»Die Proteste sind ausgesprochen nationalistisch«
Sie waren bei Protesten in Istanbul und Antalya und haben mit Freunden und Bekannten darüber gesprochen. Was waren Ihre Eindrücke?
Zunächst muss man betonen, wie groß die Proteste sind, und zwar auch in Rize, Trabzon, Yozgat oder Elazığ – alles bislang Hochburgen der Regierungspartei AKP und Städte, deren Bevölkerung nach rechts tendiert. Dies ist für Präsident Recep Tayyip Erdoğan sicher überraschend und beunruhigend. Überraschend war es aber auch für die Oppositionspartei CHP. Denn die Initiative für die Proteste ging von Studierenden aus. Ich bin allerdings enttäuscht und traurig, weil die Proteste, die hier in Deutschland so euphorisch bejubelt werden, großenteils ausgesprochen nationalistisch sind und zum Beispiel die Kurd:innen nicht einbeziehen, sondern sie sogar diffamieren und beschimpfen.
Können Sie Beispiele für die antikurdische Stimmung geben?
Eine der meistgerufenen Parolen lautet »Wir sind alle Soldaten Atatürks« – schon das ist für Kurd:innen ein Schlag ins Gesicht, denn unter Atatürk hat die Armee schlimmste Verbrechen an Kurd:innen begangen, wie bei den Dersim-Massakern im Jahr 1938, denen bis zu 63.000 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen. Aber die antikurdische Stimmung betrifft nicht nur eine Glorifizierung der kemalistischen Vergangenheit. Jede linke Kleinstpartei darf auf den Demonstrationen mit ihren Fahnen auftreten. Leuten von der kurdischen DEM-Partei wurde hingegen mehrfach von organisierenden CHP-Politikern die Teilnahme mit eigenen Fahnen verwehrt.
»CHP-Abgeordnete stimmten im türkischen Parlament für die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten und ermöglichten so deren Verhaftung.«
Zum Teil werden offen antikurdische Parolen gerufen – gegen »die Bastarde Apos« (Abdullah Öcalan, genannt Apo, ist der seit 1999 inhaftierte Anführer der PKK; Anm. d. Red.). In Zonguldak wurde ein Plakat gezeigt, auf dem stand: »Biz DEM’li değil sallama severiz«, daneben das Bild des erhängten Scheich Said, der 1925 einen kurdisch-sunnitischen Aufstand anführte, der blutig niedergeschlagen wurde; er und seine Mitstreiter wurden erhängt. Wörtlich übersetzt heißt das: Wir mögen keinen Tee aus dem Samowar, sondern lieber Beuteltee, wohinter sich ein makaberes Wortspiel verbirgt: Wir mögen die von der DEM-Partei nicht, sondern nur die Kurden am Galgen.
Denken Sie, dass diese Eindrücke repräsentativ sind? Die Proteste sind doch riesig.
Das ist bei der Dimension der Proteste schwer einzuschätzen. Aber in Antalya habe ich vielfach solche Parolen gehört. Mehrere kurdische Freund:innen äußerten sich verstört. Einer von ihnen wollte von einer offiziellen CHP-Kundgebung zur studentischen, etwas radikaleren Demonstration und versicherte, dort ebenfalls nationalistische, zum Teil offen antikurdische Slogans gehört zu haben. Eine Freundin berichtete mir, dass sie bei einer der Kundgebungen in Istanbul ein Plakat sah, welches Sabiha Gökçen glorifizierte. Die Adoptivtochter Mustafa Kemals hat als Kampfpilotin einst die kurdischen Gebiete bombardiert. Darauf angesprochen, ob ihnen dies bekannt sei, antworteten die Protestierende meiner Freundin: Ja klar, und wir finden es super! In der Wochenzeitung Oksijen schreibt die Journalistin Mine Şenocaklı von zahlreichen Studierenden, die sie bei einer Kundgebung in Istanbul (vor dem Rathaus der Stadt in Saraçhane) interviewte, die sich zu den Grauen Wölfen bekannten oder Anhänger des ultrarechten Politikers Ümit Özdağ sind.
Wird der Protest also überschätzt?
Es ist leider eine Illusion zu denken, dass Menschen, die sich mit der Polizei anlegen, automatisch links oder die Proteste, weil sie sich gegen das Erdoğan-Regime richten, demokratisch sind. Ich finde es schade, die Protestierenden haben teils so kreative Plakate und Aktionsformen – das Pokémon ging ja auch hier durch die Medien –, aber ich habe zum Beispiel nirgends die Forderung gehört, man solle den 2017 verhafteten Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala freilassen oder die abgesetzten Bürgermeister aus den kurdischen Gebieten wiedereinsetzen. Wenn das der neue demokratische Aufbruch sein soll, bin ich pessimistisch.
Kann die CHP als Träger eines demokratischen Wandels in der Türkei angesehen werden?
Das ist ein komplexes Thema. Voranschicken muss man vielleicht, dass die CHP, die in der hiesigen Presse häufig fälschlich als sozialdemokratisch bezeichnet wird, eben keine sozialdemokratische Partei ist, sondern die nationalistische Gründungspartei der Türkei, die über Jahrzehnte versucht hat, einen ethnisch homogenen Nationalstaat aufzubauen, wobei sich die staatliche Repression in besonderer Weise gegen Kurd:innen richtete.
Wo steht die Partei denn heute?
Die CHP hat ihre politische Position immer mal wieder verändert. In den vergangenen drei Jahrzehnten rückte sie nach rechts. CHP-Abgeordnete stimmten im türkischen Parlament für die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten und ermöglichten so deren Verhaftung – auch die von Selahattin Demirtaş, damals Vorsitzender der DEM-Vorläuferpartei HDP.
»Es war ein absolutes Novum, dass Ekrem İmamoğlu in einer Rede wenige Tage vor seiner Verhaftung auch die Freilassung Selahattin Demirtaş’ forderte.«
Wäre ein Bündnis zwischen DEM-Partei und CHP in der derzeitigen Situation nicht trotzdem naheliegend?
So ein taktisches Bündnis gab es bei den Kommunalwahlen 2024, nicht zuletzt hat das Ekrem İmamoğlu seinen deutlichen Wahlsieg beschert. Auch im vergangenen Jahr haben manche in der CHP ihre Haltung zu den Kurd:innen geändert. Es gab Solidaritätsbesuche in den kurdischen Gebieten bei abgesetzten Bürgermeister:innen. Im Oktober hat der CHP-Vorsitzende Özgür Özel Demirtaş im Gefängnis besucht – der sitzt allerdings bereits seit 2016 in Haft. In den acht Jahren zuvor hat kein führender CHP-Politiker (außer kurdischstämmigen CHPlern) diesen Schritt unternommen. So war es ein absolutes Novum, dass Ekrem İmamoğlu in einer Rede wenige Tage vor seiner Verhaftung auch die Freilassung Selahattin Demirtaş’ forderte.
Also stehen die Zeichen auf Annäherung?
Diese neue »kurdenfreundliche« Linie gilt nicht für die gesamte CHP. Es kommt immer wieder zu antikurdischen Ausfällen. So bezeichnete der stellvertretende Parteivorsitzende der CHP und Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, der bis 2013 der rechtsextremen MHP angehörte, bezogen auf die Newroz-Feiern in Diyarbakır kurdische Fahnen als »Lumpen«. Nach Kritik distanzierte sich der Vorsitzende Özel halbgar von dieser Äußerung.
Die CHP umfasst offenbar sehr verschiedene Lager. Ist es deshalb so schwierig, eine politisch eindeutige Linie auszumachen?
Die CHP hat sehr verschiedene Kreise, aber eben auch einen sehr rechten Flügel, und versucht, für Bündnispolitik möglichst offen zu sein. Zum Sechsparteienbündnis, mit dem die CHP zu den vorherigen Wahlen angetreten war, gehörte neben der islamistischen Saadet Partisi auch die nationalistische İyi Parti, eine Abspaltung der MHP. Ihr zuliebe hat die CHP im Istanbuler Stadtteil Maltepe, wo am 30. März die Massendemonstration stattfand, einen Park nach dem nationalistischen Vordenker der Faschisten, Nihal Atsız, benannt.
Und zu den Wahlen im Mai 2023 gab es zusätzlich zu diesem Bündnis noch eine Absprache der CHP mit dem radikalen Rassisten Özdağ. Von daher entspricht diese Präsenz nationalistischer und antikurdischer Strömungen tatsächlich der Bündnispolitik der CHP. Und im Übrigen muss man gar nicht so weit rechts schauen. Die türkische Linke kommt vom Kemalismus und hat sich mehrheitlich nicht wirklich davon gelöst.