03.04.2025
Nicolas Hénin, ehemaliger Kriegsreporter, im Gespräch über seine Zeit in IS-Gefangenschaft und die Strategie der Jihadisten

»Terroristen beginnen mit einer Analyse ihrer Zielgesellschaft«

Der Journalist Nicolas Hénin war zehn Monate lang Gefangener des »Islamischen Staats« (IS) in Syrien. Ende März wurden in Paris fünf der IS-Mitglieder verurteilt, die ihn und zahlreiche andere in einem Foltergefängnis in Aleppo gefangen gehalten hatten. Die »Jungle World« sprach mit Hénin über seine Rolle im Prozess, die Vorgehens­weise jihadistischer Terroristen und die schwierige Lage in Syrien heute.

Wie kam es dazu, dass Sie in Syrien vom »Islamischen Staat« entführt wurden?
Ich war fast 20 Jahre lang Kriegsreporter. Als solcher habe ich hauptsächlich über zwei Dinge berichtet: die Invasion des Irak durch die US-Armee und den sogenannten Arabischen Frühling in verschiedenen Ländern. Ich kam 2002, sechs Monate vor der Invasion, nach Bagdad und lebte danach noch etwa zwei Jahre dort, wo ich das Aufkommen des Widerstands gegen die US-geführte Besatzung und dessen Transformation in Terrorismus beobachtete. Das ist übrigens ein Punkt, der den Hauptangeklagten im Pariser IS-Prozess, Mehdi Nemmouche, sehr gestört hat, da er versucht, den Unterschied zwischen Widerstand und Terrorismus zu verwischen.

Und wie sind Sie in Syrien gelandet?
Ich habe die Erhebungen des »Arabischen Frühlings« in vielen Ländern als Journalist verfolgt, darunter Syrien. Das tat ich mit viel Enthusiasmus, weil ich in ihnen einen Versuch der Emanzipation von den Despoten der Region durch die Bevölkerung selbst sah. In diesem Zusammenhang wurde ich in Syrien als Geisel genommen. Danach beendete ich meine Karriere als Kriegsreporter, weil ich aus Rücksicht auf meine Frau und meine Kinder nicht mehr in gefährliche Regionen reisen wollte. Seitdem arbeite ich als Investigativjournalist und setze mich gegen Hass und Extremismus ein, wobei ich auch ehrenamtlich mit bestimmten Zielgruppen wie Schülern oder Gefängnisinsassen arbeite, mit solchen, die radikalisiert sind, oder zur Prävention.

»Terroristen wollen, dass wir unsere eigenen moralischen Maßstäbe nivellieren und in ihre Falle der Vergeltungslogik tappen.«

Sie haben vor Gericht gegen die angeklagten IS-Mitglieder ausgesagt, die Sie und andere 2013 in Syrien gefangen hielten. Wie fühlen Sie sich nach den Wochen der Verhandlung? Ich hatte den Eindruck, dass es Ihnen nicht leicht fiel.
Ja. Es ist ein absolut außergewöhnlicher Prozess. Die Personen, die uns gefangen hielten, haben später Anschläge in Europa geplant. Wir Geiseln haben diese Gruppe von innen kennengelernt, auch wenn wir eingesperrt waren und oft die Augen verbunden hatten. Dadurch hatten wir eine ziemlich eigenartige Rolle bei den Ermittlungen. Ich war derjenige, der Mehdi Nemmouche nach dessen Festnahme in Frankreich im Jahr 2014, nachdem er mit einem Komplizen im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen erschossen hatte, als unseren Gefängniswärter in Syrien wiedererkannt hat. Ich war auch der Erste, der von syrischen Aktivisten und Aktivistinnen Informationen erhielt, die halfen, Kais al-Abdallah, den syrischen Angeklagten, zu identifizieren. Es ist nicht alltäglich, dass Opfer die Ermittlungen zusammen mit den Ermittlern führen.

Sie sprachen vorhin von der Transformation von Widerstand in Terrorismus im Irak. Was ist der Unterschied?
Nach dem Sturz Saddam Husseins gab es Iraker, die sagten: »Mein Land wird von einer fremden Armee besetzt, ich habe das Recht, mich dieser Besatzung zu widersetzen, auch mit bewaffnetem Widerstand.« Sie begannen, die US-Truppen anzugreifen. Dann gab es Personen, die entschieden, diesen Widerstand in eine jihadistische Richtung zu lenken. Das war der Fall bei Abu Musab al-Zarqawi, einem jordanischen Jihadisten, der bis zu seinem Tod 2006 Anführer von al-Qaida im Irak war, woraus der Islamische Staat hervorging.
Die US-Truppen direkt anzugreifen, war gefährlich und kaum erfolgversprechend. Aber Terroristen beginnen immer mit einer Analyse ihrer Zielgesellschaft. Sie schauen, welche Bruchstellen es gibt, wo die sozialen Unstimmigkeiten liegen. Im Irak war damals die größte Schwäche die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten. Al-Zarqawi entschloss sich also, so viele Verbrechen wie möglich gegen die Schiiten zu begehen, um sie ihrerseits dazu zu bringen, Todesschwadronen zu bilden, die gegen die Sunniten, zu denen al-Zarqawi selbst gehörte, Strafaktionen durchführen würden, so dass sich wiederum die Sunniten gezwungen fühlen würden, Zuflucht und Schutz unter der schwarzen Fahne des Jihadismus zu suchen.

Wieso griffen die Terroristen zu dieser Taktik?
Ein Terroristengruppe führt immer einen asymmetrischen Krieg. Es handelt sich um kleine Gruppen von meist nur wenigen Dutzend Personen – die größten Gruppen zählen höchstens einige Tausend –, die versuchen, die Denk- und Verhaltensweisen von Gesellschaften zu verändern, die aus Millionen von Menschen bestehen. Um dieses Ungleichgewicht zu verringern, brauchen sie das, was sowohl der Ursprung ihres Namens, ihr Arbeitsmodus als auch ihr letztliches Ziel ist: Terror. Sie wollen Angst und Zwietracht in den Gesellschaften säen, die sie angreifen. Wir sollen durch unsere eigene Zerrissenheit geschwächt werden. Terroristen wollen, dass wir unsere eigenen moralischen Maßstäbe nivellieren und in ihre Falle der Vergeltungslogik tappen. Sie wollen uns zu einer unverhältnismäßigen Reaktion verleiten und uns in einen zivilisatorischen Konflikt drängen: »wir« gegen »sie«. Sie wollen jeden auf Identitätsgemeinschaften festlegen.

»Eine der wichtigsten derzeitigen Entwicklungen, die wirklich sehr beunruhigend ist und die übrigens nicht nur den Jihadismus betrifft, ist die sehr frühe Radikalisierung. 14 oder 15jährige stehen wegen Terrorismus vor Gericht. Das passiert in Deutschland, in Frankreich, vor allem im Jihadismus, aber auch in der rechtsextremen Szene.«

Wie sehen Sie die Entwicklung des internationalen Jihadismus heute?
Der IS wurde durch den Verlust des von seinem »Kalifat« beherrschten Gebiets in Syrien und im Irak extrem geschwächt. Sein Image ist beschädigt und vor allem fehlt ihm nun die Fähigkeit, Anschläge zu organisieren, indem er Terroristen ausbildet und aussendet, wie für die Anschläge am 13. November 2015 in Paris. Auch Anschläge durch Einzelpersonen zu initiieren oder zu inspirieren, fällt dem IS schwerer. Doch weiterhin verbreitet er Propaganda, Zielvorgaben und Operationstechniken, also Anleitungen für alle, die sie annehmen wollen.
Der Jihadismus, denke ich, wird sich für eine ziemlich lange Zeit um zwei Gruppen organisieren: al-Qaida und IS. Ich denke nicht, dass sie sich versöhnen werden, und ich sehe auch keinen Grund für eine weitere Spaltung. Eine der wichtigsten derzeitigen Entwicklungen, die wirklich sehr beunruhigend ist und die übrigens nicht nur den Jihadismus betrifft, ist die sehr frühe Radikalisierung. 14 oder 15jährige stehen wegen Terrorismus vor Gericht. Das passiert in Deutschland, in Frankreich, vor allem im Jihadismus, aber auch in der rechtsextremen Szene.

Zeichnung der französischen Journalisten Pierre Torres und Nicolas Hénin bei ihrer Aussage vor Gericht

Die französischen Journalisten Pierre Torres und Nicolas Hénin bei ihrer Aussage vor Gericht

Bild:
Ornella Guyet

Wie beurteilen Sie die Situation in Syrien nach dem Sturz des Regimes von Bashar al-Assad?
Der Sturz von Assad ist eine historische Chance, auch wenn nach wie vor unklar ist, wie es weitergeht. Er bedeutet das Ende von 54 Jahren Diktatur und möglicherweise von zwölf Jahren ex­trem brutalem Bürgerkrieg. Wir müssen uns aber daran erinnern, woher Ahmed al-Sharaa, der derzeitige Übergangspräsident und Anführer der islamistischen Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), kommt: Er war ab 2003 ein jihadistischer Kämpfer im Irak. Er stammt wirklich aus dem extremsten Teil des Jihadismus und war Mitglied des IS, dessen Ableger er in Syrien leitete, bevor er sich mit ihm überwarf und sich 2016 auch von al-Qaida lossagte.

Warum trennte er sich vom IS und von al-Qaida?
Möglicherweise aus strategischem Kalkül, aber wenn sich jemand deradikalisiert, dann ist mir das Motiv letztlich egal. Was für mich wichtig ist, ist die Botschaft, die er heute verbreitet. Er ist sowohl in religiösen als auch in sozialen Fragen sehr konservativ, aber in wirtschaftlichen Fragen extrem liberal. Ich habe jedoch den Eindruck, dass er die Falle der Verfeindung zwischen den Bevölkerungsgruppen, in die die Assad-Diktatur das Land gestürzt hat, wirklich verstanden hat. Er sendet zahlreiche Botschaften der zivilen Versöhnung aus, besonders an die Minderheiten, die ich für sehr ermutigend halte. Vielleicht ist es nur eine Taktik, vielleicht bin ich naiv, aber derzeit halte ich ihm das zugute.

»Wir müssen uns daran erinnern, woher Ahmed al-Sharaa, der derzeitige Übergangspräsident und Anführer der islamistischen Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), kommt: Er war ab 2003 ein jihadistischer Kämpfer im Irak.«

Ist er fähig, Syrien zusammenzuhalten? Die jüngsten Massaker an Alawiten und Christen geben Anlass zur Besorgnis.
Ob er Syrien regieren kann, weiß ich nicht; das gesamte Land zusammenhalten vermutlich nicht. Aber wohl den Großteil der bewaffneten Kräfte. Es ist bereits ein Wunder, dass wir nach dem Sturz von Assad zwei friedliche Monate hatten. Man muss sich der gewaltigen Verbrechen bewusst sein, die in diesem Land seit 54 Jahren begangen wurden. Entscheidend für den Wiederaufbau ist das Bewusstsein aller, der Syrer selbst, aber auch der internationalen Staaten, dass jede Bevölkerungsgruppe in Syrien sowohl Täter als auch Opfer von Massenverbrechen umfasst, seien es Sunniten, Alawiten, Kurden, Drusen oder Christen. Es gab Phasen, in denen bestimmte Gruppen hauptsächlich Opfer waren und andere Täter, und andere Phasen, in denen sich die Situation umkehrte. Es ist eine enorme Herausforderung, die Gesellschaft auf so schmerzhaften und traurigen Grundlagen wiederaufbauen zu müssen.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Region?
Ich möchte wirklich an den Erfolg der syrischen Transition glauben, auch wenn sie mit enormen Handicaps startet. Auf ihr lastet das Gewicht der Geschichte und der Durst nach Rache, der schwer zu unterdrücken ist, wie die erwähnten Massaker gezeigt haben. Allerdings kann man schon feststellen, dass diese bislang keine Wellen unkontrollierbarer Gewalt ausgelöst haben.

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Nicolas Hénin ist ehemaliger Kriegsreporter, er hat vor allem aus arabischen Ländern berichtet. 2013 wurde er in Syrien vom »Islamischen Staat« (IS) entführt und verbrachte zehn Monate in Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung setzte er sich weiterhin mit Terrorismus und Islamismus sowie Themen wie russischer Einflussnahme in Frankreich auseinander. Als Mitgründer des Institut Action Résilience setzt er sich für einen rationalen Umgang demokratischer Gesellschaften mit Terrorismus und allen Formen des Extremismus ein. Hénin ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem »Jihad Academy« (2015) über die Entstehung des IS und »Comprendre le terrorisme« (2017).