Ernest Cole und die Politik des Blicks
1967 veröffentlicht der damals 27jährige südafrikanische Fotograf Ernest Cole sein Fotobuch »House of Bondage«. In ikonischen Aufnahmen enthüllt er darin den Schrecken der Apartheid und schafft Aufmerksamkeit für die allgegenwärtigen Formen von Repression und Gewalt, die das weiße Regime gegen die schwarze Bevölkerungsmehrheit einsetzt. »Dreihundert Jahre weißer Vorherrschaft in Südafrika«, schreibt Cole, »haben uns in Knechtschaft gehalten, uns unserer Würde und unseres Selbstwertgefühls beraubt und uns mit Hass umgeben.«
In den frühen Reportagefotos, die er nach seiner Emigration nach New York für das Buch zusammengestellt hat, bildet er die prekären Lebensumstände von Minenarbeitern und Hausangestellten in weißen Oberschichtshaushalten ebenso ab wie den Alltagsrassismus, der sich überall im segregierten öffentlichen Raum zeigt, etwa in Verbotsschildern, die den unterschiedlichen Zugang für »Whites« und »Non Whites« zu Verkehrsmitteln und medizinischer Versorgung, aber auch für die Nutzung von Gehwegen und Parkbänken regeln.
Hatte Cole in Südafrika beständig Angst, ins Gefängnis zu kommen, fürchtete er sich bei seinen Reisen in die Südstaaten davor, beim Fotografieren erschossen zu werden.
Als einer der ersten freien schwarzen Fotografen überhaupt hält Cole Akte von Gewalt, Enteignung und polizeilicher Willkür fest und bannt die Zerstörung von zu Ghettos erklärten Stadtvierteln, aus denen die Bewohner:innen in wirtschaftlich und kulturell entkoppelte Townships umgesiedelt werden, in künstlerisch beeindruckende Bilder. Dabei setzte er sich beständig der Gefahr aus, selbst kontrolliert und verhaftet zu werden.
Immer wieder porträtiert er auch Kinder und Jugendliche, denen Bildung, Zukunft und Lebenschancen nur aufgrund ihrer Hautfarbe in ihrem Land verwehrt bleiben. Trotz aller Hoffnungslosigkeit, die die Aufnahmen einfangen, betonen sie zugleich die ungebrochene Individualität der Menschen. Häufig fokussiert Cole auf einzelne Personen, die direkt in die Kamera schauen – Jungen, Frauen, ältere Männer – und eine eigene Haltung einnehmen.
Indem Cole durch seine Fotografie einen symbolischen Blickkontakt zwischen den Abgebildeten und den Betrachtenden herstellt, bewahrt er diejenigen, die er zeigt, davor, ausschließlich Opfer und Objekt zu sein. Er sieht sie als Menschen, die für ihre Würde einstehen, wodurch wiederum seine Fotografien Einzigartigkeit erlangen.
Die visionäre Kraft dieser Bildserien ist aber nur eine Ebene des Dokumentarfilms »Ernest Cole: Lost and Found« des in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, geborenen Regisseurs und Drehbuchautors Raoul Peck. 2024 wurde die filmische Würdigung des leider in Vergessenheit geratenen Fotografen auf dem Filmfest in Cannes mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet.
Peck, dessen Leben von der Erfahrung des unfreiwilligen Daseins als Exilant geprägt ist, beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte Coles, die unmittelbar auf die Phase des frühen Ruhms folgt. Seinen Protagonisten lässt er sie als langsamen Verfall und Abstieg in die Hölle beschreiben.
Als sein Buch erscheint, lebt Cole bereits seit einem Jahr in den USA, wohin er sich mit seinen Negativen hat absetzen können. Einerseits avanciert »House of Bondage« nach seinem Erscheinen schnell zum Meilenstein in der Geschichte der Dokumentarfotografie. Die Bilder tragen dazu bei, dass die westliche Öffentlichkeit sich endlich der Realität der Apartheid stellen muss und ihr Schweigen über die Zustände im Land nicht länger aufrechterhalten kann. Das ist für Cole, der nicht zuletzt von seiner Wut über die unausgesprochene Komplizenschaft im Lieber-nicht-genauer-hinschauen-Wollen in seiner Arbeit angetrieben wurde, ein Triumph.
Andererseits wird der Band in Südafrika erwartungsgemäß sofort verboten. Daher führt sein Erfolg auch dazu, dass Cole zeitlebens nicht wieder in sein Heimatland zurückkehren kann. Gerade weil er sich aber weiterhin mit den dortigen Kämpfen und Menschen verbunden fühlt, leidet er immer stärker unter der Entwurzelung, die das Exil für ihn bedeutet.
Und auch in der sogenannten freien Welt stößt er überall auf rassistische Vorurteile, Benachteiligung und überbordende Gewalt gegen Schwarze. In Reportagen aus den Südstaaten und in vielen Bildern, die er tagtäglich in New York aufnimmt, legt er auch hiervon eindrucksvoll Zeugnis ab. Hatte er in Südafrika beständig Angst, ins Gefängnis zu kommen, fürchtet er sich bei seinen Reportagereisen in die Südstaaten eher davor, beim Fotografieren erschossen zu werden.
Beständig auf Herkunft und Hautfarbe zurückgeworfen
Zudem erhält er von Zeitungen keine anderen Jobs als die, immer weiter Elend und Ungerechtigkeit zu dokumentieren, wodurch er sich als Mensch und Künstler leicht nachvollziehbar auf eine einzige Erfahrung reduziert fühlt. Entgegen seinem Lebensmotto – »The total man does not live one experience« – findet er sich beständig auf das Schicksal seiner Herkunft und Hautfarbe zurückgeworfen, die zufällig schwarz ist, wie er an den norwegischen Botschafter schreibt, um ein Visum für das skandinavische Land zu erhalten.
Denn mehr und mehr bestimmt in New York die Depression sein Leben, bis er vom gefeierten Fotografen tatsächlich zum Obdachlosen an der 34th Street Train Station abgestiegen ist. Trotzdem hört er nicht auf zu fotografieren – was so viel heißt wie sich für die Menschen um ihn herum zu interessieren, insbesondere für die, die von der Mehrheit aufgegeben worden sind oder sich ihr allein als Ärgernis darstellen. Ihnen will er mit seiner Kamera zeigen, dass er sie sieht.
Doch zur Zeit ihrer Entstehung interessiert sich niemand besonders für Coles US-amerikanische Fotoserien. Aus in der heutigen Betrachtung kaum nachvollziehbaren Gründen gelten diese Einblicke in den Alltag des US-amerikanischen Rassismus mit ihren deutlich zutage tretenden Parallelen zur Apartheid seiner Heimat zeitgenössischen – in der Regel weißen – Redakteuren und Gatekeepern als zu glatt.
Erst 2017, 50 Jahre nach dem Erscheinen von »House of Bondage«, werden in einem schwedischen Banktresor 60.000 bis dahin unbekannte Negative gefunden, von denen nicht verlässlich geklärt werden kann, wie sie dorthin gelangt sind. Coles Erben und der Öffentlichkeit werden sie zum Teil erst nach einem längeren Rechtsstreit zugänglich gemacht. Sicher ist jedenfalls, dass sie an Ausdruck und Komplexität den frühen Werken des Fotografen in nichts nachstehen.
Bewusst verzichtet Peck darauf, die Geschichte Coles durch talking heads – Experten, Zeitgenossen und Weggefährten – erzählen zu lassen. Cole sollte sein Leben und seine Karriere quasi selbst erzählen.
Für seinen Film »Ernest Cole: Lost and Found« montiert Peck eine Auswahl von Werken aus der gesamten Karriere des Künstlers zu einem dramaturgischem Gesamtzusammenhang und ergänzt sie um Arbeiten anderer Fotografen sowie historischen Interviewsequenzen und dokumentarischen Filmaufnahmen von den sechziger Jahren bis heute. Bewusst verzichtet er darauf, die Geschichte Coles durch talking heads – Experten, Zeitgenossen und Weggefährten – erzählen zu lassen, wie er in dem den Pressematerialien beigefügten Interview erklärt. Cole sollte sein Leben und seine Karriere quasi selbst erzählen.
Möglich wurde dies nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Leslie Matlaisane, Ernest Coles Neffen, der dem Filmemacher bisher unbekanntes Material zur Verfügung stellte, darunter auch Coles Notizbuch und seine E-Mails, in denen er die Erfahrung der Ungleichheit und Gewalt reflektiert, aber auch seine nie erstickten Hoffnungen auf Veränderung erwähnt. Es ist der theatergeschulte Schauspieler LaKeith Stanfield, der im Film als Stimme von Ernest Cole fungiert – so wie Samuel L. Jackson in Pecks »I Am Not Your Negro« (2016) James Baldwin seine Stimme leiht.
Sowohl Pecks eigene Erfahrungen mit Befreiungskämpfen gegen den Rassismus und Flucht als auch die intensive Beschäftigung mit dem fotografischen und politischen Vermächtnis seines Protagonisten führen dazu, dass der Konzept des Film grandios aufgeht. So werden Zuschauer:innen nicht über geschichtliche Sachverhalte belehrt, sondern von einer so emotionalen wie vielschichtigen Erzählung in ihren Bann gezogen.
Ernest Cole: Lost and Found (USA/F 2024) Buch & Regie: Raoul Peck. Mit LaKeith Stanfield, Leslie Matlaisane. Filmstart: 17. Mai