10.04.2025
Nicole Jäger, Autorin und Comedian, im Gespräch übers Dicksein und die Probleme im Gesundheitssystem

»Übergewichtige bekommen oft keine umfassende Diagnostik«

Die »Jungle World« sprach mit der Autorin und Comedian Nicole Jäger übers Dicksein, die gesellschaftliche Diskriminierung von Über­gewichtigen, Probleme im Gesundheitssystem, Aufklärung und das Thema Ernährung.

Nicole Jäger, Sie sind Stand-up-Comedian und haben Bücher geschrieben. Was ist Ihr Thema? Dicksein? Übergewicht? Frausein?
Ich bin eine übergewichtige Frau – das ist Thema. Mein aktuelles Buch dreht sich darum, wie man aus einem emotionalen Tief kommt. Es geht um Empowerment, Female Empowerment, und darum, mit sich okay zu sein – egal, ob man sich gerade wohlfühlt oder nicht.

Ein Thema für Sie ist auch der Umgang mit Übergewicht im Gesundheitssystem. Mit einem erhöhten Taillenumfang steigt das Sterberisiko signifikant an. Was machen Sie mit diesem Faktum?
Das Gleiche wie alle: erst mal nichts. Wenn wir unseren Körper über Nacht verändern könnte, hätten wir alle kein Problem. Übergewicht ist für viele Menschen ein Problem. Ein gesundheitliches Problem betrifft zuerst die Person selbst. Und bevor jetzt kommt: »Ja, aber die Krankenkassen … « – ich zahle auch hohe Beiträge.
Ich bin nicht übergewichtig, weil ich nicht weiß, dass Schokolade mehr Kalorien hat als Salat. Ich bin adipös, das ist eine Erkrankung, keine schlechte Angewohnheit. Ich habe über 170 Kilo abgenommen. Sieht man nicht. Aber es ist immer sofort Thema: Achtung, Übergewicht kann gefährlich sein.

»Ich will nicht wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt werden. Die Welt zugänglich zu machen, bedeutet auch, Menschen nicht durch enge Stühle auszuschließen.«

Ich stelle mir vor, dass Sie bei Arztbesuchen ständig darauf angesprochen werden. Ist das so? Und wenn ja, ist das penetrante medizinische Aufklärung – oder Diskriminierung?
Wenn ein Arzt mich ansieht und ohne Untersuchung sagt: »Du bist zu dick, nimm ab, dann ist dein Problem weg«, dann ist das keine Diagnose. Ich bin chronisch schmerzkrank, unabhängig vom Gewicht. Es hat fast 20 Jahre gedauert, bis man mir mal etwas anderes gesagt hat als »Nimm ab«. Dann habe ich 180 Kilo abgenommen – und die Schmerzen waren schlimmer als vorher. Und nun?
Natürlich ist Gewicht ein Gesundheitsrisiko. Aber es ist nicht das einzige Problem, das ein übergewichtiger Mensch haben kann. Es hat noch nie geholfen, einfach nur zu sagen: »Nehmen Sie ab.« Beim Weg zum Abnehmen brauchen viele Menschen Unterstützung.
Es gibt auch klare Gewichtsdiskriminierung. Übergewichtige bekommen oft keine umfassende Diagnostik, weil das Gewicht als Hauptproblem gesehen wird. Das kann lebensgefährlich sein. Viele meiden Arztbesuche, weil sie dort nicht ernst genommen werden. Ich kenne Fälle, in denen Menschen ihre Krebsdiagnose viel zu spät bekamen, weil sie den Arztbesuch hinausgezögert haben.

Könnte es auch sein, dass der Arzt es gar nicht böse meint, sondern nur schlecht kommuniziert – oder Sie sensibler geworden sind?
Klar, das kann sein. Viele Übergewichtige gehen mit der Erwartung zum Arzt, dass gleich eine Bemerkung kommt. Das kann Gespräche schwieriger machen. Meine Erfahrung: Kommunikation hilft. Bestes Beispiel: Gynäkologie. Viele übergewichtige Frauen haben schlechte Erfahrungen gemacht. Ich habe kürzlich zu einer neuen Ärztin gewechselt und gesagt: »Ich weiß, wie ich aussehe. Hier ist meine Geschichte. Haben Sie Lust, mit mir zusammenzuarbeiten – oder nicht? Es ist okay, wenn nicht.«

Wie hat sie reagiert?
Ich habe es humorvoll gesagt und sie musste schmunzeln. Es hat ein Vertrauensverhältnis geschaffen. Ich wollte mich nicht schäbig fühlen. Und ich wollte nicht, dass sie mich möglichst schnell loswerden will, weil sie mit mir als Patientin ein Problem hat.
Natürlich gibt es schlechte Erfahrungen. Aber ich glaube, die meisten Ärztinnen und Ärzte haben einen Heilungswunsch. Die Annahme, dass der Dicke, wenn er nicht mehr dick ist, viele Probleme nicht mehr hat, ist nicht falsch, aber nicht alles ist darauf zurückzuführen.
Man erreicht mehr mit Verständnis: »Wie können wir helfen?« Die Gründe für Übergewicht sind individuell. Oft steckt eine emotionale Dysbalance dahinter. Das kann man nicht mit einer Standardlösung beheben. Und der Weg raus lautet nicht nur: »Weniger essen, mehr Sport«, sondern auch: »Was brauchst du, um es hinzubekommen?«

Das klingt alles sehr therapeutisch, in Richtung Lebenscoaching. Ist es das, was Sie meinen?
Ja, das ist gar nicht so falsch. Was oft fehlt, ist ehrliches Zuhören, ehrliche Aufmerksamkeit – das Gefühl, verstanden zu werden. Dass man sagen kann: »Es ist für mich nicht leicht«, ohne ein »Ja, aber muss halt sein« oder »Haben Sie mal eine Magenbypass-OP versucht?« zu bekommen.
Ich habe jahrelang mit stark Übergewichtigen, Magersüchtigen und Bulimikern gearbeitet. Wir alle wissen, wie eine Kühlschranktür aufgeht und was gesunde Ernährung ist. Ich habe nie jemanden getroffen, der sagt: »Ich esse täglich drei Pizzen und trinke zwölf Liter Cola – keine Ahnung, warum ich übergewichtig bin.« Es hat immer etwas mit der eigenen Geschichte zu tun und mit dem Gefühl, nicht allein zu sein. Wenn man versteht, dass es nicht einfach ist, aber einen Weg gibt, dann hilft das. Und ich bin überzeugt, dass das Leben rettet.

Bei der Auseinandersetzung um die sogenannten Fat Studies geht es ziemlich häufig um Stühle in Arztpraxen – und deren Breite. Ist das auch ein Thema bei dir?
Das ist nur eine andere Facette. Wenn ich sage: »Jeder hat das Recht, glücklich zu sein, auch wenn er nicht der Norm entspricht«, dann heißt das: Ich will nicht wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt werden. Die Welt zugänglich zu machen, bedeutet auch, Menschen nicht durch enge Stühle auszuschließen. Zwei andere Stühle hinstellen – Problem gelöst. Wir müssen anerkennen, dass es dicke Menschen gibt. In Deutschland ist jeder Zweite übergewichtig. Das ist keine Randgruppe.

Warum ist das so ein Kampf, warum werden nicht einfach breitere Stühle aufgestellt?
Es liegt daran, dass wir Probleme nicht erkennen, die wir selbst nicht haben. Wer nie ein Problem mit einem Stuhl oder Treppen hatte, denkt nicht dar­über nach. Ich glaube nicht, dass Menschen absichtlich sagen, wir machen das nicht, weil wir Dicke blöd finden. Es mangelt an offenen Gesprächen, weil das Thema emotional ist. Frustration, Wut – auf beiden Seiten. »Hey, wir könnten was verändern«, klingt für viele wie: »Bisher habt ihr alles falsch gemacht.« Dabei ist das gar nicht gemeint.

Wie sehen Sie das Thema Ernährung und Dicksein mit Blick auf Kinder?
Kinder sind auf ihre Eltern angewiesen. Und Ernährung sollte ein Schulfach sein, ein positiv aufgeladenes. Heute ist das Thema voller Scham und Schuld, es geht um »richtig« und »falsch«. Kinder sollten grundlegende Dinge lernen, zum Beispiel: was sind Lebensmittel, wie verarbeitet man sie und was passiert mit ihnen im Körper.

Also ist das aus Ihrer Sicht nicht nur die Aufgabe der Eltern?
Genau. Es ist die Verantwortung von Schulen und anderen Einrichtungen, Grundwissen zu vermitteln. Denn nicht jedes Kind hat Zugang zu gesunder Ernährung – Armut ist ein begünstigender Faktor für Übergewicht. Das Thema Ernährung sollte positiv aufgeladen werden, denn essen müssen wir Menschen alle.

Hat sich gesellschaftlich nicht viel verbessert, wenn wir über Selbstakzeptanz, Dicksein und Ernährung sprechen?
Es gibt mehr Sichtbarkeit, aber gleichzeitig stirbt die Body-Positivity-Bewegung. Übergewichtigen wird inzwischen sogar abgesprochen, Teil davon zu sein, was absurd ist, da sie ursprünglich aus der Fat-Acceptance-Bewegung entstand – von Übergewichtigen für Übergewichtige. Jetzt heißt es: »Ihr könntet ja etwas ändern.« In der Modebranche gab es kurz Fortschritte, aber Plus-Size-Models werden wieder verdrängt. Namen wie Tess Holliday verschwinden aus der Öffentlichkeit. Es war ein Trend – Trends verschwinden.
Je härter eine Gesellschaft wird, desto negativer wird das Bild übergewichtiger Menschen besetzt. Wie Sabrina Springs in ihrem Buch »Fearing the Black Body« 2019 aufgezeigt hat, liegen die Ursprünge von Fettfeindlichkeit im Rassismus. In der Theorie wollen wir Diversität. Aber oft bleibt es ein Label, das sich gut verkaufen lässt. In der Realität verändert sich wenig.

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Nicole Jäger ist Autorin und Stand-up-Comedian. In ihrem ersten Buch »Die Fettlöserin«, das 2015 bei Rowohlt erschien, schreibt sie über Übergewicht und ihre Erfahrungen beim Abnehmen. Daraus folgte ihr erstes Stand-up-Comedy-Programm »Ich darf das, ich bin selber dick«. Auch an ihr zweites Buch »Nicht direkt perfekt« (2017) schloss sich ein Comedy-Programm an, mit dem sie durch den gesamten deutschsprachigen Raum tourte. Das dritte Buch »Unkaputtbar« erschien 2020 und handelt von häuslicher Gewalt, Selbstwertproblemen, ihrem Leben in der Öffentlichkeit und Morddrohungen. Momentan ist sie mit ihrem neuesten Programm »Walküre« auf Tour.