Ohrenbetäubendes Schweigen
Der wichtigste Oppositionsführer unter fadenscheinigen Vorwürfen ins Gefängnis gesteckt, an die 2.000 Festnahmen bei Massenprotesten, Repression gegen Journalisten – die autoritären Verhältnisse in der Türkei drohen, auf belarussischem Niveau anzukommen. Noch allerdings ist die Machtprobe mit der Opposition keineswegs entschieden und die in ihrer Größe wohl auch von Präsident Recep Tayyip Erdoğan unerwarteten Proteste halten an.
Die Reaktionen aus der EU wirken angesichts dieser politischen Eskalation verstörend routiniert; nur die üblichen mahnenden Floskeln wie »Besorgnis« oder »Rückschlag« sind zu hören. Aus dem Lager der nur noch kommissarisch amtierenden Bundesregierung verlangen türkeistämmige Grüne wie Landwirtschaftsminister Cem Özdemir oder der Hannoveraner Oberbürgermeister Belit Onay zwar nach deutlicheren Worten, raten aber von Sanktionen ab, während prominente Politiker:innen der künftigen Regierungspartei CDU wie die Bundestagsabgeordnete Serap Güler »stille Diplomatie« in Hinterzimmergesprächen üben wollen. US-Präsident Donald Trump nannte Erdoğan Ende März sogar noch »einen guten Anführer«. Zu Recht beklagte Ekrem İmamoğlu in einem aus der Haft verfassten Text für die New York Times, das »Schweigen« internationaler Regierungen sei »ohrenbetäubend«.
So sehr die autokratischen Übergriffe unter Erdoğan schon zur Routine geworden sind, handelt es sich beim Angriff auf die CHP um eine qualitativ neue Entwicklung: Sie ist nicht nur die wichtigste säkular-republikanische Oppositionspartei, sie verkörpert geradezu die moderne türkische Republik.
Doch so sehr die autokratischen Übergriffe unter Erdoğan schon zur Routine geworden sind, handelt es sich beim Angriff auf die CHP um eine qualitativ neue Entwicklung: Sie ist nicht nur die wichtigste säkular-republikanische Oppositionspartei, sie verkörpert geradezu die moderne türkische Republik. Gegründet vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war sie die ersten Jahrzehnte eine Einheitsstaatspartei mit entsprechend autoritär-nationalistischen Zügen, die sich etwa in den Massakern an der kurdischen Bevölkerung in den dreißiger Jahren manifestierten.
Im nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführten Mehrparteiensystem öffnete sie sich mehr und mehr sozialdemokratischen Positionen und einem stärker pluralistischen Staatsverständnis, wenn auch in der kurdischen Frage sehr zögerlich. Noch unter ihrem vormaligen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu übte sie bei antikurdischer Repression auch immer mal den Schulterschluss mit Erdoğans Regierung und schlug in Wahlkämpfen nationalistisch-populistische Töne an.
Gefährlichster Konkurrent Erdoğans
Dass İmamoğlu durch seine Bündnisfähigkeit mit der prokurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) sowie durch die von ihm verkörperte Öffnung der einst strikt laizistischen CHP für religiöse Wählerschichten zum gefährlichsten Konkurrenten Erdoğans wurde, war daher der unmittelbare Anlass für den Schlag gegen ihn und seine Partei.
Doch zugleich attackiert Erdoğan mit seinem Vorgehen gegen die CHP eben auch die Grundlagen der säkularen türkischen Republik, die ihm und seinen geistigen Vorbildern schon immer zuwider war. So gesehen ist die CHP nach der Gleichschaltung von Justiz und großen Teilen der Medien eine der letzten republikanisch-demokatischen Institutionen, die noch zwischen Erdoğan und der Verwirklichung seines Traums von der Verwandlung der Republik in einen religiös dominierten Einheitsstaat unter einem autoritären Führer steht.
Dass die EU-Regierungen bereit sind, mit ihrer diplomatische Leisetreterei die demokratischen Kräfte im Namen der »strategischen Partnerschaft« mit der Türkei endgültig im Stich lassen, könnte sich allerdings nicht nur mit Blick auf die stets beschworenen »Werte« als fataler Fehler erweisen. Denn zu Erdoğans ideologischem Rüstzeug gehören auch die imperialen Ambitionen des »Neoosmanismus«, um die Türkei als regionale Großmacht zu etablieren, wobei er zuletzt beim Sturz Assads und der Neuordnung Syriens ebenso wie durch Militärinterventionen im Irak und in Libyen die türkische Einflusszone erweitern konnte.
»Möge Allah das zionistische Israel zerstören!«
Kritische Beobachter der europäischen Türkei-Politik wie der Journalist Yavuz Baydar oder der Politologe Burak Çopur halten die Beschwichtigungspolitik gegenüber Erdoğan daher für gescheitert und fragen sich, ob aus den Erfahrungen mit Putin immer noch nichts gelernt worden sei. Und das könnte sich sehr schnell am Verhältnis zu Israel erweisen. Nicht nur hetzte Erdoğan zum Ende des Ramadan mal wieder gegen Israel, als er im Rahmen eines aus einer Istanbuler Moschee gestreamten Gebets äußerte: »Möge Allah das zionistische Israel zerstören!«
Israelische Sicherheitskreise zeigen sich alarmiert von den sich verdichtenden Hinweise, dass die Türkei kurz vor dem Abschluss eins Militärabkommens mit der syrischen Übergangsregierung steht und den Aufbau von Militärstützpunkten um das syrische Palmyra plant. Jonathan Adiri beispielsweise, ein ehemaliger Berater der Regierung von Shimon Peres, hält die Türkei für eine potentiell größere Gefahr für Israel und die regionale Stabilität als die Islamische Republik Iran, die zuletzt durch israelische Militärschläge gegen ihre »Achse des Widerstands« geschwächt werden konnte.