»Oft ist das Mittel schlicht Folter«
Für Belarussen sind Spitzel des KGB ein ständiges Thema. Es kommt oft vor, dass Regimegegner Personen aus ihrem engen Umfeld verdächtigen, für das Regime zu arbeiten, und dann sogar den Kontakt zu ihnen abbrechen. Wieso ist Belarus so ein Polizeistaat?
Belarus befindet sich auf dem Weg von einem autoritären zu einem totalitären System, in dem jeder willkürlich verhaftet werden kann. Die Geheimdienste haben die Bevölkerung durchdrungen und infiltriert. Belarus ist außerdem in Europa ein Sonderfall, denn dort hat es nie eine systematische Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit gegeben. Anfang der neunziger Jahre gab es zaghafte und unvollständige Versuche, aber die Archive wurden nie geöffnet. Es hat sich also eine Kontinuität erhalten, was sich auch darin ausdrückt, dass die Geheimpolizei nie umbenannt wurde, sondern immer noch KGB heißt, Komitee für Staatssicherheit.
Können Sie ein aktuelles Beispiel für die Arbeit des KGB schildern?
Einer der jüngsten prominenten Fälle betrifft eine in Polen lebende Belarussin, die verhaftet wurde, nachdem sie betrunken erzählt hatte, dass sie für den KGB Exilanten in Polen bespitzelte. Ein polnisches Gericht verurteilte sie im Januar 2025 wegen Spionage zu einer Haftstrafe. Die polnische Zeitung Wiadomości berichtet, dass der KGB der Frau selbst mit Verhaftung gedroht habe, und spekuliert, dass dies mit ihrer Tätigkeit auf der Erotik-Website
Onlyfans zusammenhing, wofür man in Belarus strafrechtlich belangt werden kann. Sie sei also vom KGB erpresst worden.
»Eines Tages, wenn das alles vorbei ist, werden Sie und ich hoffentlich ins KGB-Archiv gehen können und sehen, wer über uns berichtet hat.«
Wie viele geheime Mitarbeiter und Informanten hat der KGB?
Über Belarus heute wissen wir es nicht. Die Stasi in der DDR hatte zuletzt 189.000 »inoffizielle Mitarbeiter«. Bei Spitzeln ist zwar die Qualität entscheidend, aber dem KGB geht es heute, ähnlich wie während der Sowjetzeit, eher um die Masse. Sie müssen den Plan erfüllen. Das machen sich viele Agenten zunutze. In DDR gab es den Fall eines Bibliothekars an der Wilhelms-Universität in Münster. Er war verheiratet und hatte eine Affäre in Leipzig, wo die Stasi ihn 1974 aufgriff und rekrutierte. Er versorgte sie jahrelang mit Informationen über Aktivitäten an der Universität Münster. Seine Quellen waren allerdings vor allem Studentenzeitungen, Flugblätter und Vorlesungsverzeichnisse. Die Qualität seiner Informationen war nicht besonders gut.
Wie zwingen die Geheimdienste Personen, für sie zu arbeiten?
In autoritären und totalitären Gesellschaften ist es für die Geheimdienste leicht, Bedingungen zu schaffen, in denen jeder gezwungen werden kann. Ich nannte schon Beispiele für Erpressung. Aber oft ist das Mittel schlicht Folter oder Androhung von Haftstrafen. Der KGB in Belarus sieht sich immer noch in Tradition der sowjetischen Staatssicherheit und setzt deren Arsenal ein: Druck ausüben, erpressen, bestechen und Versprechungen machen.
Diese Methoden wurden über Generationen hinweg tradiert. Wir kennen sie gut, denn in vielen Ländern, in denen die kommunistischen Regime gefallen sind, wurden sie untersucht und aufgearbeitet. Vor allem in Osteuropa, den baltischen Staaten, der Ukraine, Georgien, Polen und natürlich der DDR. Dazu gehört auch, mit den Gefühlen und Ambitionen von Menschen zu spielen, ihnen etwas anzubieten.
Können Sie ein solches Beispiel nennen?
Ein historisches Beispiel ist Hans Schrecker, ein kommunistischer Journalist und späterer SED-Funktionär. Nach dem Krieg machte er in der DDR Karriere, aber 1952, im Kontext des antisemitischen Prozesses gegen Rudolf Slánský in der Tschechoslowakei, wurde er, der jüdischer Abstammung war, verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Dort wurde er gefoltert und sagte gegen zahlreiche Personen aus. Um freizukommen, willigte er ein, für die Stasi zu arbeiten. Die war zufrieden, er wurde aus der Haft entlassen, arbeitete als Redakteur, erhielt staatliche Auszeichnungen und wurde in Berlin-Friedrichsfelde neben Parteigrößen begraben. Schrecker wollte dem Gefängnis entkommen und wieder ein normales Leben führen.
Nur wenige hochrangige KGB-Mitarbeiter haben je davon berichtet, wie der KGB intern arbeitet.
Auch ohne interne Quellen kann man aber sagen, dass belarussische Geheimdienste immer noch nach sowjetischem Vorbild arbeiten. Nur, wie sieht das im Detail aus? Es besteht zum Beispiel kein Zweifel daran, dass die russischen Geheimdienste oft Personen im Ausland töten. Gilt das auch für die belarussischen?
Gibt es bekannte Fälle dieser Art?
Aus Belarus selbst sind mehrere erschreckende Fälle bekannt. In den späten neunziger und den früheren nuller Jahren sind die prominenten Politiker Jurij Sacharenko und Wiktor Gontschar, der Geschäftsmann Anatolij Krasowskij und der Journalist Dmitrij Sawadskij verschwunden. Vieles spricht dafür, dass sie von einer »Todesschwadron« getötet wurden, die im Auftrag des Regimes agierte.
Im Ausland arbeitet die belarussische Seite mit den russischen Diensten zusammen, sie haben gemeinsame Arbeitsgrundsätze. Es gibt den Fall von Roman Protasewitsch, einem belarussischen Oppositionsaktivisten. Er lebte im Exil, doch 2021 zwangen belarussische Behörden ein Flugzeug, in dem er nach Vilnius reiste, mit einer erfundenen Bombendrohung in Minsk zur Landung. Protasewitsch kam ins Gefängnis, vor Gericht drohten ihm schwerste Strafen; schließlich gab er alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu und wurde vor knapp zwei Jahren begnadigt.
Auch die Rolle des KGB bei der Ermordung des belarussischen Journalisten Pawel Scheremet durch eine Autobombe in Kiew im Jahr 2016 ist nicht abschließend geklärt. Aber es konnte bislang nicht belegt werden, dass belarussische Geheimdienste im Ausland gemordet haben.
Es gibt allerdings Fälle von tätlichen Angriffen auf im Ausland lebende Personen …
Wobei es auch da schwierig ist zu sagen, ob der KGB etwas damit zu tun hatte. Manche sagen, der KGB sei doch in Wirklichkeit zu nichts fähig. Aber damit wäre ich vorsichtig. Man sollte den Gegner nicht unterschätzen.
Wie beurteilen Sie Personen, die gezwungen werden, mit den Geheimdiensten zu kooperieren?
Das ist eine schwierige moralische Frage. Ich glaube, für manche Regimegegner wäre es einfacher gewesen, wenn beispielsweise der erwähnte Protasewitsch im Gefängnis geblieben wäre. Er gälte heute als legendärer Dissident. Stattdessen stellte er sich öffentlich auf die Seite Lukaschenkos und arbeitet mit der Regierung eng zusammen. Aber wer von denen, die ihn verurteilen, kann sicher sein, in so einer Situation anders zu handeln? Bei der Kooperation gibt es außerdem Graustufen. Wenn man ein Kooperationsdokument unterschreibt, hat man schon Dreck am Stecken. Aber die Frage ist, ob man dann alles aufgibt oder noch versucht, irgendwie Auswege zu finden.
Auf der Website Blackmap.org werden von einer Hackergruppe erbeutete Daten über belarussische Bürger veröffentlicht, die ihre Mitbürger wegen politischer Vergehen denunziert haben. Sollten wir Spitzel und Denunzianten als Kriminelle bezeichnen?
Das ist zunächst einmal nur eine moralische Bewertung, denn es ist ja nicht der Denunziant selbst, der andere unterdrückt, wenn er petzt, dass seine Nachbarn eine weiß-rot-weiße Fahne am Balkon hängen hatten (Während der Massenproteste nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 zeigten viele belarussische Bürger an ihren Häusern die weiß-rot-weiße Fahne der Opposition; Anm. d. Red.) Er setzt den Prozess zwar in Gang, aber er selbst steckt niemanden ins Gefängnis.
Wie aber kann man das Denunzieren bewerten, vor allem wenn es so viele verschiedene Motive gibt?
Man sollte nicht vergessen, dass die Menschen ein Produkt der Umstände sind, unter denen sie leben. Man muss immer die individuellen Umstände betrachten. Wenn die Frau eines politischen Gefangenen im Austausch für dessen Freilassung an einer Propagandashow im Regierungsfernsehen teilnimmt, ist das ist eine Sache. Wenn ihr Mann aber detaillierte Informationen über andere preisgab, obwohl er wusste, was das für diese bedeuten würde, ist es eine andere.
Was ist zu tun, wenn der Autoritarismus einmal endet?
Eines Tages, wenn das alles vorbei ist, werden Sie und ich hoffentlich ins KGB-Archiv gehen können und sehen, wer über uns berichtet hat. Schließlich führt der KGB wahrscheinlich nach sowjetischer Tradition genaue Akten. Ich denke, wir werden überrascht sein, wie viele es sind und wer es war. Das anzunehmen, ist keine Paranoia, sondern basiert auf historischer Erfahrung.
Und wie soll die Aufarbeitung stattfinden?
Es wird sich die Frage stellen, wie es mit der belarussischen Gesellschaft weitergehen soll. Wir öffnen die Archive, diskutieren über die Verbrechen in Okrestino (ein berüchtigtes Foltergefängnis in Minsk; Anm. d. Red.), und gehen der Frage nach, wer die Leute sind, die dort gefoltert haben, und wer die Inhaftierten zuvor verraten hatte. Das wird zu Konflikten in Familien führen, zu Scheidungen, Menschen werden Freunde verlieren, Töchter und Söhne werden nicht mehr mit ihren Eltern sprechen – und die Spaltung der Gesellschaft wird sich noch weiter vertiefen.
Es gäbe viel zu entscheiden: Lassen wir Zeit verstreichen, bevor wir die Akten öffnen? Oder wählen wir sogar den einfachen Weg und sagen, dass nur Lukaschenko und sein engstes Gefolge schlecht gewesen seien? Sagen wir, dass der Kameramann im Propagandafernsehen nur seine Arbeit gemacht hat? Aber ohne ihn würde das System nicht funktionieren. Ich plädiere für eine sorgfältige Aufarbeitung. Sonst wird die Demokratie in Belarus scheitern.
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Alexander Friedman ist Historiker und spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion, des Nationalsozialismus und der DDR und hat unter anderem über den Holocaust und die deutsche Besatzung in Belarus geforscht. Er studierte in Minsk und lebt seit 2000 in Deutschland. Derzeit ist er Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und an der Universität des Saarlands. Auf seinem Telegram-Kanal kommentiert er regelmäßig politische Ereignisse in Belarus und Osteuropa.