03.04.2025
Wiktor Filinkow, Anarchist, im Gespräch über seine siebenjährige Haftzeit in russischen Gefängnissen

»Die Folterer haben kaum Fragen gestellt«

Im Gespräch mit der »Jungle World« berichtet der Anarchist Wiktor Filinkow über seine Haftzeit in einer russischen Strafkolonie in Orenburg an der Grenze zu Kasachstan und darüber, wie die Gefangenen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine stehen.

Sie sind nun 30 Jahre alt. Sieben Jahre lang befanden Sie sich in Haft, von der Außenwelt weitgehend isoliert. In der Zeit gab es die Covid-19-Pandemie, Russlands Militär begann einen Großangriff gegen die Ukraine, vieles hat sich verändert. Wie gelingt es Ihnen, sich in der neuen Realität zurechtzufinden?
Jeder Tag hält neue Überraschungen bereit. Vorgestern war ich in der Poliklinik. Da wurde mir gesagt, dass in meinem Land eine kostenpflichtige Krankenversicherung eingeführt wurde. Für eine kostenfreie Behandlung muss ich mich arbeitslos und beim Karrierezen­trum melden (analog zum Jobcenter in Deutschland; Anm. d. Red.). Dort gibt es Fortbildungsangebote und sogar ein Stipendium, allerdings ist das an die Bedingung einer anschließenden Arbeitsaufnahme geknüpft. Bei Nichterfüllung muss das Geld komplett zurückgezahlt werden. Das ist nichts für mich.

Haben sich Ihre politischen Überzeugungen während der Haft verändert?
Ich bezeichne mich nach wie vor als Anarchist.

Nach Ihrer Festnahme wurden Sie gefoltert. Dieser Umstand wurde schnell öffentlich bekannt. Beschäftigt Sie die Folter bis heute?
Ich hatte Alpträume, posttraumatische Belastungsstörungen, war ständig angespannt. Das dauerte etwa bis Jahresbeginn 2020 an, dann begann ich, Neuroleptika und Antidepressiva einzunehmen. Nach einigen Monaten hat sich mein psychischer Zustand stabilisiert, aber bis dahin war das alles nur schwer zu ertragen.

Bei den Strafermittlungen tauchte ein Sturmgewehr auf?
Ich hatte meiner damaligen Frau zwei Gewehre geschenkt. Wir haben sie nie benutzt, nicht einen Schuss im Schießstand abgefeuert. Es wurde festgestellt, dass sich diese Waffen völlig legal in ihrem Besitz befanden und mit den Strafermittlungen nichts zu tun haben.

Warum hatten Sie denn die Waffen erworben? Aus Lust am Schießen?
Ja, in anarchistischen Kreisen war das nichts Ungewöhnliches. Es ging auch um Selbstverteidigung. In Russland darf man sich allerdings nur mit nichttödlichen Waffen verteidigen. Trotzdem haben viele Schusswaffen zu Hause. Mir als kasachischem Staatsbürger war es zwar nicht erlaubt, aber für meine damalige Frau war der Erwerb der Waffenlizenz ein Kinderspiel.

»Wie in der Gesamtgesellschaft befürwortet eine Mehrheit der Gefangenen die Politik des Kreml, auch wenn sie vielleicht die Kampf­handlungen an sich verurteilen.«

Sie haben Ihre Schuld nicht eingestanden. Im Unterschied zu Igor Schischkin aus Sankt Petersburg, der ebenfalls im sogenannten Netzwerk-Fall angeklagt war, aber nur dreieinhalb Jahre absitzen musste, weil er wegen seines Schuldgeständnisses Strafmilderung erhielt. Wie haben Sie es geschafft, dem Druck und der Aussicht auf Strafmilderung standzuhalten?
Als wir von den Festnahmen in Pensa erfahren haben, war ich im Urlaub in Kiew, wo sich meine damalige Frau aufhielt. Ich bestand darauf zurückzukehren, hatte mich aber darauf eingestellt, dass der FSB mich in Empfang nehmen könnte. Der Plan war: Wenn sie mich nicht foltern, leugne ich alles und sage, ich kenne niemanden aus Pensa. Sollten sie mich foltern, wollte ich mich dumm stellen und zu allem ja sagen.

Letztlich haben Sie sich genau so verhalten?
Was auch richtig war. Dmitrij Ptschelinzew in Pensa hat versucht, der Folter standzuhalten, dann haben sie ihn gebrochen. Über seinen Anwalt ließ er ausrichten, wer besser das Land verlassen sollte. Schischkin wurde vielleicht nicht so lange gefoltert wie ich, dafür weitaus brutaler. Weil ich bereitwillig ausgesagt habe, übrigens größtenteils frei Erfundenes, hielt man mich für unzurechnungsfähig. Die Folterer haben kaum Fragen gestellt, sondern ihre eigene Version verfasst.
Trotz Folter und Drohungen habe ich ein falsches Passwort für mein Notebook genannt. Sie haben es nicht mal sofort nachgeprüft, obwohl das Gerät in meinem Rucksack lag. Gefunden hätten sie da ohnehin nichts Kompromittierendes. Insgesamt hat mich das alles sehr gestresst, auf Stromschläge war ich nicht vorbereitet. Vier Stunden lang dauerten sie an. Eines meiner Beine und meine Brust waren völlig mit Brandwunden übersät. Jedenfalls habe ich keine weiteren Ermittlungsdokumente mehr unterschrieben, außer der allerersten Fassung, in der stand, ich sei ein Terrorist – weder im Verlauf der Ermittlungen noch vor Gericht.

Dabei hätten Sie die Möglichkeit gehabt, einfach nicht nach Russland zurückzukehren.
Ja, die hatte ich. Das war ein Fehler.

Welche Fragen würden Sie aus jetziger Perspektive den anderen Anarchisten stellen, die im »Netzwerk-Fall« angeklagt wurden?
An Schischkin hatte ich nie Fragen. Mit Julian Bojarschinow, ebenfalls aus Sankt Petersburg, wurde ich oft zusammen zum Verhör und ins Gericht gefahren. Wir hatten also Gelegenheit zu sprechen. Bei einer Zwischenstation in Jaroslawl trafen wir zu dritt aufeinander, wo wir mehrere Stunden in einem Raum verbrachten.

Und wie sieht es mit Ptschelinzew und den anderen Anarchisten in Pensa aus? Schließlich berichtete Meduza, dass in einem Wald bei Rjasan zwei Leichen gefunden worden waren, die offenbar auf das Konto der Gruppe in Pensa gehen. Inzwischen ist einer aus der Gruppe, Maksim Iwankin, wegen dieses Doppelmordes zu 24 Jahren Haft verurteilt worden.
Wir waren schockiert von allem, was wir Petersburger aus Pensa mitbekommen haben, was die dortigen Verhafteten dem FSB mitgeteilt haben. Ein gewisser Teil davon entsprach der Wahrheit, wie meine Adresse, die dem FSB die Möglichkeit verschaffte, mich zu beschatten. Ich habe das zwar schnell bemerkt, dem aber keine besondere Bedeutung beigemessen, weil ich schließlich nichts Kriminelles verbrochen hatte. Und natürlich diese Leichen. Dass sie zwei ihrer Bekannten umgebracht haben sollen wegen Drogengeschichten, hat uns alle schockiert.

Aus russischen Strafkolonien dringen schreckliche Geschichten an die Öffentlichkeit. Ist es überhaupt möglich, die Haft halbwegs unbeschadet zu überstehen?
Das hängt von einer erheblichen Menge an Faktoren ab. Zuallererst davon, in welche Strafkolonie man geschickt wird. In Sankt Petersburg, wo der Performance-Künstler Pawel Krisewitsch eine Haftstrafe abgesessen hat, sind die Bedingungen erträglich. In sogenannten schwarzen Zonen ist entscheidend, wie sich die Lagerverwaltung gegenüber einem Häftling verhält. In meiner Strafkolonie war das auch so. Wenn ­jemand physisch misshandelt wurde, wurde das offizielle Kommunikationssystem Zona Telekom, über das Häftlinge Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten, komplett abgeschaltet. Das heißt, kein Häftling konnte mehr Anrufe tätigen, damit niemand Informa­tionen über Misshandlungen nach außen trägt. Es könnte sich ja ein Anwalt einschalten.

Sie haben eine sehr lange Zeit in Isolationshaft verbracht.
337 Tage, um genau zu sein.

Wie hält man das aus? Hatten Sie Zugang zu Büchern, konnten Sie sich in irgendeiner Weise weiterbilden?
In Untersuchungshaft sind die Bedingungen fast märchenhaft, vorausgesetzt man hat das Bedürfnis, sich intellektuell zu betätigen. Bücher, Papier und einen Stift, mehr braucht es gar nicht. Fehlt etwas, stellt man eine Anfrage, nach zwei Monaten ist alles da. Später im Lager, wo ich die meiste Zeit im Keller verbringen musste, sah es ganz mies aus. Sich weiterzubilden, ist da fast ausgeschlossen. Papier und Stift bekommt man nicht länger als für anderthalb Stunden am Tag.
Ich habe mir beigebracht, mit Seife auf der Pritsche aus dem Gedächtnis mathematische Formeln aufzuschreiben. Oder ich habe Inhalte aus Büchern notiert und die Zettel am Körper versteckt. Zweimal pro Tag wurde die Zelle durchsucht. Ich habe versucht, meine Notizen auswendig zu lernen, allerdings muss man auf die Videokameras achten. Letztlich ist das ein Ort, an dem man schlichtweg verdummt. Im Juni 2021 habe ich begonnen zu meditieren, was mir enorm geholfen hat. Nicht im Liegen, denn das ist verboten. Dazu kommt die Kälte.

Wie kann man als Häftling gegen die Willkür seitens der Straflagerverwaltung vorgehen?
Nach Ansicht meines Anwalts Witalij Tscherkassow haben wir ein kleines Wunder vollbracht und immerhin die Anerkennung der Tatsache erreicht, dass es diese Willkür überhaupt gibt. Das führte dazu, dass man irgendwann aufgehört hat, mich ständig in den Strafblock zu versetzen. Nach anderthalb Jahren erheblichen Drucks auf mich ließ diese Form der Maßregelung etwas nach. Geschuldet ist das in erster Linie dem Umstand, dass wir gerichtlich gegen meine Haftbedingungen vorgegangen sind.
Funktioniert hat das aber nur, weil ich nicht Aleksej Nawalnyj bin, der ja auch ständig Klage eingereicht hatte. Ich selbst bin so etwas wie ein Zwischending – kein Nawalnyj, aber auch kein Niemand. Außerdem hatte ich erheblichen Rückhalt durch die breite Soli­darität, meine jetzige Frau Schenja, die wie eine Löwin für mich gekämpft hat, und meinen Anwalt Tscherkassow, der sich wie ein Falke auf die Leute aus dem System gestürzt hat. Ohne die vielen Spenden hätte es die ganzen großen und kleinen Wunder nicht gegeben.

Meinen Sie für Anwaltskosten?
Für Honorare, aber auch Fahrt- und Unterkunftskosten für meinen Anwalt und Schenja. Tscherkassow, der weiterhin in meinem Namen Prozesse gegen die Strafkolonie führt, nimmt sehr wenig Geld. Er freut sich darüber, dass ich standfest geblieben bin und kein Schuldgeständnis abgeliefert habe. Schenja und ich haben übrigens in Haft geheiratet, daher durfte ich mehrtägige Verwandtschaftsbesuche empfangen – viermal im vergangenen Jahr.

Der »Netzwerk-Fall« rief damals in der Öffentlichkeit erhebliche Resonanz hervor. Hat sich das in der Haft bemerkbar gemacht?
Definitiv. Vor 2022 hatte ich mehrmals mit Angestellten des Strafvollzugs zu tun, die mich aus den Medien auf Anhieb wiedererkannten. Der Fahrer des Leiters der Strafkolonie hatte seinen Grundwehrdienst nahe Sankt Petersburg abgeleistet, als die Ermittlungen gegen uns gerade ihren Anfang nahmen und viel darüber berichtet wurde. Von ihm habe ich erfahren, dass seine gesamte Einheit den Fall aufmerksam verfolgt hat.

Brachte dieser Bekanntheitsgrad Vorteile mit sich?
Politische Gefangene stehen generell unter besonderer Beobachtung. Der entscheidende Unterschied besteht in der eigenen Haltung. Es gab bei uns ­einen wegen Terrorismus verurteilten jungen Mann aus Dagestan mit islamistischem Hintergrund, der ebenfalls seine Schuld nicht eingestanden hat. Seiner Meinung nach waren wir beide so etwas wie das Gesicht des Straflagers. Von unserer Hartnäckigkeit hänge ab, wie viel Hartnäckigkeit die restlichen Häftlinge an den Tag legen.
Einmal mussten einige von uns dringend sonntags telefonieren. Als wir bei dem Diensthabenden unser Anliegen vorbrachten, entgegnete der uns, das gehe in Ordnung, wenn wir schriftlich darlegen, dass wir bereit seien, freiwillig am Sonntag zu arbeiten. Der junge Mithäftling und ich haben uns kurz angeschaut, daraufhin habe ich dem Uniformierten gesagt: Du willst uns wohl mit einem Anruf kaufen? Was glaubst du, wer wir sind? Dann haben wir kehrt gemacht. Andere politische Gefangene gestehen hingegen ihre Schuld ein und lassen diese ganzen physischen und psychischen Misshandlungen einfach über sich übergehen.

Ihre Haftzeit verbrachten Sie allerdings unter verschärften Haftbedingungen.
Unter weitaus strengeren als etliche andere, aber zumindest wurde ich nicht geschlagen.

Trotzdem bleibt ein Widerspruch. Einerseits konnten Sie auf einen großen Rückhalt bauen, andererseits sorgte die Lagerleitung zumindest in der Anfangszeit dafür, Ihnen die Haftzeit so unerträglich wie möglich zu machen.
Das stimmt, aber zum Ende hin hatten die Aufseher regelrecht Angst vor mir. Außerdem habe ich mich als Mittler für kleinere Erleichterungen in unserer Wohnbaracke eingesetzt. Im Hinblick auf Häftlingsethik gehörte ich zu den fünf Insassen mit dem besten Ruf: Ich habe mich geweigert, Aufgaben im ­Lager zu übernehmen, also etwa Putzdienste, mich auf keine Zusammen­arbeit mit der Verwaltung eingelassen. Nur sehr wenige brachten das fertig. Niemand außer mir saß zeitweilig komplett von der Außenwelt und anderen Gefangenen isoliert in speziell dafür vorgesehenen Zellen.
Selbst die Kriminellen hatten Respekt vor mir, auch wenn ich in ihren Augen natürlich keine Autorität war. Manchmal habe ich tatsächlich gegen Auflagen verstoßen. In etwa der Hälfte der von meinem Anwalt angefochtenen Disziplinarstrafen konnten wir uns vor Gericht durchsetzen. Oft nur deshalb, weil die Gegenseite sich nicht an gesetzliche Regelungen hält.

»Im Hinblick auf Häftlingsethik gehörte ich zu den fünf Insassen mit dem besten Ruf: Ich habe mich auf keine Zusammenarbeit mit der Verwaltung eingelassen.«

Wie sah denn Ihr Häftlingsalltag aus, wenn Sie nicht isoliert waren?
Die letzten zehn Monate habe ich im Wohnbereich des Lagers verbracht, aber das ist auch heftig. Der Tagesablauf sieht vor, dass man sechs Tage die Woche arbeitet, der arbeitsfreie Tag ist für kulturelle Veranstaltungen vorgesehen. Die Verpflegung ist dort zwar besser, aber man hat praktisch keine Privatsphäre und gerade mal anderthalb Stunden zum Dösen, Teetrinken, zur Körperreinigung oder Klärung ­alltäglicher Belange mit den Mithäftlingen. Ständig steht man in der Schlange für Essen, vor dem Laden, in dem man einmal die Woche einkaufen darf, oder am Kontrollpunkt, um in die Nähwerkstatt zu gelangen.
Die Haft hat außerdem meiner Gesundheit stark zugesetzt. Zweimal war ich im Hungerstreik. Über sechs Jahre hielt ich mich mit maximal einer oder zwei weiteren Personen in geschlossenen Räumen auf. Mein Immunsystem war sehr geschwächt. Als ich in einen Schlafraum mit 90 anderen Häftlingen verlegt wurde, habe ich mir eine Infektion nach der anderen eingefangen.

Wie sah die Kommunikation unter Mitgefangenen aus? Haben Sie über Politik und über den Krieg gesprochen?
Ja, aber nur im Flüsterton tête-à-tête. Wenn so etwas rauskommt, drohen neue Strafverfahren. Andererseits kann man als Häftling, auch ohne sich regierungskritisch geäußert zu haben, durch schiere Behauptungen strafrechtlich belangt werden. Ein Beispiel dafür ist der Anarchist Asat Miftachow, der wegen Rechtfertigung von Terrorismus eine zweite Haftstrafe absitzt. Die Ansichten gehen weit auseinander. Wie in der Gesamtgesellschaft befürwortet eine Mehrheit der Gefangenen die Politik des Kreml, auch wenn sie vielleicht die Kampfhandlungen an sich verurteilen.
Übrigens stehen mittlerweile nicht mehr Drogendelikte an erster Stelle bei den Haftgründen, sondern unerlaubtes Entfernen von der Einheit. Ungefähr ein Drittel der Insassen meiner Strafkolonie waren Berufssoldaten, im Rahmen der Mobilmachung eingezogene Reservisten und freiwillige Kämpfern. Manche kommen von der Front zurück und sagen: »Nie wieder!« Aber nur ganz wenige sagen, dass das alles völlig umsonst war – sogar Reservisten, also Leute, die zwangsweise eingezogen wurden, desertiert sind und lieber fünf Jahre im Lager verbringen. Selbst sie sagen, die Ukrainer seien durchgeknallt.

Sind viele aus Ihrer Strafkolonie freiwillig an die Front gegangen?
Richtig viele. Angefangen hat es im Oktober 2022, da waren es in zwei Durchgängen jeweils rund 130 Häftlinge, die sich zur Söldnertruppe Wagner gemeldet haben. Später dann haben sich bis zu 90 Häftlinge vom Verteidigungsministerium anwerben lassen, aber in letzter Zeit waren es nur noch wenige. Das Ministerium kümmert sich nicht mehr um Nachschub aus den Lagern, weil es so viele Freiwillige gibt, die für Geld an die Front wollen.

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Wiktor Filinkow

Wiktor Filinkow wurde 2018 mit 23 Jahren festgenommen und im Juni 2020 in Sankt Petersburg wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Er soll der Petersburger Zelle des »Netzwerks« ­angehört haben. Da Filinkow Staatsbürger Kasachstans ist, wurde er direkt nach seiner Freilassung Ende Januar dahin abgeschoben; er darf vorerst nicht mehr nach Russland einreisen.

Bild:
Masha Zvyagina

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Info: Der Netzwerk-Fall

Im Oktober 2017 leitete der russische Inlandsgeheimdienst FSB Strafermittlungen gegen eine angebliche anarchistische Terrorgruppe ein, die unter der Bezeichnung »Netzwerk« geführt wurde. Deren angebliche Mitglieder kannten sich zwar teilweise untereinander, wurden aber durch die Strafverfolgungsbehörden zu einer organisierten Gruppe konstruiert, der unterstellt wurde, Anschläge mit dem Ziel der politischen Machtergreifung geplant zu haben. Es folgten mehrere Verhaftungen im 550 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen Pensa. Ein Militärgericht verurteilte dort im Februar 2020 sieben Angeklagte, darunter die angeblichen Anführer der Organisation, Dmitrij Ptschelinzew und Ilja Schakurskij, die 18 beziehungsweise 16 Jahren Haft erhielten. Einige Monate später fielen Urteile gegen zwei vermeintliche Angehörige einer Zelle in Sankt Petersburg, darunter Wiktor Filinkow. Ein weiterer Beschuldigter, der Antifaschist Igor Schischkin, hatte zuvor die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gestanden und musste eine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren antreten.

Der »Netzwerk-Fall« sorgte für erhebliche Aufmerksamkeit, weil früh Einzelheiten über Folterungen an die Öffentlichkeit gedrungen waren. Politisch fühlten sich die Verurteilten größerenteils dem anarchistischen oder antifaschistischen Lager zugehörig. Außerdem verband sie eine Vorliebe für das Geländespiel Airsoft, bei dem mit Softairwaffen geschossen wird. Einige Mitglieder der Gruppe in Pensa hatten offenbar mit Drogen gedealt. Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung sollen ein junger Mann und eine junge Frau geplant haben, Pensa zu verlassen. Aus diesem Grund seien sie im April 2017 ermordet worden, so das Gericht, das den in Pensa bereits verurteilten Maksim Iwankin wegen dieser Tat zur Rechenschaft zog. Zuvor hatte der in die Ukraine geflüchtete ehemalige Gruppenangehörige Aleksej Poltawez dem Online-Nachrichtenportal Meduza gestanden, an dem Doppelmord beteiligt gewesen zu sein. mh