Hauptsache Zuschauer
Anfang April stand Ferhat Sentürk nach dem Freitagsgebet vor einer Moschee in Aachen und sinnierte über den Sinn des Lebens. Er sei froh, »weit weg von Hass und Hetze« zu sein, sagt er in dem Video, das er selbst auf X veröffentlichte. Er empfehle jedem, »sich von Strukturen zu lösen, die dieses Land spalten«. Denn »vor Allah sind wir alle gleich und niemand ist gleicher als der andere«.
Diese Aussage mag viele verwundern, die in den vergangenen Monaten daran beteiligt waren, gegen die plötzlich relativ häufigen Neonazi-Aufmärsche in Berlin-Friedrichshain auf die Straße zu gehen. Denn es war Sentürk, der mehrere dieser Demonstrationen angemeldet hatte – im Dezember, im Februar und zuletzt am 22. März.
Der bekannte rechtsextreme Influencer Martin Sellner kommentierte auf X: »Das ging extrem schnell. Riecht echt nach V-Mann, der abgezogen/gefeuert wurde.«
Bei der jüngsten Demonstration nahmen fast 900 Menschen teil, vor allem jungen Neonazis. Vor wehenden Reichsflaggen war Sentürk dort als Einpeitscher mit Megaphon aufgetreten; antifaschistischem Protest gelang es, die Demo zu blockieren. Nur knapp zwei Wochen später, am 2. April, teilte er dann in sozialen Medien mit, er distanziere sich von der AfD und dem »gesamten rechten Spektrum«.
Dass die Teilnehmer der Nazi-Demo dem Deutschtürken Sentürk mit »Ferhat, Ferhat«-Rufen zugejubelt hatten, irritierte auch viele Rechtsextreme – das zeigte ein Blick in einschlägige Online-Kommentarspalten und Social-Media-Gruppen. Sentürks verkündete Abkehr sorgt nun erneut für Verwirrung. Wie zu erwarten, ergossen sich zunächst zahlreiche rassistische Beleidigungen und Abschiebephantasien über Sentürk. Der bekannte rechtsextreme Influencer Martin Sellner kommentierte auf X: »Das ging extrem schnell. Riecht echt nach V-Mann, der abgezogen/gefeuert wurde.«
»Abrechnung mit der AfD«
Nach außen gibt sich Sentürk seither geläutert. Er entschuldigte sich bei all jenen, denen er im vorigen Jahr »das Herz gebrochen« habe. Eines seiner Videos trägt den Titel »Abrechnung mit der AfD«. Darin empfiehlt Sentürk, die Partei zu verlassen. Die AfD hetze »mittlerweile maximal gegen Ausländer und Muslime« und stelle eine Gefahr für die Demokratie dar.
Aus der AfD war Sentürk schon Ende vergangenen Jahres ausgetreten, womit er einem laufenden Parteiausschlussverfahren zuvorkam. Offenbar war er im Aachener Kreisverband allzu ambitioniert aufgetreten und hatte sich mit seinen Parteigenossen zerstritten. Er hatte unter anderem versucht, einen lokalen Ableger der Jungen Alternative aufbauen, des inzwischen aufgelösten, als besonders rechtsextrem geltenden Jugendverbands der AfD. Bei einem Planungstreffen dafür Ende September gab es Protest von der Antifa, Sentürk soll mit einem stumpfen Gegenstand auf Gegendemonstranten eingeschlagen haben, teilte damals die Antifa-Jugend Aachen mit.
Nach seinem Austritt aus der AfD kündigte Sentürk an, eine neue Partei zu gründen, die »Bürgerliche Allianz für Deutschland«. Eine Facebook-Seite unter diesem Namen gibt es inzwischen, weitere Aktivitäten sind allerdings nicht bekannt.
»Selbstdarsteller, Neonazi und Antifa-Informant«
Im Dezember veröffentlichte die Aachener Antifa-Jugend ein kurzes Dossier über Sentürk, er sei »Selbstdarsteller, Neonazi und Antifa-Informant«. Wochenlang hätten sie immer wieder Nachrichten und Anrufe von Sentürk erhalten, schrieb die Antifa-Gruppe. Sentürk habe unter anderem über einen Fake-Account Informationen zum Kreisparteitag der AfD weitergegeben.
Sentürk entspreche »nicht dem klassischen Profil eines rechtsextremen Kaders«, sagte ein Mitarbeiter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin der Jungle World. Eine »Anbindung an etablierte Strukturen ist nicht ersichtlich«. Sentürk habe ein ziemlich starkes »Selbstdarstellungsbedürfnis als neue, authentische Führungspersönlichkeit«. Bei den Demonstrationen in Berlin habe er dadurch »zeitweise ein attraktives Sammlungsangebot für ein neu entstandenes Milieu aus aktionsorientierten rechtsextremen Jugendgruppen« geschaffen.
Diesen Hang zur Selbstdarstellung zeigte Sentürk schon in jungen Jahren. Unter dem Rap-Alias »King Sentürk« trat er 2012 in eigens designtem Merchandise auf einem antirassistischen HipHop-Contest in Aachen auf, berichtete »Endstation rechts«. In seinen Rap-Texten beklagte er damals die »abgefuckte Welt« und den »Bruder, der für Essen fällt«.
Auf Tiktok rappte Sentürk die Zeile »Kill’ Yahudis mit Uzis, bis das Blut fließt«.
Weniger sozialkritisch war seine jüngste Rap-Einlage. Auf Tiktok rappte Sentürk im März unter anderem die Zeile »Kill’ Yahudis mit Uzis, bis das Blut fließt«. Später entschuldigte sich Sentürk: »die Zeilen könnten antisemitisch verstanden werden«, dies sei aber nie seine Absicht gewesen. Ein Post von Ende März über Medien, die »fast alle unter zionistischer Kontrolle« stünden und »Hand in Hand mit der Politik« arbeiteten, findet sich weiterhin auf verschiedenen Social-Media-Kanälen Sentürks.
Seinen Rückzug aus der Politik wolle er auch nutzen, um »spirituell Kraft zu tanken«, meinte Sentürk. Bisher sieht das meist so aus, dass Sentürk bei Tiktok live auf Sendung geht. Zu Sucuk mit Ei überlegte Sentürk dort kürzlich gemeinsam mit seinen Zuschauern, in welcher Partei er sich künftig engagieren solle. So richtig wisse er nicht mehr, wo er politisch stehe. Erst scherzte er darüber, sich der antizionistischen linken Kleinstpartei Mera25 anzuschließen. Doch dann rückte er damit heraus, zu welcher Partei er tatsächlich tendiere – dem Bündnis Sahra Wagenknecht.