenenfalls Revision von Regierungsentscheidungen bildet den Kern des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern der Justizreformen, die Netanyahu und sein Kabinett anstreben. Erstere sehen in der Möglichkeit des Obersten Gerichtshofs, Entscheidungen der Regierung aufzuheben, die er für rechtswidrig hält, eine richterliche Übergriffigkeit gegenüber der Exekutive. Letztere halten sehen in eben dieser Möglichkeit eine unbedingt verteidigungswürdige demokratische Kontrollinstanz.
Israel steht derzeit an einem Scheideweg. Während es gezwungen ist, den Mehrfrontenkrieg gegen die Feinde des jüdischen Staates fortzusetzen, spitzen sich die innenpolitischen Konflikte zu, die die Kluft zwischen Religiösen und Säkularen vertiefen und die Demokratie bedrohen.