17.04.2025
Stephan Lehnstaedt, Historiker, im Gespräch über seine Forschung zum jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus

»Die etablierten Deutungen sind stark«

Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust- und Jüdische Studien an der Touro University Berlin, schildert in seinem Buch »Der vergessene Widerstand« die verschiedenen Formen jüdischen Widerstands im NS-Staat und seinen Besatzungsgebieten. Dass die Opfer des Holocaust auch entschlossenen Widerstand geleistet haben, sei in der Forschung lange übersehen worden.

Allein in Deutschland waren 3.000 Jüdinnen und Juden im Widerstand aktiv. Ihre Gegenwehr wurde dennoch lange übersehen. Warum wurde gerade der jüdische Widerstand kaum beachtet?
Zunächst, weil wir uns in Deutschland auf den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus konzentriert haben. Angefangen mit dem 20. Juli 1944, von dem ausgehend erst nach und nach andere Kreise wie Sozialdemokrat:innen, kirchlicher Widerstand, Einzelkämpfer wie Georg Elser und schließlich sogar Kommu­nist:innen in den Kanon mit aufgenommen wurden. Jüdinnen und Juden wurden auch deshalb lange ­ignoriert, weil sie eben nicht zum deutschen, sondern zum nichtdeutschen Widerstand gezählt wurden. Wichtig ist außerdem, dass die Vorstellung von aktiven jüdischen Kämpferinnen und Kämpfern dem Bild von den passiv ermordeten, wehrlosen Opfern widerspricht. Je mehr wir uns also der industriellen Vernichtung im Holocaust bewusst wurden, desto weniger passten heldenhafter Widerstand und aktives Handeln gegen diese Mordmaschinerie ins Bild.

Gab es denn Versuche, den jüdischen Widerstand zu würdigen?
Von Seiten der Überlebenden gab es diese. Jüdische Forschungsinstitute beispielsweise in Warschau oder später Yad Vashem haben viel zu jüdischem Widerstand geforscht. Die akademische Wissenschaft gerade in Deutschland hat das aber im 20. Jahrhundert weitgehend ignoriert. Selbst deutschsprachige Publikationen etwa der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes; Anm. d. Red.), die zum Aufstand im Warschauer Ghetto bereits unmittelbar nach Kriegsende erschienen, taten die Historiker ab: Das sei nicht objektiv und zu emotional, die Betroffenen könnten keine nüchterne Wissenschaft machen. Aber wirklich objektiv waren die vielen deutschen Historiker, die in der NSDAP oder der HJ gewesen waren, ja auch nicht.

»Deutschland war für den jüdischen Widerstand das schwierigste Betätigungsfeld, weil die Zustimmung zur NS-Politik dort am größten war und man nicht auf Verbündete im Kampf gegen eine Besatzungsmacht zählen konnte.«

Auch in der Literatur wurde der jüdische Widerstand erst sehr spät thematisiert. Schilderungen von Überlebenden, wie etwa der Bericht von Richard Glazar aus Treblinka (»Die Falle mit dem grünen Zaun«) fanden erst ab den achtziger Jahren nennenswert Leser:innen. Deutschland unterschied sich da gar nicht so sehr von Israel oder den USA.

Sie definieren Widerstand umfassender als den bewaffneten Kampf in den Ghettos oder Partisanengruppen, etwa in Form der Dokumentation der Vernichtung, wie sie in einzigartiger Weise dem griechischen Juden Alberto Errera mit seinen heimlich aufgenommenen Fotos der Leichenverbrennung durch ein Sonderkommando in Auschwitz gelungen ist.
Widerstand gegen den Holocaust ist jegliches zielgerichtete Handeln ­gegen das deutsche Staatsziel Judenmord. Wer also versuchte, andere zu retten, der leistete Widerstand. Der Holocaust war präzedenzlos und unvorstellbar. Umso wichtiger war es deshalb auch, dafür Beweise zu sammeln. Wer wie Alberto Errera den Massenmord unter Lebensgefahr dokumentierte, wollte seine Mitmenschen warnen und zum Handeln auffordern – sei es in den Ghettos selbst oder durch ein Wachrütteln der Öffentlichkeit in der »freien Welt«, verbunden mit der unerfüllt gebliebenen Hoffnung, dass beispielsweise die Alliierten aktiv gegen die Vernichtungspolitik vorgehen würden.

Israelische Soldaten vor einem historischen Foto

Israelische Soldaten vor einem historischen Foto, das jüdische Partisanen im Kampf gegen die Nazis zeigt, Yad Vashem, 28. April 2003

Bild:
picture-alliance / dpa / epa afp Gali Tibbon

Ihr Buch erzählt von zahlreichen vergessenen Biographien von Juden und Jüdinnen im Widerstand, wie beispielsweise Oswald Ruf­eisen in Polen oder Marianne Cohn in Frankreich. Was waren die Herausforderungen bei der ­Recherche?
Die große Herausforderung sind immer verlässliche Informationen. Der Widerstand konnte damals nichts notieren, das bedeutete im Fall der Entdeckung den Tod. In zahlreichen Archiven findet man daher nur Berichte aus der Täterperspektive wie Verhörprotokolle. Was es darüber hinaus gibt, sind Berichte von Überlebenden, die ihre Erlebnisse mit ­einem Abstand von 20 bis 30 Jahren erzählen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir einen großen Teil der Widerstandsinitiativen – beispielsweise in den Ghettos – schlichtweg nicht kennen können, weil Juden vorher deportiert wurden.
Viele der Biographien, von denen wir durch Berichte noch Kenntnis haben, sind zutiefst beeindruckend und im Falle von Oswald Rufeisen, der sich mit viel Wagemut als sogenannter Volksdeutscher ausgab und sich beim lokalen deutschen Polizeiposten als Übersetzer verdingte, sogar witzig, weil sich die deutschen Täter so dämlich anstellen. Was alle Biographien gemein haben, ist der unbedingte Wille zum Überleben, und zwar nicht nur als Individuum, sondern als Gemeinschaft. Und um das zu verstehen, braucht es den Kontext, braucht es Informationen, die weit über Erinnerungen der Überlebenden hinausgehen – gerade weil die allermeisten nicht überlebten, aber das natürlich versucht haben.

»Nachdem die Deutschen einen Teil der Ghettobewohner ermordet hatten, konnten sich die Überlebenden ausrechnen, dass sie als Nächste dran sein sollten. Und dann gab es kollektive Fluchten oder spontane Erhebungen, aber das hing sehr stark von den lokalen Gegebenheiten ab.«

In über 50 Ghettos im besetzen Polen bildeten sich bewaffnete Widerstandsgruppen. Was wissen wir über diese Gruppen?
Diese Gruppen sind längst nicht alle gleich. Es gibt die zionistischen Jugendbewegungen, die sehr aktiv waren und nach 1945 unser Bild prägten – etwa in Form des Aufstands im Warschauer Ghetto. An anderen Orten war man viel pragmatischer und hat nicht versucht, das eigene Handeln ausführlich zu reflektieren und ideologisch zu unterfüttern. Das war die praktische Erfahrung: Nachdem die Deutschen einen Teil der Ghettobewohner ermordet hatten, konnten sich die Überlebenden ausrechnen, dass sie als Nächste dran sein sollten. Und dann gab es kollektive Fluchten oder spontane Erhebungen, aber das hing sehr stark von den lokalen Gegebenheiten ab.

Womit waren jüdische Widerstandsgruppen und Einzelpersonen im Vergleich zum nichtjüdischen Widerstand in den von Deutschland besetzten Ländern konfrontiert?
Nur die Jüdinnen und Juden sowie mit Einschränkungen die Sinti und Roma waren von der unterschieds­losen Vernichtung bedroht. Einem polnischen oder französischen Bauern plündern die Deutschen vielleicht den Hof oder verschleppen ihn zur Zwangsarbeit. Aber er muss nur dann davon ausgehen, ermordet zu werden, wenn er gegen die Deutschen kämpft und erwischt wird. Schon allein deshalb waren Handlungsoptionen von Jüdinnen und Juden anders. Im östlichen Europa waren sie oft mit einem tiefverwurzelten Antisemitismus in der Bevölkerung konfrontiert und konnten deshalb nicht ohne weiteres etwa in der polnischen Untergrundbewegung Mitglied werden. Das sah im Westen, wo der jüdische Bevölkerungsanteil auch viel geringer war, meist anders aus. Hier galten Jüdinnen und Juden nicht als eigene Nation, sondern schlicht als Bürger anderer Religion. Deutschland war für den jüdischen Widerstand das schwierigste Betätigungsfeld, weil die Zustimmung zur NS-Politik dort am größten war und man nicht auf Verbündete im Kampf gegen eine Besatzungsmacht zählen konnte.

»DDR und Bundesrepublik erinnerten unterschiedlich: In Ersterer dominierte der kommunistische Widerstand; im Westen war gerade der tabuisiert und der Fokus lag stark auf Stauffenberg und seinen Mitverschwörern. Mit Jüdinnen und Juden taten sich beide deutsche Staaten schwer.«

Gibt es in Ost- und Westeuropa verschiedene Erinnerungen an den Widerstand?
In Westeuropa wird der Widerstand sehr inklusiv erinnert, etwa im Fall der französischen Résistance oder italienischen Resistenza, wo es neben kommunistischen auch jüdische Gruppen in der nationalen Widerstandsbewegung gab. Hier werden gewissermaßen jüdische Gruppen unter die nationalen Widerstands­bewegungen subsumiert – ganz anders als im Osten, wo es eine klare Trennung etwa zwischen polnischem und jüdischem Widerstand gibt. DDR und Bundesrepublik erinnerten auch unterschiedlich: In Ersterer dominierte – kaum überraschend – der kommunistische Widerstand; im Westen war gerade der tabuisiert und der Fokus lag stark auf Stauffenberg und seinen Mitverschwörern. Mit Jüdinnen und Juden taten sich beide deutsche Staaten aus diesen verschiedenen Gründen schwer – sie wurden weniger als Juden im Widerstand, sondern eher als KPD- oder SPD-Mitglieder erinnert, die sich dem Regime widersetzten.

Wie sieht die Erinnerung an den jüdischen Widerstand in Israel aus?
Die Situation in Israel ist kompliziert. Zunächst lief die Debatte darauf ­hinaus, dass nur Zionisten überhaupt Widerstand geleistet hätten, woraus wiederum ein Führungsanspruch für den Staat erwuchs. Aber Zionismus ist ein ganz weites Feld, von rechtsnational bis linkssozialistisch, der einzige gemeinsame Nenner ist wirklich nur Israel als Heimstätte. Indem man aber Widerstand und damit Handeln für sich reklamierte, ­attestierte man der großen Masse Passivität. Das Schlagwort von den »Lämmern zur Schlachtbank« ist in Israel mindestens so wirkmächtig wie bei uns. Indem Yad Vashem der Helden genauso wie der Opfer gedachte, gelang eine große gesellschaftliche Inklusion – aber das war in den Anfängen auch damit verbunden, den politischen Führungsanspruch der Linkszionisten, zu denen viele Warschauer Aufständische gehörten, kleinzuhalten.

Der US-amerikanische Film »Defiance« mit Daniel Craig hat vor einigen Jahren der Geschichte der Bielski-Brüder zu Bekanntheit verholfen. Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« erzählt von einer fiktiven Racheoperation im besetzten Frankreich. Kann die Popkultur der Vorstellung von Juden als nur passiven Opfern des Holocaust etwas entgegensetzen?
Das glaube ich schon. Natürlich sind die Filme eine Trivialisierung, aber sie sind zugleich eine Methode, um Hunderttausende oder gar Millionen zu erreichen. Das wird ein historisches Buch nicht leisten. Ob das wirklich für einen Wahrnehmungs­wandel reicht, wird sich zeigen. Die etablierten Deutungen sind stark. In »Schindlers Liste« sind die Juden hilflose Opfer, die nur dank eines deutschen Helden überleben. In »Zone of Interest« kommen die Opfer gar nicht vor. Aber ein Spielfilm kann die komplexe Wirklichkeit auch nicht komplett abbilden.


Buchcover

Stephan Lehnstaedt: Der vergessene ­Widerstand. Jüdinnen und Juden im Kampf gegen den Holocaust. C. H. Beck, München 2025, 383 Seiten, 28 Euro