17.04.2025
Über den fälschlich Bebel zugeschriebenen Ausspruch, Antisemitismus sei der »Sozialismus des dummen Kerls«

Der Antisemitismus des dummen Kerls von Wien

Der Ausspruch, Antisemitismus sei »der Sozialismus des dummen Kerls«, wird oft fälschlicherweise August Bebel zugeschrieben. Der tatsächliche Ursprung dieser Formulierung sagt viel über die Verharmlosung des Antisemitismus durch die alte Sozialdemokratie aus.

Der Antisemitismus sei der »Sozialismus des dummen Kerls«, so lautete vom späten 19. Jahrhundert bis weit in die zweite Hälfte des 20. eine der dümmsten und abgedroschensten Behauptungen über den Antisemitismus. Dass dann der Sozialismus im Umkehrschluss als Antisemitismus des klugen Kerls interpretiert werden könnte, scheint niemandem aufgefallen zu sein.

In welchem Maße deutsche und österreichische Sozialdemokraten daran Anstoß genommen hätten, sei dahingestellt, denn diese argumentierten noch in der Nazi-Zeit und teils darüber hinaus, Antisemitismus sei im Kern antikapitalistisch und daher im Grunde eine, wenn auch verkürzte, Form des Sozialismus. Inzwischen wird die Formulierung vom Antisemitismus als Sozialismus des dummen Kerls, so möchte man jedenfalls hoffen, seltener affirmativ gebraucht und häufiger, um sich von ihr abzugrenzen.

Der Antisemit war der etwas begriffsstutzige, aber grundsätzlich liebenswerte Doppelgänger des Sozialdemokraten.

Im Gegensatz zu der Parole erfreut sich die ihr zugrunde liegende Denkweise allerdings auch weiterhin allzu großer Beliebtheit. Viele halten Antisemitismus, der nicht von Rechten ausgeht, nicht nur nicht für den schlim­mst­möglichen Feind von Emanzipation und Fortschritt, sondern in der Regel gar nicht erst für Antisemitismus und stattdessen für eine Form des antikapitalistischen oder antiimperialistischen Widerstands. Aus der Sicht der verbliebenen Parteikommunisten und K-Gruppen streben die unteren Schichten sowieso immer nach der Revolution, auch wenn sie sich in der größten Barbarei ergehen. Die undogmatische Neue Linke und ihre Ausläufer haben den Kreis der Unterdrückten – und damit der legitimen barbarischen Verbrechen – unterdessen erheblich ausgeweitet und behelfen sich mit der kühnen Behauptung, Aufbegehren gleich in welcher Form sei immer schon mal besser als gar kein Aufbegehren.

Dass die Formulierung nicht, wie unzählige Male behauptet, vom langjährigen unangefochtenen Oberhaupt der Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich, August Bebel, stammt, hat sich inzwischen zumindest in gewissem Maß herumgesprochen. Bebel zitierte die Parole in einem im April 1893 in der deutschnationalen Wiener Tageszeitung Deutsche Zeitung abgedruckten Interview mit dem österreichischen Schriftsteller Hermann Bahr. Vermutlich wollte Bebel seinen Ausführungen dadurch einen Österreich-Bezug geben, denn er schrieb die Formulierung dem österreichischen Liberalen und Abgeordneten im Reichsrat, Ferdinand Kronawetter, zu.

Bebel distanzierte sich bei dieser Gelegenheit ausdrücklich von der Formulierung, jedoch nicht ohne im Verlauf seiner anschließenden Ausführungen genau jene Denkweise zu reproduzieren, die in der Rede vom Antisemitismus als »Sozialismus des dummen Kerls« ihren Ausdruck fand: dass nämlich die Aufgabe darin bestehe, Antisemiten dazu zu bringen, ihre Feindschaft gegen »jüdische Ausbeuter« auf alle Ausbeuter auszuweiten. Neben Kronawetter, seinen sozialdemokratischen Kollegen Engelbert Pernerstorfer und Victor Adler und den deutschen Sozialdemokraten Ignaz Auer, Paul Singer und Wilhelm Liebknecht sind verschiedentlich auch der jüdische Bankier und liberale Politiker Ludwig Bamberger, der deutsche Kaiser Friedrich III. und Reichskanzler Otto von Bismarck als Urheber der Formulierung genannt worden.

Wenig Sorgfalt bei der Identifizierung des Ursprungs der Parole 

Wie wenig Sorgfalt bei der Identifizierung des Ursprungs der Parole nicht nur Zeitgenossen (von denen etliche vermutlich einfach annahmen, derjenige, von dem sie sie zuerst hörten, sei auch ihr Urheber), sondern auch spätere Historikern und andere Geistes- und Sozialwissenschaftler aufgebracht haben, ist schon daran zu erkennen, dass die Formulierung in verschiedenen Formen gebraucht und zitiert wurde und wird. Mal heißt es »des dummen Kerls«, mal »der dummen Kerls«. Andere, denen immerhin aufgefallen zu sein scheint, dass da etwas nicht stimmt, haben die Sache bereinigt, indem sie für »der dummen Kerle« optierten. Wieder andere haben einfach »der Dummen« daraus gemacht.

Erstmals scheint die Parole Ende 1884 in der österreichischen Presse erwähnt worden zu sein, und zwar in einem Bericht über eine sozialistische Versammlung in Wien. Als Hauptredner war, ob im Ernst oder als List, das Urgestein der deutschen Sozialdemokratie, Wilhelm Liebknecht, angekündigt worden, dem Österreich niemals die Einreise gestattet hätte. Stattdessen sprach der Färber Josef Bardorf, der in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie anfangs eine führende Rolle spielte, sich aber 1889, nachdem Victor Adler zu deren unangefochtenem Anführer geworden war, aus der ersten Reihe zurückzog, weil Adler seiner Meinung nach einer »echt jüdischen Zweckmäßigkeits-Theorie« huldige. »Die Arbeiter«, erklärte Bardorf in der Wiener Versammlung im Dezember 1884, »bekämpfen ganz entschieden den Anti-Semitismus«, und zwar weil die Antisemiten »im Socialismus des ›dummen Kerls von Wien‹ machen«. In der Resolution, die Bardorf einbrachte, hieß es, »daß sich die Bestrebungen der Social-Demokratie gleichmäßig gegen alle Ausbeuterparteien richten«. Juden waren also durchaus eine »Ausbeuterpartei«, nur eben nicht die einzige, die es zu bekämpfen gelte.

Was sich damals, wie man nicht zuletzt an den Anführungsstrichen erkennen kann, von selbst verstand, doch schon seit langem niemandem mehr klar zu sein scheint, ist, dass der »dumme Kerl von Wien« nicht einfach irgendein intellektuell minderbemittelter Wiener, sondern eine fest etablierte satirische Figur war. Explizit mit diesem Namen hatte sie 1860 die satirische Wochenzeitung Figaro eingeführt, die damit eine Typisierung aufgriff, die schon länger in der Luft lag. Beliebt wurde die Figur wohl nicht zuletzt, weil sie oft zur Karikierung von Einwohnern der Vorstädte verwendet wurde, die nach deren Eingemeindung von den Maßstäben und Ansprüchen der illus­tren Metropole überfordert schienen. Oft war der dumme Kerl von Wien einfach das Landei von Wien.

Nachfolger des Hanswurst

Obwohl sie den Namen »dummer Kerl von Wien« erst 1860 erhielt, war die Figur selbst im Wiener Volkstheater schon lange vorher als einer der Nachfolger des Hanswursts fest etabliert. Wie der einflussreiche österreichische Literarhistoriker Richard Maria Werner 1886 in seinem Beitrag über den Dramatiker und Schauspieler des Volkstheaters, Johann Nestroy, in dem Nachschlagewerk »Allgemeine Deutsche Biographie« erklärte – und der prominente Kritiker Ludwig Speidel im selben Jahr in seinem Beitrag zum sogenannten Kronprinzenwerk (einer 24bändigen Enzyklopädie Österreich-Ungarns) bestätigte –, hätten Nestroy und seine Kollege Wenzel Scholz die Funktionen des Hanswursts untereinander aufgeteilt.

Die kritisch-scharfzüngige Dimension der Rolle habe Nestroy sich vorbehalten, dagegen seien die gutmütigen Anteile Scholz zugefallen. So sei Scholz’ Rolle die des paradigmatischen »dummen Kerls von Wien« gewesen: »dummgutmüthig, naiv zudringlich, unbeholfen und ungeschickt, voll natürlicher unbewußter Komik, grob, rücksichtlos und so blöd, daß man über ihn lachen muß« (Werner). »Liebenswürdig bleibt der dumme Kerl, wie man ihn wenden und drehen mag«, schrieb Hugo Wittmann, einer der führenden Kritiker der liberalen Neuen Freie Presse, 1898. »Erfahrungsgemäß unterhält sich aber das Publicum immer am besten, wenn es die eigene Caricatur auf der Bühne erblickt. Jeder sieht sich selbst wie in einem Zerrspiegel und lacht hell auf.«

Die mit der Rede vom Antisemitismus als Sozialismus des dummen Kerls von Wien beabsichtigte Abgrenzung war also denkbar milde. Der Antisemit war der etwas begriffsstutzige, aber grundsätzlich liebenswerte Doppelgänger des Sozialdemokraten. Anders konnte es angesichts der gebetsmühlenartig vorgetragenen Charakterisierung der Antisemiten als »instinktiv auf dem Wege zum Sozialismus sich befindend« (Paul Singer) und der Behauptung, »die Antisemiten brechen Bahn für uns« (Wilhelm Liebknecht), auch gar nicht sein. Dass es eine gute Sache sein sollte, wenn Hunderttausende Antisemiten aufgrund der Einsicht in den wahren Charakter des Kapitalismus, die die objektive Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse ihnen zwangsläufig einhauchen würde, demnächst zur Sozialdemokratie kämen, wäre schwer zu erklären gewesen, hätte man sich vom Antisemitismus entschlossener abgegrenzt.